Wunder und Wunderbares. Werner Gitt

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Название Wunder und Wunderbares
Автор произведения Werner Gitt
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783869549262



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wir nur konnten, weg, zuerst in Richtung »unseres« Hofes, bogen dann aber doch zum Nachbargehöft ab, krochen mit Mühe unter einen Bretterzaun hindurch und erreichten dann den Friedhof. Hier versteckten wir uns zwischen Gräbern und Büschen und harrten so lange aus, bis uns die Gefahr vorüber schien. Als ich nach Hause kam, berichtete meine Tante, dass der Reiter wütend in das Haus gekommen sei und intensiv nach uns gesucht habe. Hätte er uns gefunden, wären wir als verdächtigte Partisanen wahrscheinlich auch sofort erschossen worden. Ich ahnte nicht, in welcher Todesgefahr ich geschwebt hatte.

      Eines anderen Tages blieb ein Lkw vor dem Haus von Frau Troyka stehen, und der Russe eilte in ihr Haus, um nach dem Weg zu fragen. Sie glaubte, er wollte sie vergewaltigen, und schluckte sofort ihre stets griffbereit liegenden Gifttabletten. Da sie nicht sofort starb, versuchte meine Tante sie durch Verabreichung von Brechmitteln zu retten. Sie lehnte jedoch jede Hilfe ab, denn in dieser wirren und hoffnungslosen Zeit wollte sie nicht weiterleben.

      In jener Zeit lebten wir von dem, was noch auf dem Hof vorhanden war: Getreide und Kartoffeln. Zum Glück gab es auch Brennmaterial. Da wir jedoch keine Streichhölzer hatten, musste ständig das Feuer erhalten werden. Zu Beginn der Nacht legte man ein Brikett in den Ofen, bis es glühte, tat Asche darauf und entfachte die Glut am anderen Morgen zu neuem Feuer.

      Im Laufe des Sommers bekamen wir zusätzliche Mitbewohner auf »unserem« Hof. Eine polnische Frau mit ihren fünf Kindern zog bei uns ein. Sie sprach gut Deutsch, und ich habe sie als freundliche Person in Erinnerung. Auch sie waren Vertriebene, denn sie kamen aus jenem östlichen Teil Polens, der an die Sowjetunion abgetreten worden war. Der südliche Teil Ostpreußens war durch die damit einhergehende Westverschiebung Polens den Polen zugewiesen worden.15

      Vertreibung

      Im Oktober 1945 begann die Vertreibung der Deutschen durch die Polen. Am 29. Oktober 1945 wurden wir mit einem Fuhrwerk nach Osterode in die Nähe des Bahnhofs gebracht. Mit uns trafen noch viele andere Deutsche dort ein. Auf dem Hof vor einem Getreidespeicher verbrachten wir die Nacht im Freien auf dem Kopfsteinpflaster. Am anderen Morgen starb dort mein Großvater, den wir, ohne ihn beerdigen zu können, liegen lassen mussten, denn der Zug, der ausschließlich aus Viehwaggons bestand, stand schon zu unserem Abtransport nach Westen bereit. Von Raineck waren wir im Oktober 1944 mit fünf Personen aufgebrochen. Opa war nun schon der Vierte, der nicht überlebte. War ich nun der Nächste?

      Was wir mitnehmen durften, war streng reglementiert: nur das, was wir am Leib tragen konnten. So hatte jeder ein Mehrfaches an Unterwäsche und womöglich zwei Hemden an. Unser Handgepäck für vier Personen bestand aus einem Marmeladeneimer, der nur die letzten Habseligkeiten enthielt (z. B. Messer, Gabeln).

      In einer zehntägigen strapaziösen Tour erreichten wir nach häufigen und oft langen Stopps das stark zerstörte Berlin. Diese Bahnfahrt ist mir noch in schrecklicher Erinnerung. Manche älteren Menschen starben während dieser Tortur in der Kälte und ohne Versorgung. Dann öffnete man die Waggontür und warf die Leichen ins Freie. Schlimm waren auch die Überfälle, wenn herumstreunende Polen uns noch berauben wollten, obwohl es doch schon lange nichts mehr zu holen gab. Von Berlin aus ging die Fahrt über Rostock in das 16 Kilometer östlich davon gelegene Sanitz, wo wir bei einer Familie einquartiert wurden.

      Bei einem längeren Stopp entfernten sich die Frauen oft kilometerweit von dem Zug, um auf den Feldern nach Essbarem (z. B. Steckrüben) zu suchen, denn wir wurden weder mit Essen noch mit Trinken versorgt. Unvergesslich ist mir folgende dramatische Situation: Einige Frauen hatten sich so weit vom Zug entfernt, dass man sie nicht mehr sehen konnte. Plötzlich setzte sich der Zug ohne jegliche Vorwarnung in Bewegung. Die Frauen kamen nicht rechtzeitig zurück. Nun war die Not für die Angehörigen im Viehwaggon groß. Würden sie ihre Zurückgebliebenen jemals wiedersehen? Was könnte man tun? Mir ist in Erinnerung, dass das Vaterunser gebetet wurde. Wir waren bereits etliche Tage in Sanitz, da hörten wir, dass die Vermissten mit einem späteren Zug mitgenommen wurden. Gott sei’s gedankt!

