Krokodile. Angie Volk

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Название Krokodile
Автор произведения Angie Volk
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783455011517



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wenn es sein musste, auch erst kurz vor Mitternacht.

      Vor der Cabane hatte der alte Landrover Defender seines Vaters geparkt. Immer noch nutzte der Austernfischer den Wagen für alle Besorgungen und auch, um im Austernhafen von Gujan-Mestras, seiner alten Wirkungsstätte, nach dem Rechten zu sehen. Luc hatte lächeln müssen, als er an dem alten Jeep vorbeigegangen war. Als er die abgeblätterte Tür der Cabane aufgeschlossen hatte, war ihm der Geruch seiner Kindheit entgegengeschlagen: von Holz, Fisch und Zigarettenrauch. Drinnen war es dunkel, und Luc hatte die Gardinen aufgerissen. Sofort war grelles Sonnenlicht hereingedrungen. Die Hütte war einfach eingerichtet, wenige Möbel aus Holz, ein altes Bett, der fast altertümliche Gasherd, den Luc so liebte. Es war spartanisch, aber fast penibel sauber. Darauf hatte sein Vater immer viel Wert gelegt, auch nachdem ihn seine Frau, Lucs Mutter, verlassen hatte.

      Sein Vater und er hatten zusammen in dieser Cabane gewohnt, doch viel hier gewesen waren sie nicht. Eigentlich waren sie nur zum Schlafen hergekommen, und zum Grillen im kleinen Vorgarten, wenn es frischen Fisch gab, Doraden aus dem Atlantik oder Langusten aus der Vendée. Die meiste Zeit waren sie draußen gewesen, auf dem Bassin d’Arcachon, wo die Austernbänke seines Vaters lagen.

      Luc hatte aus dem Fenster gesehen und sich an die endlosen Tage am Strand erinnert: Wie er als braungebrannter Jugendlicher mit seinem Surfbrett die Sanddüne vor dem Haus emporgeklettert war, um an den Strand zu gelangen. Ein einsamer Junge mit nur einem Ziel: dem Meer und allem, was dort auf ihn wartete. Ein anderes Bild überlagerte die Erinnerungen an seine Jugend, doch Luc verdrängte es.

      Er saß wieder im Restaurant und aß die Austern. Jede einzelne war ein Genuss. Und jede einzelne erinnerte ihn an seine Kindheit. Irgendwann um seinen vierten Geburtstag herum probierte er sie zum ersten Mal, roh natürlich. Damals fand er sie noch glibberig und eklig. Aber nur wenig später war er mit rausgefahren, auf dem kleinen roten Fischerboot seines Vaters. Hinaus auf den Bassin der Stadt Arcachon, zu den Austernbänken. Dort hatte Luc gesehen, wie viel Arbeit es machte, die Säcke voller Austern einzuholen, bei Wind und Wetter und auch im Winter. An diesem Tag auf dem Boot hatte er die Kost des Meeres schätzen gelernt und am Abend seinen Teller voller Austern aufgegessen. Seitdem waren sie sein Leibgericht. Und als er heute die erste Auster in den Mund steckte, war alles wieder da.

      Jetzt war er wieder in der alten Heimat und konnte Austern essen, bis sie ihm zu den Pariser Ohren herauskamen. Er würde die Menschen seiner Kindheit wiedertreffen. Bei Jacques, über dessen Tür immer noch dasselbe abgeblätterte Schild Boulangerie hing, würde er das krosse Baguette à la tradi essen, wie sie in ganz Frankreich das viel leckere tradition nannten. Kaum ein Franzose würde ein klassisches flûte bestellen, dieses weiche labberige Baguette ließen sie für die Touristen übrig. Bei Jacques hatte er schon als kleiner Junge das tradi fürs Familienfrühstück gekauft, und der damals schon alte Mann hatte ihm – wenn er einen guten Tag hatte – noch ein kleines Pain au Chocolat zugesteckt, das nach Butter und Schokolade schmeckte.

      Als Erstes hatte Luc aber sein Lieblingsrestaurant aufgesucht. Gaston bewirtschaftete es mit seiner Frau Eveline, einer Deutschen, die in den Siebzigern als Urlauberin hergekommen war, sich in Gaston verliebt hatte und geblieben war. Lucs Vater hatte bei Gaston und seiner Frau nach langen Tagen auf dem Austernboot immer noch einen Absacker getrunken, und Luc war oft dabei gewesen.

      Und dann gab es da noch Rod, den Surfbrett-Bauer, mit seinem kleinen Laden in der Ortsmitte, der Luc die ersten Wellen gezeigt hatte. Ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht, schon Mitte April braungebrannt. Vom Arbeiten mit den Surfbrettern war seine Haut ganz rissig, aber selbst jetzt mit Ende sechzig war er noch jeden Tag in seiner Werkstatt und verkaufte seine berühmten Boards.

      Luc nahm einen Schluck Wein und brach sich noch ein Stück Brot ab, um es in den Sud zu tunken, als sein Handy klingelte. Warum immer beim Essen? Luc sah auf das Display. Der Anruf kam aus dem Commissariat.

