Die Skrupellose - Schweden-Krimi. Inger Frimansson

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Название Die Skrupellose - Schweden-Krimi
Автор произведения Inger Frimansson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726445015



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ich dir wehgetan habe, aber jetzt wird alles gut, alles gut. Saß er nicht sogar da und summte mit seiner dünnen Stimme ein Lied, das ihm gerade in den Sinn kam? Schmetterlinge taumeln trunken ...

      Schmetterlinge, das würde sie verstehen.

      Im Grunde hätte er es eilig haben müssen, aber daran dachte er überhaupt nicht.

      Er hatte erwartet, dass sie zappeln und beißen würde, und der Gedanke, dass er sie hart anfassen, ja vielleicht sogar schlagen müsste, hatte ihn geängstigt. Er war das genaue Gegenteil von einem gewalttätigen Mann. Als er im Fernsehen einmal eine Reportage über Tiertransporte gesehen hatte, war er zusammengebrochen und in Ohnmacht gefallen.

      Das Kind glitt in einen Dämmerzustand. Sie hatte es ihm beigebracht, so musst du die Spritze halten, er hatte an ihr üben müssen, bis er es schließlich beherrschte. Sie leide an Allergien, die jederzeit ausbrechen könnten, hatte sie erklärt, und dann müsse er ihr helfen können.

      »Aber so ein kleines Kind ... was ist, wenn die Dosis zu hoch ist, wenn sie stirbt?«

      »Du musst endlich lernen, mir zu vertrauen, Kennet.«

      Richtig. Sie war Krankenschwester. Und sie wollte doch endlich ihre Tochter haben.

      Ruhig ließ er den Wagen an und fuhr davon. Eine Frau kam ihm entgegen, aber sie ging mit zwei Hunden spazieren und war vollauf damit beschäftigt, darauf zu achten, dass die Leinen der Hunde sich nicht verhedderten. Sie hatte ihn überhaupt nicht bemerkt, würde sich nie im Leben erinnern können, ein Auto gesehen zu haben. Die Hunde sprangen um sie herum. Im Rückspiegel sah er sie immer kleiner werden.

      Das Schwerste war vorbei. Das Zweitschwerste würde sein, das Mädchen in die Wohnung zu schaffen.

      Kennet fuhr Richtung Lövsta und parkte auf einem Waldweg. Dort öffnete er den Kofferraum und holte die große Tasche mit den Sportabzeichen heraus. Auf ihrem Boden lag eine Bahn dünnen Vorhangstoffs, den er um Brust und Arme des Mädchens wickelte. Anschließend presste er sie vorsichtig in die Tasche. Sie sah so klein aus, so schutzlos. Ihr Körper war schlaff, gurgelnde Laute drangen aus ihrer Kehle.

      Ich muss mich beeilen, dachte er verwirrt. Sie muss ordentlich Luft holen können.

      Er wagte es nicht, den Reißverschluss komplett zu schließen, stellte die Tasche auf die Rückbank und kontrollierte ein weiteres Mal, dass das Mädchen atmete.

      Während der Rückfahrt begann er zu zittern, was eigenartig war, denn schließlich hatte bis jetzt alles reibungslos geklappt. Am Ängbyplan hörte er Sirenen. Trocken und rau lag seine Zunge im Mund, er versuchte sich zu räuspern, verschluckte sich jedoch stattdessen. Er war den Tränen nahe und musste schlucken, um sie zu unterdrücken.

      Im Rückspiegel sah er einen Streifenwagen, der sich in rasender Fahrt näherte, und sein Herz pochte so sehr, dass er es bis in die Handflächen spüren konnte. Er fuhr an den Straßenrand. Der Motor stockte und ging aus. Daraufhin legte er die Hände auf die Ohren, senkte den Kopf und wartete.

      Aber es passierte nichts. Die Sirenen wurden lauter und kurze Zeit später wieder leiser, und als er es wagte aufzuschauen, war der Streifenwagen schon längst vorbei und weit entfernt. Er lachte auf. Aber seltsam war es schon, denn diese jungen Frauen mussten doch inzwischen gemerkt haben, dass der Kinderwagen leer war. Sie mussten doch Alarm geschlagen haben. Wie konnten sie ein kleines Kind überhaupt so alleine lassen! Das war einfach unverzeihlich. Es geschah ihnen fast recht.

      Jetzt war alles gut, es würde gut gehen, alles würde gut werden. Von heute an würde sich alles um sie beide und das neue kleine Kind drehen, ihr gemeinsames Kind, er hatte ihr die Tochter beschafft, die sie sich so gewünscht hatte. Er drehte den Kopf, um sich die Tasche anzusehen. Sie stand da wie eine ganz normale Tasche und hätte alles Mögliche enthalten können. Wer sollte ihm schon folgen? Es war dem Auto doch nicht anzusehen, dass er ein Kind entführt hatte. Er war ein Autofahrer unter vielen.

