Wunder und Wunderbares. Werner Gitt

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Название Wunder und Wunderbares
Автор произведения Werner Gitt
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783869549262



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Nachts hatte Vater im Lager einen Traum: Er traf darin einen weit entfernten Verwandten, der schon etliche Jahre vor dem Krieg im Rheinland wohnte. Sie hatten sich jahrelang nicht gesehen, und als sie sich nach ihrem Wiedersehen verabschiedeten, lud der Verwandte meinen Vater ein mit den Worten: »Hermann, besuch mich doch mal!« Mein Vater sagte im Traum zu und stellte noch die entscheidende Frage: »Aber wo wohnst du denn? Ich kenne doch deine Anschrift nicht.« Der Verwandte erklärte ihm deutlich: »Bochum, Dorstener Str. 134a.« Da wachte mein Vater auf, zündete in der Nacht ein Licht an und schrieb die soeben im Traum erfahrene Adresse auf. Den wach gewordenen Kameraden im Schlafsaal erzählte er die sonderbare Traumgeschichte. Sie verlachten ihn, weil er sie ernst nahm und sogar beteuerte, dass er gleich am folgenden Tag dorthin schreiben wollte. Welch eine Überraschung! Bald traf der Antwortbrief ein, der die geträumte Adresse als exakt richtig bestätigte. Über diesen entfernten Onkel kam der Kontakt zu meiner Tante Lina nach Wyk auf Föhr zustande. Nun erfuhr mein Vater Schreckliches: Fast die ganze Familie war umgekommen; nur der kleine Werner war übrig geblieben. Bei allem schwer zu Verarbeitenden war dennoch auch Freude dabei. Der Jüngste von allen lebte.

      Die Nachricht, dass mein Vater am Leben war, machte mich überglücklich. Ich weiß heute noch, wie ich draußen vor Freude gehüpft bin. Ich konnte es zunächst gar nicht fassen, dass ich nicht mehr Waise war, sondern einen Vater hatte. Nach allem Elend eine Freudenbotschaft: Ich bin nicht der einzige Überlebende. Ich habe einen Vater, zu dem ich gehöre. Nun hatte mein Leben eine ungeahnte Wende erfahren. Es gab wieder eine Perspektive.

      Als Vater im Frühjahr 1947 aus französischer Gefangenschaft entlassen wurde, lautete seine Zieladresse Gut Wensin (Kreis Bad Segeberg). Seinem älteren Bruder Fritz war es gelungen, mit Pferd und Wagen von Ostpreußen bis zu diesem Ort in Schleswig-Holstein zu flüchten. Kurz darauf kam er nach Föhr, um mich abzuholen. Offensichtlich wussten wir nicht seine Ankunftszeit, sonst wäre ich schon Stunden vorher am Schiffsanleger gewesen. Unvergesslich ist mir unsere erste Begegnung im Treppenhaus. Ich lief gerade »zufällig« nach oben, da sprach mich Vater an, ohne mich jedoch zu erkennen: »Sag mal, wohnt hier die Frau Riek?« Ich hatte ihn sofort wiedererkannt, ging aber gar nicht auf seine Frage ein, sondern fragte ihn auf Platt: »Papa, kennst mi nich?« So lange hatten wir uns nicht gesehen, dass er mich nicht wiedererkannte. Welch unbeschreibliche Freude, nach so langer Trennung von einem liebenden Vater umarmt zu werden.

       ******

      Während ich diesen Text sehr lange nach all diesen Ereignissen niederschreibe, wird mir so recht bewusst, dass ich oft in Todesgefahr gewesen bin – und Gott hat mich bewahrt und geschützt. Ich staune und danke meinem Herrn für alles Durchtragen und für das Geleit im Leben. Die dritte Strophe von »Lobe den Herren« bewegt mich immer wieder zutiefst, und ich kann sie von ganzem Herzen mitsingen:

      Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet, der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet; in wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.

      Die Rückkehr meines Vaters war das größte Geschenk nach all den schrecklichen Kriegsereignissen. Er hat noch einmal geheiratet, so dass ich wieder ein familiäres Zuhause hatte. Meinem Vater und der mir ebenfalls sehr zugetanen Stiefmutter habe ich es zu verdanken, dass ich eine gute Ausbildung bekam. Den weiteren Verlauf meines Lebens habe ich in dem Buch »Fragen, die immer wieder gestellt werden«16 geschildert, so dass ich meinen Bericht hier an dieser Stelle beende.

