Geschichte vom Verlieren, Suchen, Finden. Anke Feuchter

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Название Geschichte vom Verlieren, Suchen, Finden
Автор произведения Anke Feuchter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947233328



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nahm sie mit, über all das zu sprechen. Sie hielt François ihr leeres Glas entgegen.

      „Wenn du magst, können wir auch morgen weitersprechen, Coco.”

      Vehement schüttelte sie den Kopf.

      „Das geht nicht, François. Ich will von all dem nichts mehr wissen. Es ist gut, es einmal jemandem anzuvertrauen und wem, wenn nicht dir. Es ist meine Beichte. Ich mache das einmal und nicht in mehreren Episoden. Halte bitte durch und hör mir bis zum Ende zu.”

      François nickte. Auch in seinem Leben gab es Zeiten, an die er nicht mehr denken wollte. Vielleicht gab es das für jeden Menschen? Er hatte keine Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen.

      Colette sprach weiter.

      „Vielleicht wären wir aus dieser Krise wieder herausgekommen. Selbst ich alter Sturkopf hätte auf Dauer wohl begriffen, dass Johannes mich wirklich geliebt hat. Mich, nicht eine Alibi-Französin. Aber es wurde noch komplizierter: Johannes glaubte, er könne mir beweisen, dass er mich liebte, indem er ein Kind mit mir wollte. Darin sah ich nur den Versuch, mich an ihn zu ketten. Ich würde nie wieder frei sein. Wir haben Monate gebraucht, um uns nach dem entsetzlichen Streit, den wir darüber hatten, wieder einander anzunähern. Ich zog sogar ein paar Wochen zu einer Freundin und hatte eine Affäre mit einem anderen Mann. Mein Lebensgefühl und mein Selbstbild waren so am Boden durch das Misstrauen, das ich Johannes gegenüber empfand und all die Absichten, die ich ihm zuschrieb, so dass ich nicht mehr klar denken konnte.

      Wie gesagt, wir bekamen all das halbwegs wieder hin. Auch wenn uns von der Leichtigkeit, die wir einmal gekannt hatten, nicht allzu viel mehr übrigblieb. Es gab zwischen uns keine Ausgelassenheit mehr. Ich war frustriert und wurde immer unglücklicher. Ich lebte jetzt seit dreieinhalb Jahren in Deutschland. Die Zeit des Entdeckens war vorbei. Ich wurde kritischer. Vieles gefiel mir nicht: Die Bemerkungen, wenn ich über eine rote Ampel ging, die Traurigkeit der Fußgängerzone am Sonntag, die Kehrwoche und die Zettel im Briefkasten von den Nachbarn, wenn man sie nicht eingehalten hatte. Dass du nichts vor die Tür stellen durftest. Und dann der Terrorismus. Die Rote Armee Fraktion, die RAF, verübte Attentate. Die Menschen begannen sich zu fürchten. Überall hingen Fahndungsplakate. Es war eine bedrückende Zeit. Auch der Kinderladen war nicht mehr die Insel der Kreativität und Freiheit. Wir stritten uns über pädagogische Prinzipien genauso wie darüber, wer wie oft den Abwasch machte oder wieder vergessen hatte, nach unseren Debatten das Licht auszuschalten. An manchen Abenden kam ich erst um elf nach Hause. Jetzt war Johannes misstrauisch, weil er mir seit meinem Seitensprung nicht mehr vertraute. Und ausgerechnet da wurde ich schwanger! Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass mich das total euphorisch machte. Nach all den Monaten, in denen ich mein Leben grau gefunden hatte, kam ein helles Licht. Ich mache es kurz: Ich habe das Kind im dritten Monat verloren. Warum, das weiß ich nicht. Es ging mir elend. Eines Nachmittags lag ich wieder apathisch unter meiner karierten Wolldecke auf dem Sofa. Johannes war an der Uni. Da flog mit lautem Krachen die Wohnungstür auf: Polizei! Ehe ich mich versah, hatte ich Handschellen an und wurde in Hausschuhen die Treppe hinuntergezerrt. Man habe mehrere Anrufe bekommen, die behaupteten, unsere Wohnung sei ein Terroristennest. Damals genügte das, um dir eine Hausdurchsuchung zu bescheren.”

      „Na ja, heute genügt das oft genug auch noch, nur uns betrifft es eben nicht”, warf François ein.

      „Stimmt. Ich saß drei Stunden im Schlafanzug auf der Wache und hatte Glück, dass ziemlich schnell klar war, dass ich nichts mit der RAF, nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte. Johannes kam mich abholen. Ich bin dann erst einmal nach Hause gefahren und wollte dort nur ein paar Tage bleiben. Ich habe es dann aber immer wieder aufgeschoben, wieder zurück nach Heidelberg zu fahren.

