Wunder und Wunderbares. Werner Gitt

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Название Wunder und Wunderbares
Автор произведения Werner Gitt
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783869549262



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einnahm, eilte ich auf seinen Schoß, und er erzählte mir allerlei Geschichten. Er hatte immer Zeit für mich.

      Vater war mit großer Freude Bauer. Er erzählte später oft, wie er jene Felder, die an der Straße lagen, besonders gut düngte, um Vorübergehende in Staunen zu versetzen. Rüben an der Straße hatten oft Übergröße und wären heutzutage weltrekordverdächtig, denn sie standen wie die »Thomasmehlsäcke«. Mein Vater verglich gern seine Rüben mit den 50 kg schweren Säcken für Düngemittel.

      Er war sehr fortschrittlich und hatte oft als Erster im Dorf eine neue landwirtschaftliche Maschine, die gerade auf den Markt gekommen war. Im Gegensatz dazu war mein Großvater, was Neukäufe anbetraf, sehr zurückhaltend. Da alle im selben Haus miteinander wohnten, gab es vor jeder größeren Anschaffung heftige Diskussionen.

      Während sich die heutigen Bauern aus wirtschaftlichen Gründen entweder auf Viehzucht oder auf Getreideanbau spezialisieren, gab es damals auf einem Bauernhof von allem etwas. Wir hatten Pferde, Kühe, Schweine, Schafe und eine Vielfalt an Federvieh: Puten, Gänse, Enten und Hühner. Angebaut wurden verschiedene Getreidesorten und Hackfrüchte. Auch der Mohn für den berühmten ostpreußischen Mohnkuchen durfte nicht fehlen. Die Kühe wurden selbstverständlich noch von Hand gemolken. Wenn das Vieh versorgt war, ging es von frühmorgens bis abends aufs Feld. Da kam im Sommer keine Langeweile auf. Im Winter sah das schon anders aus. Da galt es nur die Tiere zu versorgen und die Geräte auszubessern, so dass wir viel Zeit hatten, um abends zusammen am Kachelofen zu sitzen.

       Lageplan des Dorfes Raineck, vor 1945.

      Bei uns auf dem Land wurde ausschließlich Platt gesprochen, und so konnte ich kein einziges Wort Hochdeutsch4, als ich im Sommer 1943 eingeschult wurde. Die Rainecker Dorfschule hatte, wie es damals auf dem Lande so üblich war, nur ein einziges Klassenzimmer, in dem die Schüler aller acht Klassen gleichzeitig unterrichtet wurden. Die erste Klasse saß auf den ersten beiden Bänken des linken Blocks. Die achte Klasse saß in der letzten Reihe des rechten Blocks, dazwischen saßen nach Jahrgängen geordnet die anderen Klassen. Der Lehrer konnte natürlich immer nur zu den Schülern einer Klasse sprechen – es sei denn, er sagte zum Beispiel: »Nun die Klassen drei bis sechs hinhören.« Die anderen lasen, rechneten, schwatzten oder schauten einfach nur in die Luft. Lehrer Brehm unterrichtete zwar auf Hochdeutsch, aber er akzeptierte es, dass ich alles auf Platt sagte. Wie die anderen mit mir eingeschulten Kinder sprachen, daran kann ich mich allerdings nicht mehr erinnern.

      Als ich eingeschult wurde, hatte mein acht Jahre älterer Bruder Fritz (* 29. Oktober 1929) bereits die Rainecker »Bildungsstätte« durchlaufen und arbeitete als angehender Bauer auf dem Hof.

      Unser Lehrer war offenbar schon damals seiner Zeit weit voraus und verfügte über feinste pädagogische Sensibilität. Da ich bezüglich Musik weder eine »Resonanzstelle« hatte noch eine natürliche Begabung mitbrachte, vermied es unser Dorfpädagoge, mich auch nur zum Lernen der Liedstrophen zu animieren, um meine »musikalische Entwicklung« nicht etwa zu gefährden. So kam es, dass ich bei dem gemeinsamen Gesang in der Klasse meine eigene Melodie erfand und in Unkenntnis des Liedtextes ein neues Libretto kreierte. Die gleiche individuelle Art legte ich an den Tag, wenn es bestimmte Kräuter zu sammeln galt. Ich pflückte irgendetwas, von dem ich meinte, das könnte wohl das verlangte Kraut sein. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Sammlung jemals nicht akzeptiert wurde.

      Außer über uns Schüler verfügte unser Lehrer über ein wenig Land und eine Kuh. Sicher wollte er nur das Beste für uns, wenn er uns zur Verrichtung kleinerer Aufgaben auf seinem Grundstück heranzog. Schließlich besteht das Leben nicht nur aus Theorie, sondern auch aus der Praxis. Zur Zeit der Erdbeerreife engagierte er uns zum Pflücken. Während er anderen Dingen nachging, taten sich seine Erntehelfer gütlich an den wohlschmeckenden Früchten. Hatte er seine eigene Jugendzeit vergessen oder unseren ungebremsten Appetit falsch eingeschätzt? Seine Dankesworte jedenfalls fielen recht harsch aus, als er sich die kärgliche Ernte ansah.

