Geschichte vom Verlieren, Suchen, Finden. Anke Feuchter

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Название Geschichte vom Verlieren, Suchen, Finden
Автор произведения Anke Feuchter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947233328



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vor allem ausgesprochen schlank.

      „Bonsoir, Katrin!”

      François umarmte sie herzlich und bemerkte charmant, es sei sehr schön, dass man sich bald wiedersehe. Colette und er wechselten einen komplizenhaften Blick – ohne Katrin hätte dieser Abend nicht stattgefunden, beide wussten um Matthieus Coup de cœur beim Brunch am vergangenen Sonntag.

      „Kommt rein.”

      Die Wohnung war traumhaft. Glänzendes Parkett, hohe Wände, ein schmiedeeiserner Balkon.

      Katrin war überwältigt.

      So also konnte man leben? In einem Kokon aus Farben, Stoffen, Licht? Mit Blick auf schöne Wohnhäuser hinter einem Vorhang hellgrüner großer Pflanzen?

      Später am Abend hatte es Matthieu geschafft, Katrin zu den Hängesesseln auf dem Balkon zu lotsen, die von mehreren Kübeln Bambus umgeben, für ein Maximum an Intimität sorgten. Colette hatte sich nur schwer abschütteln lassen, aber Matthieu war hartnäckig und hatte sie zu mehreren Gläsern Vodka Pomme verleitet (nach Mojitos ihre zweitliebste Cocktailsünde). Nun lag Colette hingegossen auf der violetten Méridienne im Arbeitszimmer und schlief. François dachte im Vorübergehen, dass Colette ihm hätte gefallen können. In einem anderen Leben.

      Matthieu beglückwünschte sich dazu, die Anstandsdame in Morpheus’ Arme gelotst zu haben. Katrin brachte er ein Glas Rotwein und einen kleinen Teller mit diversen Häppchen – Gambas, Tomaten an Mozzarella, Blinis mit Tarama. Danke, Colette. Nudelsalat war in der Tat ein No go hier.

      Nun schaukelte Katrin im Korbsessel hoch über der Straße, von der man Automotoren und gelegentliches Hupen hörte. Aus der Wohnung hinter ihr drangen Stimmen, Lachen und leise Musik hervor. Und Matthieus schöne Stimme stellte ihr so viele Fragen, dass Katrin begann, ihr Leben fast interessant zu finden.

      Colette war irgendwann wieder aus dem Apfel-Wodka-Tiefschlaf erwacht und hatte sich nicht ganz so elegant von der Méridienne erhoben, wie sie darauf geruht hatte. Trotz jetzt tatsächlich hämmernder Kopfschmerzen hatte sie registriert, dass der Geräuschpegel merklich gesunken, das Licht gedämpft und die Party- durch leise Jazzmusik ersetzt worden war. Gefahr im Verzug!

      Katrin und Matthieu saßen inniglich auf dem Balkon, ihre Knie berührten sich leicht. Zu mehr Intimität schien es noch nicht gekommen zu sein. Gewandt holte Colette Katrin ins Hier und Jetzt zurück.

      Wenig später brachte Matthieu die beiden an die Tür.

      Colette wusste, dass er sie am liebsten chloroformiert in einem Wandschrank abgestellt hätte. Tant pis, macht nichts, dachte sie. Noch immer, trotz Müdigkeit und nicht ganz nüchtern, wusste Colette genau, warum sie zu verhindern suchte, dass Matthieu Katrin näherkam.

      Katrin war glücklich. Was an diesem Abend geschah, war schön, tat gut, gab Stoff zum Träumen. Von Matthieus auf-ziehender Kriegsflotte und Colettes Schiffchen-versenken-Taktik bekam sie schlichtweg gar nichts mit. So schwebte Katrin hinter Colette die Stufen der geschwungenen Treppe hinunter – Aschenputtel at its best.

      Am späten Sonntagvormittag schlief Colette noch tief.

      Schlafmaske und Ohrenstöpsel hielten jegliche Außenwelt von ihr fern. Katrin hatte bereits in der Boulangerie knusprige Croissants und frischgebackenes Baguette geholt.

      Als sie gerade die letzte Ziffer des vierstelligen Codes tippen wollte, um die Haustür öffnen zu können, schob sich eine Hand an ihr vorbei und tippte auf die 2. Katrin erschrak. Brüsk drehte sie sich um. Ein Mund landete auf dem ihren. Matthieu.