      Unfreiwillige Endstation Föhr

      In Sanitz erfuhren wir auch, dass mein Cousin Waldemar (* 25. März 1925), der als Soldat verwundet worden war, nach seinem Lazarettaufenthalt in Bark, einem kleinen Dorf in der Nähe von Bad Segeberg (Schleswig-Holstein), bei einem Bauern untergekommen war. Das war wieder einmal eine gute Nachricht. Im Rahmen der Familienzusammenführung bot sich nun die Chance, die russische Zone zu verlassen. Bald schon wurde ein Zug bereitgestellt, der außer uns noch viele Familien westwärts befördern sollte. Es war zwar nicht Bad Segeberg, das wir erreichten, vielmehr befanden wir uns letztendlich an der Nordseeküste. In der Nähe von Lübeck gab es einen Zwischenstopp. Alle mussten den Zug verlassen und sich in den halbrunden Wellblechbaracken, den so genannten Nissenhütten, einer gründlichen Entlausung unterziehen. Dick eingestaubt mit dem weißen Pulver durften wir den Zug wieder besteigen, der nun Richtung Niebüll dampfte. Wo immer auch dieser für uns unbekannte Ort liegen mochte! Dort angekommen hieß es: »Alle in die Kleinbahn umsteigen!« War das eine Aufregung! Ohne zu wissen, wo es nun hinging, befolgten alle den Umsteigebefehl. Nach kurzer Zeit war Dagebüll erreicht. Das war aber immer noch nicht das Ziel, denn nun lautete der Befehl: »Alle aussteigen, gleich geht’s mit dem Schiff weiter!« Und das mit uns Landratten! In aller Eile wurde auch dieser Befehl befolgt, denn keiner wollte irgendwo zurückbleiben. Als das Schiff schon von der Mole abgelegt hatte und sich auf der Nordsee in Richtung Insel Föhr bewegte, stellten wir fest, dass wir den Marmeladeneimer mit den letzten Habseligkeiten in der Kleinbahn vergessen hatten. Am 24. (oder 25.) Januar 1946 erreichten wir Wyk auf Föhr: Wir hatten nur das, was wir am Leib trugen, doch wir hatten immerhin unser Leben gerettet.

      In Wyk wurden wir am Südstrand bei einem schon sehr alten Ehepaar einquartiert. Sie waren Eigentümer eines großen Kolonialwaren-Geschäfts in der Osterstraße. Außer uns waren hier schon andere Flüchtlingsfamilien untergebracht worden, so dass für uns nur noch eine kleine Abstellkammer unter dem Dach übrig blieb. Sie hatte kein Fenster, dafür aber eine kleine Luke. Das wenige einfallende Licht zeigte uns aber immerhin an, ob es Tag oder Nacht war. Die markanteste Erinnerung aus dieser Zeit war für mich der nicht enden wollende Hunger. Anfangs wurde für die Flüchtlinge im Kurhaus Suppe gekocht. Diese Bezeichnung war fast übertrieben, denn wir konnten von Glück reden, wenn wir in unserer Kelle ein Kartoffelstückchen erwischten, von Fett ganz zu schweigen. Meine Tante sagte manchmal lachend: »Zwei Augen schauen in die Suppe und eines schaut heraus.« Mit dem einen herausschauenden Auge war das kleine Fettauge in der Suppe gemeint. Nach dem langen Rückweg war die Suppe schon wieder vergessen, und der Magen meldete sich aufs Neue.

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       Werner Gitt als 9-Jähriger, 1946.

      In Wyk begann für mich nach langer Zeit auch wieder der Schulunterricht. Zwecks Einstufung in die richtige Klasse musste ich einen Text lesen. Nach über einem Jahr »Zwangsferien« fiel dieser Test nicht gerade überzeugend aus, und so musste ich als Neunjähriger noch einmal mit den ABC-Schützen durchstarten. Diesen Rückschritt konnte ich später jedoch bequem wettmachen.

      Seit Februar 1945 galt ich als Vollwaise. Meine Mutter war verschleppt worden; die letzte Nachricht von Vater lag bereits einige Jahre zurück. So wurde die Vermutung, dass Vater im Krieg umgekommen sei, immer stärker. Doch dann geschah etwas schier Unglaubliches. Meine Tante erhielt von einem entfernten Verwandten aus Bochum einen außergewöhnlichen Brief. Wie es dazu kam, sehe ich als ein Wunder an.

      Nach Kriegsende kam mein Vater in französische Gefangenschaft, und er wusste nichts von dem Schicksal seiner Familie. Es wurde den Gefangenen gewährt, pro Monat einen Brief nach Deutschland zu schreiben. Dafür gab es einen formularartigen Papierbogen mit wenigen vorgegebenen Zeilen; der Inhalt wurde stets kontrolliert. Da nahezu alle unsere Verwandten in Ostpreußen wohnten, schrieb mein Vater immer wieder dorthin. Als er aber nie eine Antwort erhielt und auch nicht wusste, wo wir uns inzwischen befanden, stellte er das Schreiben ein. Was muss das für ein Gefühl gewesen sein, von niemandem etwas zu hören! Es gab für ihn zwei Vermutungen über den Verbleib seiner Familie: Entweder war sie in Ostpreußen durch die Rote Armee umgekommen, oder sie konnte noch rechtzeitig