Die Katze, die nicht sterben wollte - Schweden-Krimi. Inger Frimansson

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Название Die Katze, die nicht sterben wollte - Schweden-Krimi
Автор произведения Inger Frimansson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726445039



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dich erst mal ins Krankenhaus. Ich weiß ja nicht, wo du wohnst. Und du sagst auch nichts.«

      Er trug einen Bart und hatte ein schmales Gesicht. Er hob ihr Fahrrad auf die Ladefläche und setzte sich neben sie auf den Fahrersitz. Der Boden war mit Müll übersät, mit Putzwolle und bunten Bonbonpapieren. Sie bekam immer noch kein Wort heraus. Aber er redete mit ihr und war nett. »Ich heiße Arne«, sagte er, »wie heißt du? Ich glaube nicht, dass du dir etwas gebrochen hast. Am besten wäre es, wenn sich deine Mutter jetzt um dich kümmern könnte, aber wir wissen ja nicht, wo sie ist. Deshalb müssen wir das anders regeln. Meine Verlobte arbeitet in der Ambulanz. Ich fahre dich hin. Immerhin habe ich dich gefunden. Ich denke mal, ich trage jetzt ein bisschen die Verantwortung für dich.«

      Sie hatte kerzengerade auf dem Beifahrersitz gesessen und ihr einziger Gedanke galt den beiden Karten, jetzt würde herauskommen, dass sie eine Diebin war, dass sie Gott und der Kirche etwas gestohlen hatte. Die Strafe würde dementsprechend hart ausfallen, es würde furchtbar werden.

      Arnes Verlobte war gerade nicht da, sie machte Mittagspause. Dadurch verlor er ein wenig das Interesse an der Sache. Sie wünschte sich, weinen zu können, als eine Krankenschwester sie in ein Behandlungszimmer führte und auf die hohe Pritsche hob. Aber kein Ton, kein Schluchzen kam aus ihr heraus und sie versuchte auch nicht, wieder herunterzurutschen und wegzulaufen, das gehörte zu ihrer Strafe, und wenn sie dies durchstand, würde ihr ein Teil der Schuld vergeben werden. Die Karten hielt sie immer noch in der Hand. Ich muss dich jetzt ein bisschen waschen, und Hände, die zerrten und drehten und sie schließlich zwangen loszulassen. Aber als sie die beiden Ansichtskarten auf dem Fußboden liegen sah, fand sie ihre Sprache wieder. Und dadurch konnte sie auch weinen. Sie hörte ihre Stimme, als das Hosenbein über das Knie gezogen wurde. Sie mussten den Fahrer dazurufen. Er durfte bei ihr bleiben und sie im Arm halten und sie weinte und hatte Angst, aber weniger wegen der Schmerzen.

      Die Wunde wurde mit vier Stichen genäht. Sie sagte, wo sie wohnte, Duvgatan 3.

      »Ich fahre dich hin«, meinte Arne.

      Sie hielt das eine Bein beim Gehen gestreckt, man hatte ihr eine dichte, wärmende Bandage angelegt.

      »Du hast einen Schock bekommen«, sagte Arne und setzte sich dicht neben sie und seine Hände hielten sie fest.

      »Du solltest in der nächsten Zeit lieber nicht Fahrrad fahren!«

      Er hatte die Karten für sie mitgenommen, und als er ihr beim Aussteigen half, gab er sie ihr zurück.

      Sie sagte ihm, dass sie ihr nicht gehörten.

      »Nimm sie trotzdem!«

      Sie tat, was er sagte.

      »Soll ich mit reinkommen?«

      »Ist nicht nötig.«

      »Wie du willst!«

      Er lehnte das Fahrrad an die Wand.

      »Ich fürchte, der Lenker hat etwas abbekommen«, sagte er bekümmert.

      »Mein Papa kann den reparieren«, antwortete sie kurz, denn sie wollte, dass er jetzt ging. Sie musste allein sein.

      »Na dann, tschüss«, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen. Seine Finger waren behaart und sie schüttelte seine Hand, weil es keine Möglichkeit gab, es nicht zu tun.

      Nach ein paar Tagen begann die Wunde zu eitern. Sie trug ein Pflaster auf der Wunde, das nicht mehr richtig klebte und deshalb herabhing. Sie sah eine kalte, klebrige Schmiere. Ihr Lehrer erwischte sie eines Tages, als sie in der Wunde puhlte und dünne, klebrige Fäden zog. Er schlug sie auf den Kopf.

