Krokodile. Angie Volk

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Название Krokodile
Автор произведения Angie Volk
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783455011517



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ist nicht da, er ist an der Strandpromenade von Lacanau-Océan. Trifft sich dort mit Freunden. Hat er was ausgefressen?«

      Ihre Sorge erregte Lucs Mitleid. Er wollte sie nicht anlügen.

      »Es gab einen Mordfall in der Nähe, Madame. Und wir würden gerne ausschließen, dass Ihr Sohn etwas damit zu tun hat.«

      »Mord? Mein Hakim?«

      Verlain hatte Tränen erwartet, doch Madame Tadjiane machte es wie jede Mutter: Sie stellte sich wie eine Löwin vor ihr Kind, um es zu schützen.

      »Mein Hakim? Unmöglich. Der ist sicher nicht der Artigste, aber Mord? Außerdem ist er fast immer hier. Wann soll das denn gewesen sein? Er war doch hier, mein Junge.«

      »Madame Tadjiane, bitte beruhigen Sie sich. Wo war Ihr Sohn denn gestern Abend?«

      Sie wurde still und überlegte. Dann schossen ihr die Tränen in die Augen. »Ich weiß es nicht … Ich war auf dem Strandfest in Lacanau. Ich habe dort ein bisschen gearbeitet. Er war hier, als ich ging. Aber danach? Ich weiß es nicht. Aber mein Hakim hat niemanden umgebracht. Sicher nicht.«

      Verlain konnte sich lebhaft vorstellen, was Hakim für ein Junge war. Viele der Jugendlichen, die unten in Lacanau rumgingen, waren Gelegenheitsverbrecher, die den Touristen die Brieftaschen stahlen. Dass Hakim mehr auf dem Kerbholz hatte, zeigten seine Vorstrafen. Aber ob so ein Junge zu einem Mord fähig war? Madame Tadjiane rührte Verlain an. Natürlich nahm sie ihren Jungen nur in Schutz, aber es war irgendetwas an ihr, das ihm sehr ehrlich vorkam.

      »Könnten wir sein Zimmer sehen? Natürlich bräuchten wir einen Durchsuchungsbefehl, aber es würde Ihren guten Willen zeigen, wenn Sie uns bei unserer Arbeit helfen.«

      Sie überlegte nur kurz. »Kommen Sie, schauen Sie einen Moment hinein, vielleicht hilft es Ihnen.«

      Sie folgten Madame Tadjiane schweigend die Treppe hinauf. Es war ein kleines ärmliches Haus mit unverputzten Wänden und billigen Möbeln. »Draußen bleiben« forderte ein Schild an der Tür von Hakims Zimmer, ein Hinweis, den Teenager immer gern gebrauchten, um ihr Zimmer zur feindlichen Sperrzone zu erklären. Die Mutter ignorierte den Zettel und öffnete die Tür. Drinnen herrschte das totale Chaos. Klamotten sammelten sich auf dem schäbigen PVC-Boden, an den Wänden hingen abgewetzte Poster nordafrikanischer Rapgruppen und nackter Frauen. Luc glaubte, ein britisches Boxenluder wiederzuerkennen. In der Ecke standen ein alter Computer, zwei Schränke mit abgeplatztem Furnier und ein Sessel mit braunem Bezug.

      »Madame Tadjiane, könnten wir einen Blick in Ihren Wäschekorb werfen?«

      »Natürlich, ich habe nichts zu verbergen.« Sie führte sie in das kleine, braun gekachelte Badezimmer. Etxeberria suchte im Korb, fand aber wiederum nichts, was ihnen helfen könnte.

      »Wissen Sie noch, was Ihr Sohn gestern anhatte?«

      »Ja, ein T-Shirt und eine Jeans. Das liegt beides noch in seinem Zimmer. Wollen Sie die Sachen mitnehmen?«

      »Das wäre sehr gut, Madame. Dann können wir viel schneller ausschließen, dass Ihr Sohn etwas mit dem Mord zu tun hat.«

      »Wer wurde denn ermordet? Wir sind so ein kleines Dorf. Wo könnte denn der Verdacht auf meinen Jungen … nein, nein, es ist nicht … Ist etwa der kleinen Derval was passiert?«

      Luc und Etxeberria sahen sich schweigend an, dann nickte Etxeberria. »Ja, Caroline Derval ist getötet worden.«

      »Nein, das darf nicht sein«, schluchzte sie. »Mein armer Hakim. Der hat sie so gern gehabt, sie haben von Kindesbeinen an miteinander gespielt. Das darf nicht sein. Er hätte ihr nie etwas antun können.« Sie wischte sich sofort wieder die Tränen aus den Augen und sah die Polizisten an.

      »Wie war die Beziehung zwischen Caroline Derval und Ihrem Sohn, Madame?«, fragte Luc.

