Geschichte vom Verlieren, Suchen, Finden. Anke Feuchter

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Название Geschichte vom Verlieren, Suchen, Finden
Автор произведения Anke Feuchter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947233328



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Menge dazu zu sagen, das kannst du mir glauben, denn seit vierzig Jahren denke ich darüber nach. Ich schlage dir vor, wir holen uns noch irgendwo eine Flasche Wein und dann kommst du mit zu mir. Deine Nacht wird lang oder kurz, je nachdem, von welcher Warte aus man es betrachten mag.”

      François ließ sich nicht anmerken, dass durchwachte, durchquatschte Nächte nicht mehr zu seinem Lebensstil gehörten. Colette hatte eine beneidenswerte Vitalität. Die Aussicht aber, nun endlich einen Einblick in den Teil der Biografie Colettes zu bekommen, den sie verschlossen hielt wie die Büchse der Pandora, war verlockend. François nickte.

      „Okay. Lass uns gehen.”

      Arm in Arm, ‚wie in alten Zeiten‘ schlenderten die beiden erst den belebten Boulevard Sébastopol hinunter, bogen dann in Richtung Centre Pompidou ab.

      In einem, spät abends noch offenen kleinen Supermarkt kaufte Colette zwei Flaschen Rotwein und drei Tafeln Schokolade.

      „Falls ich rückblickenden Liebeskummer bekomme.”

      Noch während sie in der Küche die Flasche entkorkten und Colette nach Gläsern fahndete, die den edlen Wein ähnlich stilvoll präsentieren sollten, wie die Kelche beim Italiener, begann sie zu erzählen.

      „Es war im Oktober. Ich bin im Oktober zurückgekommen. Auf den Tag genau zehn Jahre, nachdem Johannes und ich uns kennengelernt hatten. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Dabei hatte alles so toll angefangen. Als wir 1973 nach Heidelberg kamen, fand ich es wirklich schön. Ich war ja einverstanden gewesen mit dem Umzug. Johannes war mit seiner Dissertation fertig, und wollte an der Uni bleiben. Ich hatte keine festen Vorstellungen, was ich machen wollte. Und meine gesamte Familie war derart negativ gegenüber Deutschland eingestellt, dass ich aus Trotz schon gehen wollte. Um ihnen zu beweisen, dass ich dort gut leben würde. Und zwar mit Johannes, den sie immer abgelehnt haben.”

      Colette schnaubte.

      „Für sie hätte ich ja sowieso am besten einen der Hinterwäldler aus unserem Dorf heiraten sollen. Keiner hat verstanden, wieso ich mir einen Deutschen ausgesucht hatte. Alle machten sich über ihn lustig, über seine kleinen Fehler, wenn er etwas nicht ganz verstand, selbst über seinen fast nicht vernehmbaren Akzent. Wenn sie gewusst hätten, wie Jo geackert hat, wie er stundenlang Ausspracheübungen gemacht hat, um seinen Akzent loszuwerden. Er war immer überglücklich, wenn er als Franzose durchgehen konnte, oder zumindest nicht als Deutscher ausgemacht wurde.”

      François reichte Colette ein gut gefülltes Glas und schenkte sich selbst etwas weniger ein. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste.

      „Danke. Also, wir sind zum Wintersemester 73 nach Heidelberg gezogen. Unsere Wohnung war doppelt so groß wie die in Paris und kostete die Hälfte. Ich habe mich in einem Deutschkurs für Ausländer eingeschrieben und nette Leute kennengelernt, während Johannes umgehend begonnen hatte, an der Uni zu unterrichten. Bei uns gingen ständig Studenten ein und aus, und wir waren jeden Abend unterwegs – einfach eine super Zeit! Schon Anfang 74 habe ich angefangen, in einem Kinderladen zu arbeiten.”

      „Was ist das denn?”, unterbrach sie François.

      „Kinderläden gab es seit 1967. Sie waren selbstverwaltet, antiautoritär, kreativ und eben alles, was wir damals so gut fanden! Ich war hauptsächlich für Organisatorisches verantwortlich. Aber ich habe auch einiges mit den Kindern unternommen. Du konntest da eine Menge erfinden. Der Anfang war wirklich ein Traum. Wir hatten interessante Gespräche, weil die Eltern sich unglaublich viele Gedanken über die Erziehung ihrer Kinder machten. Sie hatten diese Ideale, weißt du. Dass man die Gesellschaft von Grund auf verändern muss, um zu verhindern, dass Faschismus aufkommen kann. Dass so etwas wie das sogenannte ‚Dritte Reich‘ nie mehr entstehen darf und dass dafür Kinder zu festen und freien Persönlichkeiten erzogen werden müssen.”

      François räusperte sich. Er war nicht gekommen, um eine Vorlesung über die pädagogischen Ansätze der Bundesrepublik in den frühen 70er Jahren zu hören.

