Die Katze, die nicht sterben wollte - Schweden-Krimi. Inger Frimansson

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Название Die Katze, die nicht sterben wollte - Schweden-Krimi
Автор произведения Inger Frimansson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726445039



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fuhr bis zur Haltestelle Markviksvägen. Anschließend musste sie noch ein Stück eine Steigung hinaufgehen. Als sie die Tür aufschloss, war sie müde. Sie erinnerte sich noch an den Staub, der in einem Streifen Sonnenlicht wirbelte, und war unendlich müde. Als sie gerade ihre Jacke aufgehängt hatte, setzte die erste Wehe ein. Es war viel zu früh dafür, sie war erst im siebten Monat. Kontraktionen hatte sie schon früher gehabt, aber das hier war etwas ganz anderes. Ihr war sofort klar, dass es eine richtige Wehe war. Sie wartete einen Moment und versuchte ruhig und entspannt zu atmen. Dann setzte die nächste Wehe ein und fuhr ihr mit solcher Wucht ins Rückgrat, dass sie vor Schmerz laut aufschrie.

      Sie rief Ulf an, aber er war für eine Reportage unterwegs, und niemand konnte ihr sagen, wann er wieder zurück sein würde.

      »Was denn für eine Reportage?«, schluchzte sie.

      »Er ist in der Börse, dort wird heute bekannt gegeben, wer den Literaturnobelpreis bekommt.«

      »Aber ich bekomme doch ein Kind!«

      Sie versprachen, ihn nach Hause zu schicken, sobald er zurück war. Mehr konnten sie im Moment nicht für sie tun, das konnte niemand. Was vor ihr lag, musste sie ganz allein durchstehen. Sie war voller Energie und glücklich gewesen und hatte sich so sehr auf diesen Moment gefreut.

      Solche Schmerzen hatte sie sich nicht vorstellen können.

      Nach einer Weile gelang es ihr ein Taxi zu bekommen. Der Fahrer war groß und ruhig, kleine rote Härchen wuchsen aus seinen Nasenlöchern.

      »Keine Sorge, gute Frau, Sie kommen schon noch rechtzeitig hin«, tröstete er sie. »Aber selbst wenn es jetzt gleich kommen sollte, schaffen wir beide das schon. Hier sitzt ein Fachmann! Ich fahre rechts ran und dann klettere ich zu ihnen rüber, und sollte das Baby rausflutschen, bevor der Krankenwagen hier ist, nehme ich es in Empfang. Ich habe das schon mal gemacht, es hat wunderbar geklappt.«

      »Was war es?«, stöhnte sie.

      »Ein Junge. Allerdings war das nicht hier, sondern in Köping. Und dann kam die Presse und hat ein Bild von uns gemacht, ich habe es hier im Portmonee, ich zeige es Ihnen, wenn Sie möchten. Mutter und Kind und ich sind darauf . . . so als wäre ich der Vater. Sie meinte, sie würde den Jungen nach mir nennen, aber ich weiß nicht, ob sie das wirklich getan hat, gesagt hat sie es jedenfalls. Und das findet man natürlich nett.«

      Vermutlich erwartete er jetzt von ihr, dass sie nach seinem Namen fragte, aber eine neue Wehe war im Anmarsch und zwang sie dazu, sich nach hinten zu werfen und die Unterlippe zwischen die Zähne zu pressen.

      Sie erinnerte sich noch an den Eingang zur Entbindungsstation. Eine Frau in einer luftigen Strickjacke stand davor. Sie fasste sich in den Rücken und blickte ausdruckslos ins Leere. Beth versuchte ihrem Blick zu begegnen, aber es war, als läge eine Haut über den Augen der Frau, sie hatte sich völlig in sich selbst und das, was in ihrem unförmigen Körper vorging, zurückgezogen.

      Dann musste Ulf gekommen sein.

      Ihr geliebter Mann und Freund. Er war gekommen und blieb die ganze Zeit bei ihr, den ganzen Tag und die Nacht und den ganzen nächsten Tag bis Mitternacht. Soweit sie sich erinnern konnte, versuchte er nicht einmal, zwischendurch ein wenig zu schlafen. Einmal aß er eine Banane. Das war ihr im Gedächtnis haften geblieben, weil sie sich vor dem faden Geruch ekelte, so wie sie sich vor der Konsistenz der Wörter ekelte, wenn er mit dem Bananenmus im Mund etwas sagte. Die Geräusche reizten sie und machten sie wütend.

      Die Zwillinge wurden abends kurz nach zehn geboren, nach fast dreißig Stunden. Die Babys waren klein und unausgereift. Zu allem Überfluss hatte jedes von ihnen noch ein großes, entstellendes Muttermal, das eine auf der linken Wange und das andere auf dem Hals.

      Es sah aus wie zwei Stempel. Ungenügend!