      »Wie gesagt, sie kennen … sie kannten sich schon sehr lang. Und in der Schule war Hakim sehr verliebt in sie. Das habe ich gemerkt. Wir reden nicht darüber, er ist sehr verschlossen, aber ich habe es mir gedacht. Und sie haben sich auch öfter getroffen. Seit ein paar Monaten ist das aber vorbei. Irgendwie hatte sich Caro auch verändert, ich kann es nicht beschreiben.«

      Hakims Mutter wusste mehr über die Beziehung der beiden Teenager als der Stiefvater des Mädchens, offenbar hatten sie sich doch nähergestanden, dachte Luc.

      »Das heißt, der Kontakt zu Caroline hat sich in letzter Zeit verändert?«

      »Ja, das hatte er«, sagte sie und schaute in dem kargen Wohnzimmer umher, als suche sie an der abgerissenen Tapete nach ihren Erinnerungen. »Sie haben sich nicht mehr gesehen, und Hakim war sehr traurig, wütend. Sie hatte sich verändert. Sie lief durch die Straße und hatte die Nase oben, verstehen Sie? Sie wirkte, als gehöre sie nicht hierher. Als wäre ihr das hier alles eine Nummer zu klein, als wäre sie jetzt jemand Besseres. Sie hatte sehr teure Sachen an und war immer sehr stark geschminkt. Dabei war sie früher so ein liebes Mädchen …« Sie begann wieder zu weinen.

      »Vielen Dank, Madame Tadjiane. Wir möchten Sie bitten, Ihrem Sohn nicht zu sagen, dass wir hier waren.«

      Die Frau stutzte. »Warum denn nicht?«

      »Wir müssen zuerst mit ihm sprechen und wollen sichergehen, dass er nichts Unüberlegtes tut. Eine Flucht würde ihn noch verdächtiger erscheinen lassen. Verstehen Sie?«

      Hakims Mutter nickte.

      »Wissen Sie, wo in Lacanau-Océan er sich immer aufhält?«

      »Ganz unten am Ende der Promenade, dort, wo der Strand beginnt, da sind sie immer alle. Ich werde ihn nicht anrufen, Commissaire. Ich weiß, dass er unschuldig ist, und das wird er Ihnen auch beweisen können.«

      Madame Tadjiane gab ihnen noch das T-Shirt, ein Retro-Shirt mit einer »71« drauf, und eine Stone-washed-Jeans.

      »Danke für Ihre Hilfe, Madame«, sagte Verlain, und Etxeberria fügte hinzu: »Sie hören von uns.«

      Als sie zu den Autos zurückgingen, sagte Etxeberria: »Commissaire Verlain, ich würde jetzt gerne diesen Hakim festnehmen und die Klamotten in die Spurensicherung bringen. Was schlagen Sie vor?«

      »Wir sollten ihn nicht festnehmen, sondern freundlich einladen. Ansonsten sehe ich es wie Sie. Bei der Vernehmung wäre ich aber gern dabei.« Etxeberria grummelte nach dieser Belehrung, nickte aber. »Dann sammle ich jetzt Anouk ein, und wir fahren noch zu der Freundin von Caroline«, entschied Luc.

      »Oh, Sie stehen schon auf Du und Du? Das ging schnell.«

      »Wir sind doch ein Team, Commissaire«, sagte Luc und wartete kurz, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Als Etxeberria merklich schluckte, verabschiedete sich Luc.

      Etxeberria rief ihm noch hinterher: »Ich glaube, wenn wir Hakim haben, haben wir unseren Mann.«

      Etxeberria ging auf Hugo und Anouk zu, die ihnen entgegenkamen, winkte den jungen Mann zum Auto und stieg auf der Beifahrerseite ein. Hugo setzte sich hinters Steuer, und sie fuhren los.

      Anouk und Luc schauten dem Wagen hinterher.

      »Der ist sich aber sehr sicher«, sagte Verlain und umriss mit kurzen Worten die letzte Stunde.

      Anouk und Hugo hatten einige Nachbarn befragt, aber nicht viel herausbekommen. Alle kannten Caroline und waren bestürzt über ihren Tod, wussten aber nichts über mögliche Liebschaften. Oder wollten nichts sagen. Das Ansehen der Polizei war hier nicht sehr hoch, genauso wie die Bereitschaft, mit Fremden zu sprechen.

      »Fahren wir also zu Anne-Françoise.«

      Luc lenkte den Wagen wortlos die zwei Kilometer bis in den kleinen Ort kurz vor der Küste. Es war vier Uhr, die Sonne brannte immer noch heiß vom Himmel, der mit Schäfchenwolken gespickt war. Sie hielten in der kleinen Straße im Zentrum des Dorfes und stiegen aus. Sie war von der breiten Hauptstraße an der gotischen Kirche Saint-Vincent abgegangen, rundherum standen die alten Backsteinhäuser, als würden sie den Weg zum Gotteshaus weisen wollen. Alte Seekiefern spendeten Schatten, und in den Vorgärten der