Название | Geschichte vom Verlieren, Suchen, Finden |
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Автор произведения | Anke Feuchter |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783947233328 |
So hatte auch Colette es schon getan, als sie zwanzig war. Montaigne hatte, damals noch aus Marmor, hier gesessen und auf den eindrucksvollen Palais geschaut. Präsident De Gaulle, der ‘alte Brummbär’, so Daniel Cohn-Bendit, verehrt oder verfemt als ‚Dany le Rouge‘ hinsichtlich seiner politischen Couleur, hatte versucht, die alte Ordnung gegen die aufbegehrenden 68er zu verteidigen.
Heimlich hatte sich Colette immer ein wenig gewünscht, Johannes könne so selbstbewusst auftreten wie eben jener ‚Dany‘, der charismatische Studentensprecher der Bewegung, den sie und ihre Freundinnen für seine Vitalität bewunderten.
„Er kommt doch auch aus Deutschland!”, hatte sie Johannes eines Abends vorgehalten, als sie befand, er übertreibe es mit seiner Diskretion und Reserviertheit, die er gegenüber den Ereignissen an den Tag zu legen pflegte. Nie würde sie den Blick vergessen, mit dem er sie daraufhin angesehen hatte und ihr entgegnete:
„Die Cohn-Bendits sind 1933 aus Nazi-Deutschland geflohen. Der Vater ist gegangen, weil er seiner politischen Überzeugungen wegen Repressalien ausgesetzt war und nicht, weil sie Juden waren. Aber sie waren es, und ich muss dir nicht erzählen, was ihnen hätte geschehen können.
Dany hat seine Geschichte, und ich habe meine. Er ist hier in Frankreich geboren und aufgewachsen. Er kann öffentlich auftreten und Politik machen. Ich habe dazu kein Recht. Bitte komm nicht wieder darauf zurück.”
Kein Wort davon habe ich vergessen, dachte Colette.
Das war nicht verwunderlich, denn jedes Mal, wenn sie Cohn-Bendits fröhlich krähende Energie im Radio vernahm oder ihn im Fernsehen sah, wenn sie seinen engagierten Plädoyers zuhörte, dachte sie an jene Szene mit Johannes in der Brasserie Balzar, wo ihr die sonst so köstliche heiße Schokolade nicht mehr hatte schmecken wollen.
7
Ein Post-it mit den Worten „Schlüssel unter Fußmatte” klebte an der Wohnungstür. Katrin schloss auf. Es war still.
„Colette?” Keine Antwort. Katrin stellte die Einkaufstüten ab. Sie hörte ein leises Rascheln. Unter Colettes Zimmertür wurde ein Zettel durchgeschoben. Ich habe Migräne.
Katrin fühlte sich etwas unbehaglich.
„Kann ich etwas tun?”
Nein.
Katrin fühlte leichte Panik aufsteigen. Konnte sie wie geplant die Küche benutzen und den Salat für die Party vorbereiten? Sollte sie leise wieder gehen? Colette fragen? Aber die schien unerreichbar und auch, um es gelinde auszudrücken, schlechter Laune. Colette stören war nicht gut.
Eine Entscheidung treffen, die falsch sein konnte, genauso wenig.
Katrin trug die Tüten in die Küche, stellte sie ab und setzte sich entmutigt auf einen der harten Holzstühle. Auf dem kleinen Tisch lag ein weiteres Post-it: Fühl dich wie zuhause. Ich bin nur etwas HS. Was ‚HS‘, bedeutete, wusste Katrin zwar nicht, aber es klang etwas versöhnlicher. Wie sie im Internet checkte, war es die Abkürzung für Hors Service, außer Betrieb. Wie ein Aufzug oder eine Rolltreppe.
Colette hatte keine Migräne und sie war auch nicht ‚HS‘.
Sie wollte lediglich für einige Stunden die Welt verbannen, aussteigen in ein Nichts, das nur sie bewohnen durfte.
Johannes hatte ihre Facebook-Seite gefunden.
Wieso auch hatte sie sich genau unter dem Namen angemeldet, den er ihr in den ersten Tagen ihrer Beziehung gegeben hatte? Coco Croco. Idiotisch. Als ob sie ihn unter Oberschimpanse mit Segelohren gesucht hätte. Warum Colette bereits zum dritten Mal, Attends-moi, den Sommerhit von 68 hörte, war ihr ein Rätsel. Eines, das ihr die Tränen in die Augen trieb.