      »Kümmert sich zu Hause denn niemand um dich?«, fragte er, und an seiner Nasenwurzel bildeten sich mürrische Falten. »So kannst du hier jedenfalls nicht herumlaufen, das ist ja widerlich.«

      Die Schulkrankenschwester musste die Wunde neu verbinden. Sie säuberte die Wunde mit einer Kompresse, was so wehtat, dass Beth augenblicklich in Tränen ausbrach.

      Oder weinte sie vielleicht wegen des anderem?

      Jedes Mal, wenn sie in der Tür zum Behandlungszimmer der Krankenschwester stand, bekam sie einen Kloß im Hals, ihre Augen liefen über und sie weinte.

      »So weh kann das doch gar nicht tun, oder?«, fragte die Schwester, klang aber nicht ärgerlich und fasste Beth mit ihren klinisch sauberen Schwesternhänden an.

      »Nein, aber ich habe Bauchschmerzen«, brachte sie heraus.

      »So ist das also, du hast Bauchschmerzen.«

      »Ja.«

      »Hast du öfters Bauchschmerzen? Ich meine, regelmäßig?«

      Sie schluchzte.

      »Wie alt bist du jetzt?«

      »Im September habe ich Geburtstag.«

      »Mal sehen, geboren 1961. Dann wirst du also neun?«

      Sie nickte.

      Die sanften Augen der Krankenschwester. Sie nahm eine Broschüre aus einem Ständer auf ihrem Schreibtisch.

      »Lies das, wenn du nach Hause kommst«, sagte sie. »Bauchschmerzen zu bekommen ist völlig normal. Du bist völlig normal. Auch wenn es ein wenig früh dafür ist.«

      8. KAPITEL

      Ihr Vater stand auf der Türschwelle, die Tür war nur einen Spalt weit geöffnet. Die Haare standen ihm wie ein luftiger Heiligenschein um den Kopf.

      »Ich habe euch vom Fenster aus kommen sehen. Ich muss jetzt einkaufen gehen.«

      »Jetzt?«, fragte sie und trat ein. Er machte Anstalten sie zu umarmen, hielt aber inne und begann, auf dem Teppich im Flur hin und her zu gehen.

      »Wir müssen doch etwas essen und ich habe nichts im Haus, wisst ihr, ich lasse sie nur ungern allein.«

      »Kannst du sie nicht mehr allein lassen, geht es ihr jetzt schon so schlecht?«

      »Ich nutze manchmal die Gelegenheit, wenn sie schläft. Aber man weiß nie, auf was für Ideen sie kommt. Außerdem hat sie nicht gut geschlafen . . . die ganze Woche nicht. Vielleicht liegt es an der Hitze. Es hat seit dem 27. Mai nicht mehr geregnet.«

      In einem Auge war eine Ader geplatzt, der Augapfel war rot. Beth konnte kaum hinsehen.

      »Soll ich mitkommen?«, fragte sie.

      »Nein, ich gehe allein. Geht lieber zu ihr. Vielleicht bekommt ihr sie aus dem Bett.«

      Die Wohnung bestand aus drei Zimmern und einer großen rechteckigen Küche. Sie gingen in die Küche. Ihr Vater war gegangen, sie hörten seine Schritte auf dem Kiesweg. Auf dem Tisch stand eine Kaffeetasse ohne Untersetzer, er hatte ein bisschen Milch auf der Wachstuchdecke verschüttet. In der Spüle standen Teller und Gläser.

      »Er kommt einfach nicht dazu«, flüsterte Beth. »Er ist immer so penibel in allem gewesen . . . aber er kommt jetzt einfach nicht mehr dazu.«

      Ulf setzte sich an den Küchentisch, schlug die Lokalzeitung auf und begann zu lesen.

      Beth holte ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Wasser und trank.

      Mit mehreren Kissen im Rücken saß ihre Mutter im Bett und versuchte sich die Lippen zu schminken. Lippenstift war auf dem Betttuch und ihren Händen. Der Stift war abgebrochen. Ihre runzligen Augenlider waren golden geschminkt. Die Augäpfel unter ihnen bewegten sich flatterhaft und starr. Sie trug ihr geblümtes Nachthemd und hatte sich ihre Pelzboa um die Schultern gelegt, die wie ein dünner und schlaffer Schwanz aussah.

      Beth trat an ihr Bett. Das ganze Zimmer roch nach Puder und Zitrone. Ihre Mutter schien sie zunächst überhaupt nicht wahrzunehmen, griff nach einem Spiegel, begann eingehend ihre Zähne zu begutachten und wackelte am Oberkiefer. Vorsichtig setzte Beth sich auf die Bettkante. Ihre Mutter wandte sich zu ihr um und warf ihr einen gleichgültigen, verschleierten Blick zu. Aus ihrem Gesicht war jede Ähnlichkeit mit der Frau und Mutter, die sie einmal gewesen