DAS DING AUS DEM SEE. Greig Beck

Читать онлайн.
Название DAS DING AUS DEM SEE
Автор произведения Greig Beck
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958355361



Скачать книгу

bedeckt, die vor den Elementen geschützt gewesen waren, da die Höhle so lange versiegelt gewesen war.

      Die Bilder waren in Ocker, Braun, Rot, Gelb und Kohleschwarz gemalt, und das Geschick und die Kunstfertigkeit waren überwältigend. Er konnte problemlos Hirsche, Bären, Wölfe und viele mittlerweile ausgestorbene Tiere wie Mammuts, Langhornbisons und sogar etwas, das wie ein gewaltiger Vogel aussah, erkennen.

      Außerdem gab es Handabdrücke, manche klein, andere groß wie die von Erwachsenen. Anthropologen glaubten, dass diese wie Signaturen waren, eine Art Statement im Sinne von: Ich war hier, oder: Das habe ich gemacht.

      Marcus hielt eine seiner Hände vor den größten Abdruck. Diese war so viel größer als die Hände der Menschen, die dieses Werk geschaffen hatten. Anschließend bewegte er sein Licht weiter, bis zu einer Stelle, an der einige der Malereien scheinbar überschrieben worden waren.

      Dort befand sich eine einzelne Bildreihe – ein dunkler Himmel, mit einem Mond und einem langen, ockergelben Streifen. Das nächste Bild zeigte den See, und dann kam etwas, das offenbar in ihn einschlug, gefolgt von etwas, das das Abbild einer riesigen Welle sein musste.

      »Hast du schon mal so etwas gesehen?« Marcus zeigte auf die Zeichnung. »Etwas, das den See getroffen hat?« Er könnte sich irren, aber für ihn sah es so aus, als hätten sie genau das abgebildet.

      Marcus hielt sein Handy in die Höhe und machte einige Bilder davon. Zumindest hatte der Künstler ziemlich gute Arbeit dabei geleistet, gewisse Orientierungspunkte wiederzugeben. Wenn er den Aussichtspunkt auf dem Gipfel erreichte, wäre er also vielleicht in der Lage, herausfinden zu können, wo genau sich dieser Vorfall ereignet hatte.

      Er wandte sich Nikolai zu. »Was glaubst du?«

      Der junge Russe zuckte mit den Schultern. »Es könnte das Letzte sein, was sie gesehen haben. Vielleicht war es die Welle oder das Nachbeben, das ihre Höhle zum Einstürzen gebracht und sie eingeschlossen hat.«

      Marcus drehte sich wieder zu dem Bild um und sah dann zu der kleinen Nische, in der sich all die Leichen befanden. »Ja.« Daran hatte er gar nicht gedacht, aber es schien recht plausibel zu sein. Vielleicht hatte die Gruppe die Bilder ja sogar bei Fackellicht gemalt, um demjenigen, der nach ihnen kam, von diesem Vorfall berichten zu können. »Das überlassen wir am besten den Wissenschaftlern. Die werden damit garantiert einen Heidenspaß haben.«

      »Ich glaube, da sind noch mehr Bilder.« Nikolai zeigte in die Tiefen der Höhle hinein.

      Marcus sah auf sein Handy und stellte fest, dass es schon zwei Uhr nachmittags war, und sie waren noch nicht einmal bis zum Gipfel gekommen.

      »Vielleicht können wir uns die Malereien später noch ansehen oder ein anderes Mal wiederkommen, aber jetzt müssen wir dringend weiter.«

      Der restliche Aufstieg war ebenso beschwerlich, aber nach weiteren fünfundvierzig Minuten erklomm das Paar endlich ein Felsband, das den höchsten Punkt des kleinen Berges darstellte und einen perfekten Ausblick auf den gefrorenen See bot.

      In der Nähe befand sich eine natürliche Steinbank, und die beiden Männer setzten sich und sahen auf das gewaltige Binnenmeer hinaus. Marcus konnte die Uferlinie nach Norden und Süden verfolgen, im Osten lag jedoch nichts als gefrorenes Wasser, so weit sein Blick reichte.

      »Sobald das Meer einmal seinen Zauber wirkt, hält es einen für immer in seinem Netz aus Staunen gefangen.« Marcus lächelte und drehte sich um. »Jacques Cousteau.«

      »Ich habe schon von ihm gehört.« Nikolai nickte. »Wussten Sie, dass er 1990 hierhergekommen ist, um den See zu erforschen? Er war ein echter Abenteurer, nicht?«

      »Ja, ein äußerst berühmter Mann des Meeres.« Marcus holte sein Handy heraus und betrachtete die Fotos, die er gemacht hatte. Die Zeichnung der Höhlenmenschen war grob und blass, aber als er das Handy hochhielt und vom Bild auf die tatsächliche Landschaft sah, konnte er eine Ähnlichkeit zwischen den Orientierungspunkten entlang der Küste erkennen.