      Er näherte sich dem Fridhemsplan, und der Verkehr war im Laufe der Zeit dichter geworden, der Tag hatte endgültig begonnen.

      Niemand würde ihn je finden.

      13. Kennet

      Die Tasche war unhandlich. Es wäre leichter gewesen, sie auf den Arm zu nehmen, wie man es normalerweise tut, wenn man ein Kind trägt. Es wäre darüber hinaus auch für sie bequemer gewesen, aber reiner Selbstmord für ihn.

      Er drückte den Knopf, und der Aufzug kam herunter. Er war leer. Vorsichtig stellte er die Tasche an die Wand. Er hatte etwas über sie geworfen und den Reißverschluss zugezogen, für ihre Nase jedoch eine Öffnung gelassen. Wenn ihn jemand überraschte, konnte er immer noch sagen, er hätte einen Hund in der Tasche, einen Hund, mit dem er beim Tierarzt gewesen war. Er würde sich abweisend geben, um sie glauben zu machen, dass der Hund sehr krank war, vielleicht sogar im Sterben lag. Dann würden sie ihn nicht weiter belästigen, denn ein Mensch hatte das Recht, mit seiner Trauer in Ruhe gelassen zu werden.

      Aber er begegnete niemandem und dachte mechanisch, dass er einmal mehr Glück hatte.

      Sie war ausgegangen, was ihn eigenartigerweise erleichterte. Er stellte die Tasche im Flur ab und beeilte sich, das Mädchen herauszuheben. Der kleine Körper war glühend heiß. Die ganze Zeit über redete er beruhigend auf sie ein, was er nun bedenkenlos tun konnte, denn es gab ja niemanden, der ihn hörte. Er betrachtete ihr zierliches, wohlgeformtes Gesicht und hielt sie an seine Brust. Daraufhin öffnete sie schmatzend den Mund, und ein Zipfel seines Hemds glitt zwischen ihre Lippen, und sie begann daran zu saugen. Es war fast, als würde er ihr die Brust geben.

      »Du kleines, liebes Kind«, flüsterte er. »Du wirst es so gut bei uns haben, du wirst durch dichtes, grünes Gras laufen dürfen, wo es keinerlei Verschmutzungen gibt – die Luft wird klar und taufrisch sein und nichts wird dir Schaden zufügen können. Aber du musst jetzt tapfer sein und noch eine Weile still liegen, du kannst ja so tun, als wärst du eine Schmetterlingspuppe, du hast doch bestimmt schon mal eine gesehen und weißt, was eines Tages aus den Puppen herauskommt, es sind die Schmetterlinge, bringt man euch so etwas im Kindergarten bei, erzählt man euch von den Schmetterlingen mit ihren glänzenden Flügeln?«

      Dann sah er ihren Gesichtsausdruck, als sie ihn, die Tasche und den Vorhangstoff sah. Halblaut rief sie aus: »Ist das wahr, Kennet, ist das wirklich wahr?«

      Sie war stundenlang fort gewesen, und in der Zwischenzeit hatten seine Gedanken ihn mehr und mehr gequält. So ein liebenswertes, kleines Kind musste doch Eltern haben. Wie sollten sie es nur mit ihrem Gewissen vereinbaren, diesen Eltern solchen Schmerz zuzufügen?

      Nein. Es gab eine andere Lösung.

      Er stand bereit, es ihr zu sagen, vermochte sie jedoch nicht daran zu hindern, in das Zimmer zu eilen, wo sie abrupt stehen blieb. Das Kind lag auf dem Rücken und schlief. »Sie ist bezaubernd, Kennet, sie ist besser, als ich es mir jemals hätte vorstellen können!«

      Da ging er ihr nach und umarmte sie von hinten, und sie drehte sich zu ihm um und küsste ihn. Als er in ihr Gesicht sah, entdeckte er Tränen in ihren Augen.

      Plötzlich wurde er unbezwinglich stark, und die Worte kamen wie von selbst.

      »Hör mir bitte mal zu, ich habe nachgedacht. Das geht einfach nicht, wir müssen sie zurückgeben. Sie hat Eltern, man kann doch nicht einfach ein Kind stehlen, ganz gleich, wie gut man es meint. Es ist Sache der Eltern, sie vor Gefahren zu beschützen, nicht unsere. Wir machen stattdessen unser eigenes Kind, unser eigenes, kleines Mädchen, wir haben es heute Morgen gemacht, ich habe es gespürt.«

      Ihr Lachen war kurz und metallisch.

      »Sieh einer an, Mister Gewissen spricht!«

      »Sag so was nicht! Ich liebe dich.«

      Die Schwäche sickerte wieder in ihn hinein und ergriff Besitz von ihm. Sie hörte ihm nicht mehr zu, sondern ging zu dem Kind und begann, es zu untersuchen, strich über die verschwitzten Haare, hob ein Augenlid an.

      »Gute Arbeit, Kennet! Aber sie wird bald aufwachen. Ich werde ihr etwas Beruhigendes geben müssen.«