      Ein Sprung in das Jahr 1990

      Eines Tages erhielt ich einen Anruf von einem mir bis dahin unbekannten Mann. Er erklärte mir, dass er in der Sowjetunion geboren sei und auch dort studiert habe. Er ist jedoch trotzdem Deutscher und beherrscht die russische Sprache in Wort und Schrift. Sein Anliegen: »Ich habe einige Bücher von Ihnen gelesen. Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie mit mir in die ehemalige Sowjetunion reisen und dort Vorträge halten? Ich würde die Übersetzung ins Russische übernehmen.« Ich erbat mir Bedenkzeit. In den folgenden Tagen kam mir immer wieder der Gedanke: Kann ich in ein Land reisen, mit deren Bewohnern ich so schreckliche Kindheitserlebnisse verbinde? Schließlich siegten die Gedanken Jesu, zu dem ich mich 1972 bekehrt hatte. Im Vaterunser lehrt er uns: »Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern« (Mt 6,12). Jesus hatte auch geboten: »Liebt eure Feinde!« Wir haben in Ostpreußen die Russen als Feinde erlebt. Durch sie habe ich Mutter und Bruder verloren. Und nun kommt zur Vergebungsbereitschaft auch noch das Gebot der Feindesliebe. Welch eine Spannung in meinem Herzen. Im Missionsbefehl in Markus 16,15 schließt Jesus kein Volk der Erde aus, denn er sagt ausdrücklich: »Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur!« Konnte ich zu diesem Ruf noch NEIN sagen?

      Bei einem späteren Telefonat sagte ich zu. So ging die erste Reise nach Moskau, wo wir im Mai 1991 zehn Tage lang an verschiedenen Orten (z. B. Pädagogische Hochschule, Berufsschulen, Krankenhäuser, eine Fabrik und auch eine Kaserne) das Evangelium weitersagten. Gott schenkte viele offene Herzen für das Gesagte, und erstaunlich viele waren bereit, sich Jesus Christus in einer persönlichen Entscheidung hinzuwenden. Wer ist dieser Mann, mit dem Gott mich so zusammengebracht hat? Es ist Dr. Harry Tröster, der in seinem Alltag bis 2004 bei DaimlerChrysler in der Entwicklung tätig war. Inzwischen haben wir fast jährlich eine Missionsreise in den Osten unternommen. Unsere Wege führten uns weitere Male nach Moskau, aber auch je zweimal nach Kasachstan und Kirgisien, nach Weißrussland, mehrmals in das (heute russische) nördliche Ostpreußen und auch nach Polen. Wir haben bei allen Reisen viele liebenswerte Menschen kennen gelernt. Über all dieses gerade in der ehemaligen Sowjetunion Erlebte zu schreiben, würde mehrere Bücher füllen. Heute sehe ich all jene Dienste, die wir im Osten tun durften, als eine segensreiche Führung Gottes an. Die folgenden 14 Berichte sollen ein Zeugnis von dem gnädigen Handeln Gottes ablegen.

      Sprung in das Jahr 2005

      Im Mai 2005 waren wir zu einer Vortragsreise in Polen17, die auf Einladung von Zbyszek Kołak (Osterode) zustande kam. Er hatte eine Tour zusammengestellt, die uns nach Posen, Elbing, Osterode, Danzig und Marienburg führte. Ich hatte den Wunsch geäußert, Peterswalde (poln. Pietrzwałd) noch einmal zu sehen, denn von unserem Hotel in Osterode (poln. Ostroda) aus waren es bis dahin nur etwa 20 Kilometer. Ich nenne dieses Dorf den traurigsten Ort meines Lebens (siehe Seiten 64 bis 69). Es sind die schlimmsten Kindheitserinnerungen, die ich mit diesem Ort im früheren Südostpreußen verbinde: Einmarsch der Roten Armee, Verschleppung meiner Mutter, Vertreibung mit völlig unbekanntem Ziel. Nie zuvor wusste ich, was Krieg bedeutet. 1945 wurde ich an diesem Ort Augenzeuge aus allernächster Nähe, welche Brutalität und Grausamkeit ein Krieg entfesselt.

Image

       Bauernhof in Peterswalde, auf dem wir bis zur Vertreibung wohnten; links Wohnhaus, rechts Stall (Mai 2005).

      Am Sonntag, den 22. Mai 2005, hielt ich die Predigt in der Baptistengemeinde Osterode. Am Nachmittag machten wir uns mit Henryk Machs Auto auf den Weg nach Peterswalde. Würde ich wohl etwas wieder erkennen? Sechzig Jahre sind wahrlich eine lange Zeit! Wir fuhren zunächst die einzige Dorfstraße entlang, um einen Überblick zu erhalten. Auf dem Rückweg fiel mir sofort ein alter Bauernhof auf. Das aus roten Ziegeln erbaute Wohnhaus an der Straße konnte ich mühelos als jenes Haus identifizieren, in dem wir bis zur Vertreibung wohnten. Als ich damit begann, das Gehöft von allen Seiten zu fotografieren, kam auch sogleich ein älterer Mann18 aus dem Haus, um zu sehen, warum gerade seine Wohnstätte auf solch ein besonderes Interesse stieß. Mit Henryk Mach als Dolmetscher konnten wir alles sehr schnell aufklären. Ich erzählte ihm, dass wir bis Oktober 1945 in diesem Haus gewohnt haben und dass im Sommer 1945 eine Polin mit mehreren Kindern aus Ostpolen hier einzog. Diese Kinder waren damals meine Spielgefährten, von denen ich als Kind auch sehr schnell so viel Polnisch lernte, dass wir miteinander spielen konnten. Nun erzählte er weiter: »Es waren drei Söhne und zwei Töchter, von denen ich eine geheiratet habe. Wir hatten eine gute Ehe, aber leider ist meine Frau vor drei Jahren ›300 Meter weitergezogen‹ (und damit meinte