‚On s’est rencontrés un soir d’hiver, la neige tombait - Wir trafen uns an einem Winterabend, es fiel der Schnee’ – was für ein Kitsch.
Nicht auszuhalten und komplett daneben.
Colette spürte, wie eine leise Wut in ihr aufkam. Sie registrierte es mit Erleichterung. Traurigkeit, das war das Schlimmste. Sie stellte Monty ab und wechselte zu den Doors. When the Music’s Over. Schon besser. “Yeah, … when the music’s over, turn out the light” – genau. Sie würde nicht auf diese Nachricht antworten.
Katrin öffnete Schränke, Schubladen und Fächer. Anarchie und Chaos. So peinlich sauber alle Fassaden waren, so wirr, so ungeordnet und entgegen aller Logik präsentierte sich die Innenwelt der Küche. Teller, Schüsseln, Töpfe waren durcheinander wild gestapelt. Eine neue Facette in Colettes Persönlichkeit eröffnete sich ihr. Katrin lauschte – war das nicht Jim Morrison, den sie da hörte? People Are Strange.
Die Musik wurde weiter aufgedreht. Eine eigenwillige Therapie für Kopfschmerzen, dachte Katrin. Colette erschien in der Küche mit zerzauster grauer Mähne und geröteten Augen.
„Frag nicht. Oder frag höchstens, wo was ist”, fügte sie mit einem Blick auf die offenen Schränke hinzu.
„Touch me, babe, can’t you see that I am not afraid …”, dröhnte es jetzt aus dem Schlafzimmer. Colette machte eine Kehrtwendung.
„I’m gonna love you till the heaven stops the rain.”
Abrupt brach die Musik ab, die Zimmertür knallte, und Colette stand wieder vor Katrin in der Küche.
„Entschuldige bitte. Ich bin ein bisschen durch den Wind.”
Riders on the Storm. Katrin konnte die Bemerkung im letzten Moment gerade noch zurückhalten.
„Ich bräuchte eine Salatschüssel, bitte.”
Katrin hatte alle Zutaten für einen Nudelsalat gekauft.
Nudelsalat, dachte Colette. Fete gleich Nudelsalat war eine so deutsche Gleichung, dass hämische Kommentare bei einer Pariser Party unumgänglich waren. Kein französischer Gaumen konnte begreifen, in welche Beziehung kalte Nudeln, Mayonnaise, Kirschtomaten, Thunfisch und womöglich Erbsen aus der Dose mit dem Ideal guten Essens treten konnten. Sophie, eine der Ex-Geliebten von Matthieu, würde Katrin auf ihrer spitzen Zunge aufspießen wie eine Olive auf den Zahnstocher. Oder schlimmer. Wenn sie nämlich mitbekommen würde, dass Matthieu die reservierte Deutsche anscheinend attraktiv fand. Dann würde Katrin Federn lassen. Wie aber konnte Colette Katrin taktvoll erklären, dass ihr kulinarischer Beitrag ein wenig ‚zu deutsch‘ war? Dass er unweigerlich Witze über weiße Socken in Birkenstock-Sandalen, unrasierte Frauenbeine und andere Stereotype mit sich bringen würde?
„Wie geht es eigentlich deinem Kopf?” fragte Katrin.
Colette starrte sie verständnislos an.
„Fehlalarm.“
Mit zwei Flaschen Champagner stand das Duo kurz vor 21 Uhr vor François’ und Matthieus Wohnungstür. Katrins Herz trommelte. Langsam wäre es sicher an der Zeit gewesen, sich einzugestehen, dass sie drauf und dran war, de tomber amoureuse, sich zu verlieben. Vielleicht bereits verliebt war. So weit war Katrin allerdings noch nicht. Ihre letzte Liebesgeschichte lag fünf Jahre zurück und war katastrophal zu Ende gegangen.
Nicht daran denken, nicht jetzt.
François öffnete ihnen. Er sah edel und lässig zugleich aus, wobei ihm seine Größe, seine gute Figur und sein Geschmack für ausgesuchte Kleidung sehr zupass kamen. Colette pfiff anerkennend: „Bist immer noch ein Schöner”, meinte sie lachend. François verneigte sich, küsste sie auf beide Wangen und gab zurück:
„Sie kommen auch nicht schlecht daher, Madame!”
Das stimmte.
Colette hatte ihre halblangen silbergrauen Haare mit einer Spange hochgesteckt und trug grüne Art-Deco-Ohrringe zu einem metallicgrauen wadenlangen Kleid.
Der