      Es wurde Sommer, ein herrlicher Sommer. Die Wiesen in der Normandie leuchteten in fettem Grün, die Kühe standen im Pulk zusammen und schleckten wohlig ihre rosa schimmernden Mäuler. Das Meer rollte in sanftem Blaugrün auf den Strand. Manchmal fuhr ich zum Fischen mit hinaus und fühlte, wie mir Gischt und Wind die finsteren Gedanken aus dem Kopf fegten. In der Abendsonne ging es zum ‚Apéro‘ mit kühlem Chardonnay in die Bar am Hafen. Paradies, oder? Ich habe gefuttert wie ein Scheunendrescher. Meine Mutter fand mich zu dünn und kochte mir alles, was ich liebte. Ich traf Freunde, wir machten Radtouren, picknickten, spielten Federball und badeten im Fluss.

      Es war wie eine Wiederbegegnung mit mir selbst in unbeschwerteren Tagen. Coco als Kind, ohne diese Schrammen in der Seele.

      Im August kam dann Johannes nach und wir sind an den Atlantik gefahren. Es waren wundervolle Wochen. Auf klapprigen Fahrrädern fuhren wir stundenlang durch die schattige Kühle duftender Kiefernwälder. Danach liefen wir Hand in Hand den Wellen entgegen, in die wir uns johlend warfen, bevor wir testeten, wer von uns beiden sich länger als ‚Toter Mann‘ treiben lassen konnte. Ich blinzelte in den hellen Himmel und war glücklich. Johannes und ich hatten uns wiedergefunden.“

      Die erste Flasche war leer. Colette bat François, die zweite zu öffnen.

      „Mach dir keine Sorgen, der Rest wird schnell erzählt sein. Wir sind fast am Ende. Anfang September waren wir also wieder zurück, braun gebrannt, mit blau-weiß gestreiften T-Shirts und Espadrilles.

      Im Kinderladen konnte ich natürlich nicht mehr arbeiten.

      Nach Ende meiner Krankschreibung hatte ich mich erst einfach nicht mehr blicken lassen und dann meine Kündigung auf eine Postkarte gekritzelt, die ich in Cherbourg abschickte. Dennoch fand ich für das Wintersemester einen Job am Akademischen Auslandsamt der Uni und es begann der Herbst. Johannes verwandelte sich wieder zurück in den respektablen, ambitionierten Wissenschaftler, der er inzwischen war. Es blieb nicht viel übrig von meinem lustigen Ferien-Johannes, der mir mit einem Ring vom Trödelmarkt einen Anti-Heiratsantrag gemacht hatte, dessen Nähe mir so gut getan hatte. Jetzt war er wieder ganz in der Welt, die es zu erobern gab. Publizieren, Vorträge halten, Seminare und Vorlesungen vorbereiten. Für Übermut und Albereien war kein Platz in unserem Alltag. Und in der Bundesrepublik ging der Alptraum weiter: Der Herbst 1977, der ‚Deutsche Herbst‘. Der Terrorismus war jetzt auf seinem Höhepunkt. Im Oktober haben sie den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer entführt. Du erinnerst dich, sie wollten alle elf inhaftierten RAF-Mitglieder, darunter Baader, Ensslin, Raspe, Möller, aus dem Gefängnis in Stuttgart-Stammheim freipressen. Jeden Abend sah man ein Foto von Schleyer in den Nachrichten. Und dann hat man ihn ermordet im Kofferraum eines Wagens aufgefunden. Das war am 19. Oktober 77. Ich habe es noch drei Tage ausgehalten. Mit Johannes konnte ich nicht sprechen. Er war auf einem Kongress in Berlin. Das Ferngespräch war zu teuer, um über meine ‚neurotische Angstreaktion‘ zu diskutieren.

      Also habe ich gepackt. Das war’s.”

      11

      Katrin erwachte mit einem immensen Glücksgefühl in der Brust. Sie sandte einen innigen Gedanken zu Matthieu und hoffte, er würde ihn empfangen. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett.

      Die Dusche herrlich, es duftete der Tee, der Toast war knusprig und die Marmelade süß: Katrin war verliebt. Die Welt sang ihr ein Lied.

      Colette trat mit geschlossenen Augen vor den Spiegel. Wenn sie sie jetzt gleich öffnete, würde sie das Dorian-Gray-Syndrom einholen: Tränensäcke, tiefe Falten, dunkle Augenringe. Zu viel getrunken, zu wenig geschlafen und zu all dem noch geheult.

      Überraschung. Sie sah nicht nur frischer aus als sonst, sondern auch beschwingter. Sie schenkte ihrem Spiegelbild ein Lächeln.

      Matthieu griff nach seinem Handy auf dem Nachttisch: Keine neue Nachricht. Katrin hatte ihm keine SMS geschickt. Ein gutes Zeichen. Sie schien keine Klette zu sein. Das sprach für sie, und Matthieu rief sich ihr Bild in sein Gedächtnis, wie sie gestern in den Zug gestiegen war. Er mochte sehr, was er da vor seinem inneren Auge sah. Zufrieden drehte er sich auf den Rücken und streckte wohlig seufzend Arme und Beine aus.

      François linste unter seiner Schlafmaske hervor und schaute auf den Wecker. Es war Zeit zum Aufstehen. Der gestrige Abend mit Colette gehörte ins Stundenbuch ihrer Freundschaft. Eine Viertelstunde Extraschlaf gönnte er sich noch. Matthieu würde ihm sicher etwas Kaffee warmstellen.

      Johannes