      Natürlich stellte sie sich die übliche Frage, warum so etwas ausgerechnet ihr und Ulf passieren musste. Zwei Kinder, die nicht leben durften. Es war so ungerecht und grausam. Und warum? Es lag an ihren Herzen, sie waren zu schwach und zu klein. Der Fehler musste bereits zu Beginn der Schwangerschaft aufgetreten sein. In ihrem Inneren hatte sich etwas verschoben, sie taugte nicht, etwas war verkehrt. Jetzt erinnerte sie sich auch, dass sie von missgebildeten Föten geträumt hatte. Im Traum gebar sie Tiere, keine Kinder, sondern Tiere mit Schnäbeln und Kiemen. Träume dieser Art waren nichts Ungewöhnliches bei schwangeren Frauen. Aber es war ungewöhnlich, dass sich solche Träume erfüllten.

      Sie war nie wieder schwanger geworden. Niemand konnte einen Grund dafür finden. Es hatte den Anschein, als würde sich etwas in ihr sperren, als säße die Angst wie eine massive und abstoßende Wand in ihrem Inneren, die Angst davor, dass es wieder passieren könnte und das Trauma sich wiederholte.

      Unmittelbar nach der Geburt hatte Beth die beiden Kinder nicht angenommen, es ging ihr zu schlecht. Den Gesichtern des Personals hatte sie angesehen, dass etwas schiefgegangen war, sie sah, dass die Hebamme verkrampfte und sich hinter nervösem und hektischem Hantieren mit Verbänden und Kanülen verschanzte. Beth stellte keine Fragen. Das machte es für alle leichter.

      Lange Zeit später bereute sie das. Aber da war es schon zu spät, sie zu berühren, ihre nackten Körper zu betrachten, den Konturen ihrer Leiber mit den Fingern zu folgen, nicht vor den braunen Flecken zurückzuschrecken.

      Sie hätte ihnen gerne Namen gegeben, als sie noch am Leben waren, schöne Namen wie Alexandra und Frida. Zeitgemäße Namen. Vielleicht hätten sie die nötige Kraft zum Überleben geschöpft, wenn sie ihnen rechtzeitig Namen gegeben hätte.

      Ulf glaubte nicht daran. Sie waren in vielen Dingen ganz verschiedener Ansicht. Das wurde ihr in den folgenden Monaten immer klarer.

      10. KAPITEL

      Sie bogen auf den Waldweg, der kein Weg im eigentlichen Sinne war, sondern ein ausgefahrener Pfad voller holpriger Wurzeln. Beth schaute auf die Blaubeersträucher hinab. Dieses Jahr würde man kaum Blaubeeren pflücken können, die Früchte waren vertrocknet.

      Dann sah sie eine Art Schatten, ein graues Flimmern und sie griff nach Ulf und ihr schnürte sich die Kehle zu. Er hielt an.

      »Was ist los?«, fragte er.

      Trotz der Hitze schauderte sie.

      »Ich weiß nicht . . . da war ein Tier, es ist sicher Lioness gewesen.«

      »Was willst du damit sagen, verdammt nochmal, habe ich etwa ein Tier überfahren?«

      »Nein, nein.«

      Er schaltete den Motor aus und wollte aussteigen, was ihr plötzlich Angst machte.

      »Fahr weiter!«, rief sie. »Beeil dich, nun fahr schon, damit wir endlich nach Hause kommen, ich bin einfach nur müde, todmüde.«

      Sie genehmigten sich einen Whisky. Beth saß vor dem Haus auf der Treppe. Die Sonne war mittlerweile zur anderen Seite des Hauses gewandert, aber es war dennoch ein heißer Abend. Ihre Muskeln entspannten sich.

      »Jetzt lasse ich mich ein wenig benebeln«, sagte sie und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.

      Sie dachte, er wäre unmittelbar hinter ihr, aber als sie sich umdrehte, war er nicht mehr da.

      Sie summte ein wenig vor sich hin und es klang heiser und schräg.

      »Lioness!«, rief sie lockend. »Kätzchen . . . wo seid ihr?«

      Weit entfernt im Wald erklang der Ruf eines Raben. Dort oben hatte schon immer ein Rabenpaar genistet. Manchmal sah man sie am Himmel. Männchen und Weibchen blieben ein Leben lang zusammen, corvus corax. An der Treppe zur oberen Etage hing eine Radierung, die einen Raben zeigte. Ihre Mutter hatte eine kleine Notiz aus der Zeitung ausgeschnitten und unter das Bild geklebt.

      »Sie leben von Abfällen und Aas und verkünden krächzend Tod und Streit.«

      Sie dachte an ihre Mutter, die in diesem Garten aufgewachsen war. Die Obstbäume waren damals noch jung gewesen und gerade erst gepflanzt worden. Heute waren ihre Stämme mit Flechten und Moos bewachsen. Niemand kümmerte sich mehr um sie und befreite sie