      »Verlain?«

      »Ja, Commissaire, hier ist Anouk, äh, Commandante Filipetti. Könnten Sie kommen? Am Strand wurde eine Leiche gefunden.«

      »Wie bitte?«, Verlain zögerte. An seinem ersten Tag eine Leiche? »Hatte Preud’homme nicht gesagt, bei Ihnen ist es ruhig? Hier gibt’s keine Morde?«

      »Ja, Sie haben offenbar Arbeit mitgebracht, Commissaire. Es ist am Strand von Lacanau-Océan, einen Kilometer südlich vom Hauptübergang, am Plage Lion. Soll ich Sie abholen?«

      »Nein, vielen Dank. Ich bin mit dem Auto in Carcans, ich komme direkt.«

      »Dann bis gleich.«

      »Merci, Anouk, äh, Mademoiselle Filipetti.« Verlain biss sich auf die Lippe. »Bis gleich.«

      »Gaston, kann ich zahlen?«

      Der alte Wirt eilte zu ihm auf die Terrasse. Er hatte schon von Lucs Vater gehört, dass der verlorene Sohn wiederkommen würde, aber dass er jetzt wirklich hier saß, war für den Restaurantbesitzer trotzdem etwas Besonderes. Nicht nur, weil Luc nun der Pariser Commissaire war – das galt hier in Carcans Plage gar nicht so viel –, sondern weil er Alains Sohn war, der Sohn des langjährigen Austernlieferanten.

      »Was ist los?«, fragte der Mann mit der Stirnglatze und der unvermeidlichen filterlosen Gitanes im Mundwinkel und sah auf den Teller, der noch halbvoll war. »Hat es dir nicht geschmeckt? Seitdem nicht mehr dein alter Herr die Austern liefert, isst du nicht mehr auf?« Das war zwar scherzhaft gemeint, aber die Sorge, Luc könnte vielleicht wirklich etwas zu beanstanden haben, schwang in Gastons Frage mit.

      »Gaston«, sagte Luc entrüstet, »wie sollte es mir bei dir nicht schmecken? Ich muss leider zu einem Einsatz, tut mir leid. Ich komme morgen Mittag wieder, und dann erzählst du mir die neuen geheimen Liebschaften des Ortes, ja?«

      Gaston lachte. »Gerne, Luc. Und zahlen kannst du auch morgen, aber nur deinen Wein. Für halbvolle Teller kassiere ich nichts.«

      Luc lachte, umarmte Gaston und eilte davon. Den Besuch bei seinem Vater würde er heute wohl vergessen können.

      Er fuhr den Jaguar vom vollen Parkplatz und beschleunigte in Richtung Ortsausgang. Und dann kam das Bild von vorhin wieder. Jetzt würde er es nicht verdrängen können. Ein blondes Mädchen. Hélène. Jahrelang hatte er versucht, sie aus seinen Gedanken zu verbannen. Und jahrelang hatte er jeden Tag an sie gedacht. Hélène und der Atlantik. Nun würde er sich all dem stellen müssen.

      An jedem anderen Tag hätte er für den Weg nach Lacanau die Strecke über die breite Route Nationale gewählt. Aber das hätte zwanzig Minuten länger gedauert. Heute musste es schnell gehen. Kurz hinter dem Ortsausgang von Carcans Plage zog er das Steuer nach rechts und fuhr auf die enge kleine Landstraße nach Lacanau-Océan. Kurvenreich führte sie durch den riesigen Wald aus Seekiefern. Die Sonnenflecken tanzten über die Windschutzscheibe, dazwischen immer wieder die Schatten der hohen Bäume. Draußen schwirrten und zurrten die Zikaden. Luc fuhr das Fenster hoch, er wollte sie nicht hören. Zehn Minuten raste er durch die Kurven, die Augen starr geradeaus. Die Bilder dieses frühen Morgens von vor über zwanzig Jahren drängten sich immer wieder vor sein inneres Auge. Kurz vor Le Huga, bevor der Wald endete, versuchte er krampfhaft, nach links zu gucken. Aber natürlich sah er es. Ein schlichtes Holzkreuz am rechten Fahrbahnrand. Er beschleunigte, und als er endlich auf die Departementstraße 6 bog, atmete er tief durch, ließ das Fenster wieder herunter und sog hektisch die Luft ein. Er fuhr hinein nach Lacanau-Océan. Der Hauptort Lacanau lag einige Kilometer landeinwärts, die Strandorte an der Küste besaßen immer diese Namenszusätze, in Carcans war es »Plage«, hier in Lacanau »Océan«.

      Hier war alles sehr viel belebter als in Lucs beschaulichem Heimatdorf. Nachdem in den siebziger Jahren die ersten Surfer Lacanau entdeckt hatten, sprachen sich die guten Wellen und der lange Sandstrand rasch herum, und immer mehr Wellenreiter kamen hierher. Obwohl die Verantwortlichen immer darauf geachtet hatten, dass nicht zu viele hässliche Hotels gebaut wurden, konnten sie die lange Strandpromenade mit viel Beton und Souvenirläden nicht vermeiden. Carcans gefiel Luc besser, aber auch Lacanau hatte seine schönen Seiten. Seit Jahren fanden hier weltweit beachtete Surfwettbewerbe statt, doch auch die alternative Wellenreiterszene war dem Ort treu geblieben. Immer noch kamen in der Vor- und Nachsaison