      „Entschuldige, dir mag das etwas langatmig erscheinen, aber es gehört dazu. Weil es wirklich meine Vision war, mein Ideal, was ich da gelebt habe. Wir waren eine Gemeinschaft, ohne dass der Einzelne sich darin hätte aufgeben oder sich einer Doktrin hätte unterordnen müssen. Es hatte nichts von Sekte oder von Ashram. Und da ich glücklich war, und Johannes auch, und uns endlich nicht mehr meine Familie im Nacken saß, schien alles unter einem guten Stern zu stehen.”

      Colette trank einen Schluck und brach die erste Tafel Schokolade auf.

      „Jetzt schon?”, warf François ein.

      „Wenn du es genau wissen willst, habe ich seit vierzig Jahren Liebeskummer. Ich bin abgehauen aus Deutschland, ich habe Johannes verlassen. Aber ich habe nie aufgehört ihn zu lieben.”

      François starrte seine Freundin an.

      „Das meinst du nicht ernst.”

      „Doch.”

      Colette steckte sich ein zweites Stück Bitterschokolade in den Mund.

      „Wie ich schon gesagt habe, es ging mir gut. Deshalb war ich auch nicht kleinlich. Wenn die Leute in den Geschäften so taten, als verstünden sie nicht, wonach ich fragte. Du hast – oder zumindest hattest – nämlich auch nicht unbedingt gute Presse als Ausländerin in Deutschland. Wie das zwischenzeitlich ist, weiß ich nicht. In Heidelberg mochten sie die Franzosen nicht, weil die irgendwann das Schloss abgefackelt haben. Ich habe mich immer geweigert, mir das Datum zu merken, weil mich das so nervte.”

      „1693 war das. Während des Pfälzischen Erbfolgekriegs.”

      „Du weißt Sachen!”

      „Ich bin eben dein kluger Freund.”

      „Ungelogen! Jedenfalls … ich habe in diesen Jahren sehr viel gelernt. Wir haben ununterbrochen diskutiert. Im Kinderladen, bei uns zu Hause mit Freunden und Studenten von Johannes. Immer wieder darüber, wie in Deutschland geschehen konnte, was geschehen war. Wie dieses Land in die Barbarei abgleiten konnte. Alle waren damals zwischen Mitte und Ende zwanzig, also kurz nach dem Krieg geboren. Und alle litten darunter, dass sie mit ihren Eltern nicht darüber sprechen konnten, was die in der Nazi-Zeit gedacht und was sie da gemacht hatten. Ihre Revolte ging viel tiefer als bei uns. Da war ein unglaublicher Bruch. Johannes und ich kamen uns zuerst noch näher, weil ich erst jetzt verstehen konnte, was er mit seiner Zeit in Frankreich wollte: sich von diesem Schatten lossagen. Johannes definierte sich nur noch über die Kunst, seine Forschung und …”

      Colette brach ab und atmete tief:

      „… und darüber, eine französische Freundin zu haben. Ich war für ihn wie ein Ausweg aus dieser deutschen Schwere. Deswegen wollte er auch nie Deutsch mit mir reden. Johannes sprach nur Deutsch, wenn andere dabei waren und selbst da streute er Sätze auf Französisch ein, egal, ob alle ihn verstanden oder nicht. Ich habe ihn oft darum gebeten, mir einen deutschen Kosenamen zu geben, aber er wollte nicht. Wollte oder konnte nicht.

      Ich war sein amour, sein trésor, sein ange, aber nie sein Schatz, sein Liebling oder Engel. Nach einer Zeit fing ich an zu zweifeln. Das war idiotisch von mir, ich weiß das heute. Ich wurde misstrauisch: Liebte Johannes wirklich mich oder nur‚ die Französin in mir‘? Vielleicht spielte es ja keine Rolle, wer und wie ich war. Ich war sein Ablassbrief. Und zwar sein lebendiger. Ich habe das damals ganz extrem empfunden. Du kennst mich ja, ich kann mich gut in Überzeugungen verstricken und felsenfest glauben, mit meiner Meinung recht zu haben. So war es damals auch. Ich fing an, jeden Satz von Johannes auf die Waagschale zu legen. Wenn ich vom Friseur kam und er mir ein Kompliment machte – erinnere dich, ich hatte damals so einen fransigen Kurzhaarschnitt wie Jean Seberg – hörte ich, dass er erleichtert war, kein blondes deutsches Fräuleinwunder an seiner Seite zu haben. Jede Bemerkung über Dessous und wie schön es sei, dass ich nicht die unglaublich unerotische Unterwäsche trug wie viele deutsche Frauen, wurde für mich zum Etikett ‚Französin’. Johannes wollte, dass ich mich schminkte. Verächtlich zitierte er seinen Onkel: ‚Die deutsche Frau schminkt sich nicht und raucht nicht‘, einer dieser Sätze aus der Nazipropaganda. Und ich fühlte mich wieder nur als personifizierte Revolte gegen all das,