      Im Norden befand sich eine felsige Landzunge, in weiter Entfernung eine Steinsäule, und davor eine riesige Fläche gefrorenen Wassers – genau wie auf dem Bild. Der Gedanke daran, dass die Menschen, die in der Höhle unter ihnen eingeschlossen gewesen waren, vor vielleicht hunderttausend Jahren an genau dieser Stelle gestanden und genau dieselbe Aussicht gehabt hatten, wie er jetzt, war irgendwie vollkommen surreal.

      Marcus hob den Blick zum Himmel und versuchte sich vorzustellen, was von dort heruntergekommen sein konnte und ins Wasser eingeschlagen war. Hatte es ein Geräusch verursacht? Ein Kreischen, ein Pfeifen, oder ein Grummeln wie weit entfernter Donner?, fragte er sich.

      Er hätte sich vor Angst wahrscheinlich in die Hosen gemacht, und er konnte sich nicht vorstellen, wie sich die Urmenschen wohl gefühlt haben mochten. Er wandte sich wieder der Eisdecke zu.

      »Ich denke, was auch immer einst runtergekommen ist, ist noch immer da drin«, sagte Nikolai. »Vielleicht ist es mittlerweile tief unten im Seeboden versunken.«

      »Wahrscheinlich war es nichts weiter als ein großer, hässlicher Steinbrocken. Vielleicht ist er aber auch magnetisch gewesen, das würde zumindest erklären, deshalb die elektronische Kommunikation hier in der Gegend ständig so durchdreht.« Marcus stand auf und ging vorsichtig näher zur Felskante. Er sah die Bilder noch einmal durch und betrachtete dann das eine, das die riesige Welle zeigte. Wenn dies auch ihr Aussichtspunkt gewesen war, musste die Welle gut dreißig Meter hoch und damit absolut furchteinflößend gewesen sein. Er seufzte. »Das muss aber ein sehr, sehr großer, hässlicher Steinbrocken gewesen sein.«

      Sie blieben noch eine halbe Stunde und Marcus machte etwa fünfzig Bilder. Es gab tatsächlich ein paar Stellen, die er ideal für die Gehege hielt. Sie waren recht nah an der Küste, aber weit genug draußen, dass das Wasser sauber und tief war.

      Das Ufer war außerdem nicht flach, und an manchen Stellen standen schroffe Felsklippen, was perfekt war. Denn sie erwarteten momentan zwar nicht viele Besucher oder Camper, aber das war heute. Wenn die Pacht neunundneunzig Jahre lang lief, wollte er nicht riskieren, dass dieser Ort vielleicht irgendwann in der Zukunft zugänglicher würde und sie sich deshalb um Verunreinigungen durch Siedler oder Camper am Ufer Sorgen machen mussten.

      Marcus fand, dass der Ausflug die Strapazen durchaus wert gewesen war, und er nahm sich vor, Sara im Sommer ebenfalls hierherzubringen. Er stand auf, verlor aber im ersten Moment auf einigem losen Geröll fast das Gleichgewicht.

      »Verdammt.« Seine Taschenlampe fiel aus seinem Beutel, doch Nikolai packte sie, bevor sie über den Klippenrand rollen konnte.

      Der junge Russe gab sie ihm zurück und fragte: »Zeit zum Gehen?« Seine Augenbrauen waren hochgezogen.

      »Danke.« Marcus steckte die Taschenlampe zurück. »Ja, fürs Erste haben wir genug gesehen. Wir haben noch einen langen Rückmarsch vor uns. Hoffen wir, dass wir es bis zum Abendessen zur Mühle zurückschaffen.«

      Nikolai setzte sich sofort in Bewegung und Marcus wollte ihm folgen, hielt aber noch einen Moment lang inne, als er noch einmal über den schier endlosen See blickte. Keine Lichter in der Tiefe, dachte er.

      Als Mann der Wissenschaft glaubte er nicht an irgendwelche Märchen, Mythen oder Legenden, aber er konnte durchaus verstehen, dass so ein abgelegenes und altes Land wie dieses hier über viele davon verfügte, und diese sich im Laufe der Zeit ihren Weg in die Geschichten der einheimischen Dorfbewohner gebahnt hatten.

      Wir müssen nichts fürchten außer der Furcht selbst, dachte er und wandte sich ab, um dem jungen Russen über die Flanke der Felsnase zu folgen.

      ***

      Auf dem Boden, neben dem Stein, auf dem die beiden Männer gesessen hatten, um die Aussicht zu genießen, lag jetzt Marcus schwarzes Schweizer Armeemesser. Ein weiteres verloren gegangenes Relikt an einem Ort, an dem die Zeit scheinbar stillstand.

      KAPITEL 07

       Das Mühlenhaus, Baikalsee –