      „Ich wollte gern zusammen mit euch frühstücken”, sagte er.

      „Und da kommst du und küsst mich?”

      „Genau.”

      8

      Johannes stapfte durch raschelndes Laub. Er war aufgewühlt.

      Der Spaziergang im melancholischen Licht eines Oktobernachmittags war nicht dazu angetan, seine Stimmung aufzuhellen. Was für eine Idee, sich ausgerechnet dann zum Philosophenweg für einen Spaziergang aufzumachen.

      Verdrossen kickte er aus einem Häuflein welker Blätter eine Kastanie auf, die in hohem Bogen davonhüpfte

      „Erlauben Sie mal, was machen Sie da?”

      Johannes zuckte. Er hatte sich allein gewähnt. Jetzt wurde er der älteren Frau mit einem Korb gewahr, die unter einem Baum etwas verdeckt vorwurfsvoll in seine Richtung blickte.

      „Ich gehe hier spazieren.”

      „Das sehe ich”, erwiderte die Frau, „und das meine ich nicht. Was ich meine, ist, dass Sie Kastanien durch die Gegend schießen.”

      „Und?”, fragte Johannes unfreundlich zurück. Die Korbmadame mit ihren robusten Schuhen und der praktischen Windjacke nervte ihn.

      „Das sind Esskastanien”, erwiderte sie und strich ein graues Löckchen zurück, das über ihre Augenbraue gefallen war.

      „Für manche Menschen − zum Beispiel mich − sind sie im Herbst ein Geschenk der Natur. Ich sammle sie, ich freue mich darüber, und ich mache anderen eine Freude damit. Es tut mir weh, wenn ich sehe, dass jemand wie Sie diese Frucht nicht achtet. Als ob Sie über der Natur stünden. Aber ich belästige Sie nicht weiter.”

      Sie wandte sich zu den Bäumen und bückte sich, um weiter zu sammeln. Johannes beobachtete sie. Erstaunlich war, dass ihre Worte eine Allegorie hätten sein können für das, was ihn beschäftigte. Vierzig Jahre lang hatte Johannes sich als Opfer Colettes gefühlt. Sie hatte ihn verlassen, war nach Frankreich zurückgekehrt und hatte sich nie mehr gemeldet. Er war zerstört gewesen. Er hatte sich geschworen, nie wieder eine ernsthafte Beziehung einzugehen, und hatte durchgehalten. Nie hatte seine Überzeugung, am Scheitern der Beziehung keine Schuld zu tragen, gewankt. Bis vor ein paar Wochen. Die kleine Gruppe Doktorandinnen und Doktoranden, die er betreute, hatte ihm zum Geburtstag einen selbst zusammengestellten und gestalteten Bild-Text-Band geschenkt und ihn mit Widmungen versehen.

      Darunter auch die Zeilen mit den markanten Versen aus dem 24. Kapitel des Tao-Te-King, die Johannes nur allzu gut bekannt waren:

       Wer auf den Zehen steht,

       steht nicht fest.

       Wer mit gespreizten Beinen geht,

       kommt nicht voran.

       Wer selber scheinen will,

       wird nicht erleuchtet.

       Wer selber etwas sein will,

       wird nicht herrlich.

       Wer selber sich rühmt,

       vollbringt nicht Werke.

       Wer selber sich hervortut,

       wird nicht erhoben.

      Im Dezember 1976 war Colette durch die Heidelberger Altstadt gestreift, um Weihnachtseinkäufe zu machen. Schnell ging ihr die Suche nach Geschenken auf die Nerven, sie verließ die überhitzte Atmosphäre der Kaufhäuser und stöberte bei ihrem Lieblingsantiquar in den Regalen. Dabei hatte sie den Tao-Te-King entdeckt.

      Johannes hatte die Lektüre der ersten Abschnitte bei einem Becher Glühwein über sich ergehen lassen.

      Gewürzgeschwängerte Luft, Weihnachtslieder und die betäubende Wirkung des Alkohols hatten ihn den Text zwar unverständlich, mindestens aber poetisch finden lassen.

      Je begeisterter Colette in der Folge die Fibel mit den kryptischen Versen zu ihrer Lebensphilosophie erhoben hatte, desto zäher versuchte sie, ihn von der Sinnhaftigkeit dieser Gedanken zu überzeugen. Sie hatten sich über die Weisheit, den Nonsens, die Nichthaltbarkeit oder Tiefe der Texte gestritten.

      Als