      Obwohl sich Deutschland zur Zeit meiner Einschulung bereits im vierten Kriegsjahr befand, lebten wir nach meinem Empfinden in Ostpreußen immer noch wie im tiefsten Frieden. Etwas Neues war jedoch hinzugekommen: In der Schule wurde ständig irgendeine Sammlung durchgeführt. Waren es einmal nicht die Kräuter, dann waren es Lumpen oder auch Tierknochen. Ich staunte, was man so alles noch verwerten konnte. Eines Tages, ich ging noch nicht zur Schule, wurden in meines Bruders Klasse und wohl auch in anderen Klassen Knochen gesammelt. Mutter hatte ihm ein Päckchen zusammengestellt, das er aber vergessen hatte mitzunehmen. So beauftragte sie mich, dieses zur Schule zu bringen. Ich machte mich auf den Weg, öffnete die Tür des Klassenzimmers, ging direkt auf den Tisch des Lehrers zu und legte die Knochen dort ab. Dies tat ich – natürlich auf Platt – mit den Worten: »Eck bring dem Fretz sine Knoakes.« (Ich bringe die Knochen von Fritz). Ich verstand nicht, warum die ganze Klasse in fröhliches Gelächter ausbrach.

      Im Frühjahr und Frühsommer war die Zeit der Verwandtenbesuche. Mit Pferd und Wagen konnte man zu den meisten Verwandten an einem Tag hin- und zurückfahren – so kurz waren die Entfernungen. Der Höhepunkt des Zusammentreffens bestand jeweils in einer guten und reichhaltigen Mittagsmahlzeit, zu der traditionsgemäß mehrere deftige Bratensorten gehörten. Ja, essen konnte man gut in Ostpreußen! Nach dem Nachtisch gab es ein paar zünftige Schnäpse, die dem Magen wieder auf die Beine halfen. Derart gestärkt besichtigten der Besuch und meine Eltern die Felder und rühmten den Stand des Korns. Nun kam meine Stunde: Ich ging von Platz zu Platz und leerte aus jedem Glas auch noch den letzten Tropfen! Wer weiß, ob ich dadurch ins Torkeln kam oder mich in ostpreußischer Standfestigkeit übte?

      Bis zu dieser Zeit erlebte ich eine schöne und unbeschwerte Kindheit in ländlich-bäuerlichem Umfeld. Aber bald sollte sich vieles ändern.

      Die jungen Bauern waren bereits zum Krieg eingezogen, so dass auf den meisten Höfen nur noch Frauen und alte Männer wirtschafteten. Da mein Vater handwerklich sehr geschickt war und es allgemein bekannt war, dass er Reparaturen an Landmaschinen, Elektroanlagen, Pumpen usw. ausführen konnte, wurde er zum Ortsbauernführer gewählt und darum uk gestellt. Mit diesem »unabkömmlich« war er vom Wehrdienst befreit mit der Auflage, auch bei den anderen Bauern die Hilfe zu leisten, die den Fortbestand der Landwirtschaft sicherte.

      In jener Zeit war es gefährlich, sich kritisch zum Naziregime zu äußern, was mein Vater nicht immer beachtete. Eines Tages wurde er von dem Knecht eines Nachbarn angezeigt mit den Worten: »Der Gitt ist politisch nicht zuverlässig.« Bald darauf erschien ein Beauftragter der Partei zur Überprüfung. Als er auf den Hof kam, begrüßte er meinen Vater mit einem lautstarken »Heil Hitler!« Darauf mein Vater: »Ich bin nicht der Hitler!« – »Da haben wir es ja schon«, stellte der Parteibeauftragte sofort fest. Schon wenige Tage danach wurde die uk-Stellung aufgehoben und der Gestellungsbefehl zur Wehrmacht folgte. Mein Vater kam zu einer kurzen Ausbildung nach Preußisch-Holland in Ostpreußen und wurde danach als Soldat nach Frankreich beordert und an der Atlantikküste bei St. Nazaire zur Küstenbewachung eingesetzt. Nachträglich kann man nur sagen, dass es eine gute Fügung war. In St. Nazaire gab es während des ganzen Krieges keinerlei kriegerische Handlungen, so dass er dort nicht einen einzigen Schuss abgeben musste. Wäre er in Ostpreußen geblieben, hätte er unausweichlich zum Volkssturm gehen müssen, und diese Männer sind fast ausnahmslos gefallen, wie auch mein Onkel Franz, der Mann meiner Tante Lina.

      Flucht vor der Roten Armee

      Im Oktober 1944 rückte die Rote Armee bis an die ostpreußische Grenze vor.5 So mussten auch wir die Flucht ergreifen. Ich war damals sieben Jahre alt und gerade in die zweite Klasse der Dorfschule gekommen. Im Gegensatz zu den anderen Bauern des Dorfes, die gemeinsam mit Pferd und Wagen flüchteten, entschied meine Mutter, zunächst nach Altlinden (12 km westlich von Gumbinnen) aufzubrechen, wo ihre Halbschwester Lina auch einen Bauernhof besaß. Mein bei uns lebender Großvater mütterlicherseits (Friedrich Girod)6 baute einen Erntewagen zum Fluchtwagen um; die leinenen Transportbänder des Selbstbinders (Vorläufer der heutigen Mähdrescher)