Wunder und Wunderbares. Werner Gitt

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Название Wunder und Wunderbares
Автор произведения Werner Gitt
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783869549262



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»O ja«, stimmte er zu und deutete mit abgespreizten Armen auf ihren Umfang: »taka maszyna« (gesprochen: tacka maschinna) – und meinte damit, sie war »so eine Maschine«. Nun gab es nicht mehr den geringsten Zweifel: Ich hatte das richtige Haus gefunden. Er wohnt hier ganz alleine auf diesem Bauernhof, den er aus Altersgründen nicht mehr bewirtschaftet. Als wir uns von diesem freundlichen Mann verabschiedeten, gaben wir ihm drei christliche Bücher in Polnisch.

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       Vor dem Wohnhaus von Henryk Wozniak in Peterswalde. Von links nach rechts: Übersetzer Henryk Mach, Gunda Perteck, Henryk Wozniak, Werner und Marion Gitt (Mai 2005).

      Den Dorfplatz, von dem damals die Verschleppung aller arbeitsfähigen Frauen durch die Russen ausging, gibt es nicht mehr, weil inzwischen Häuser darauf errichtet wurden. Hingegen existierte jener Weg, auf dem damals der Abmarsch begann, auch heute noch, denn er führt in das nächste Dorf. Dieser Weg lädt heute manch einen zu einem Maispaziergang ein, denn die frisch belaubten Bäume am Wegesrand spenden Schatten, und die angrenzenden Raps- und Getreidefelder verbreiten einen angenehmen Frühlingsduft. Wie ganz anders wirkte das auf mich – ich empfand das alles als äußerst beklemmend. Von hier aus begann im Februar 1945 in Schnee und Eiseskälte die Leidenszeit meiner Mutter. Es war für sie der Anfang der Straße des Todes. Von den heutigen polnischen Dorfbewohnern, die erst später das Dorf in Besitz nahmen, war niemand Augenzeuge davon, was damals geschah und was aus meiner Erinnerung nie ausgelöscht werden wird.

      Am Abend desselben Tages hatten wir eine Veranstaltung im Osteroder Schloss. Am Ende fand ein Mann zu Christus, der in jungen Jahren auch mit viel Leid konfrontiert worden war. Er berichtete von vier verschiedenen von den Nazis errichteten Arbeitslagern, in denen er während des Krieges hart arbeiten musste. Er zeigte mir eine tiefe Narbe am Bein, die aus jener Zeit stammte. Merkwürdig: Gerade einen Deutschen benutzte Gott, um ihn zu Christus zu führen.

      Am nächsten Morgen hatten wir ein Rundfunkinterview bei dem Osteroder Regionalsender »Radio Mazurky«. Der Reporter sagte zu meinem Übersetzer, dass er noch nie in so kurzer Zeit über die Herkunft des Lebens und über das Leben nach dem Tod gehört habe. Danach wollte ich noch einmal den Bahnhof Osterode sehen, jenen Bahnhof, von dem aus wir im Oktober 1945 in den Westen abgeschoben wurden. Von hier aus starteten wir unsere Odyssee in eine völlig ungewisse Zukunft. Nun stand ich erstmals nach 60 Jahren wieder an dieser schicksalhaften Stelle, wo damals niemand mehr eine Hoffnung hatte. Jetzt empfand ich die Rückkehr an diesen Ort als einen Kreis, der sich hier zu schließen schien. Die 60 Jahre dazwischen liefen mir wie ein Film im Zeitraffer ab. Was war doch inzwischen alles geschehen: Schulausbildung, Studium, Familiengründung, Beruf und der Glaube an Jesus Christus. Gott hatte einen neuen Weg für mich und mir außerdem ewige Hoffnung geschenkt. Wie merkwürdig das alles gefügt ist. Jetzt war ich eingeladen, gerade nach Osterode zu kommen. Es galt, den Menschen, die jetzt hier leben und die auch von Gott geliebt sind, die gute Botschaft des Evangeliums zu bringen. Wer versteht die Wege Gottes? Wie groß ist doch unser Gott!

      2.2 Der »schwerhörige« Professor aus Moskau

      Im Mai 199119 unternahmen wir unsere erste missionarische Reise in die frühere Sowjetunion, und zwar in die Metropole Moskau. Wegen der damals noch schwierigen Einreisebedingungen brauchten wir einen offiziellen Reisegrund. Nun war Phantasie gefragt. Es kam uns zugute, dass mein Übersetzer Dr. Harry Tröster sich für eine Gruppe von Querschnittsgelähmten in Moskau engagierte und versuchte, sie auf mancherlei Weise zu unterstützen. So hatte er 23 Rollstühle überlassen bekommen, die kostenlos in der Aeroflot-Maschine mitgenommen werden konnten. Im Gegenzug erhielten wir eine Einladung zur »Internationalen Autorallye für Querschnittsgelähmte«, die zu jener Zeit in Moskau stattfand. Außer meinem Übersetzer und mir bestand unsere Mannschaft aus zehn weiteren Personen, insbesondere jungen Leuten aus unserer Braunschweiger Gemeinde. Dietrich Müller, Karl Schumann und ich waren als Sportreferenten, die jungen Leute als Begleiter und Harry als Leiter der Mannschaft deklariert. Sieht man von jenen »Rallyefahrten « ab, bei denen uns einige Querschnittsgelähmte durch Moskau zu unseren evangelistischen Einsatzorten brachten, dann haben wir von der offiziellen Rallye nichts gesehen.

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       Von links nach rechts: Prof. Anatoli Rogow, Dr. Harry Tröster, Schirinai Dossowa und Werner Gitt, August 2004.

      Wir blieben etwa zehn Tage in Moskau und waren von der unerwarteten Offenheit für das Evangelium völlig überrascht. Meine zu verschiedenen Themen ausgearbeiteten Manuskripte, die ich vorgesehen hatte, waren hier völlig fehl am Platz. Sie hätten weder Kopf noch Herz der Zuhörer erreicht, denn es waren überwiegend Leute, die aufgrund ihrer atheistischen Erziehung noch nie etwas vom Evangelium gehört hatten. Noch nie habe ich das Gleichnis vom großen Abendmahl (Lukas 14,16-24) so sehr geschätzt wie in jenen Tagen. Diesen Text empfand ich als geradezu maßgeschneidert für unsere Situation. Menschen, die hochoffiziell von Gott selbst in den Himmel eingeladen waren, lehnten sein Angebot ab. Wir waren in Krankenhäusern, Berufsschulen, Universitäten, in der Bibliothek eines großen Autoherstellers, und wir sprachen vor Rollstuhlfahrern und in Hausversammlungen. Welch ein kostbar aufbereitetes Evangelium hatten wir doch in Form dieses Gleichnisses. »Wir sind zu euch gekommen, weil Gott noch Plätze im Himmel frei hat«, so sagte ich es den Zuhörern immer wieder. »Kommt, nehmt Jesus an, den Sohn Gottes, und ihr seid einmal beim großen Fest im Himmel dabei.« Das verstanden die Leute, und nach dem Aufruf zur Entscheidung gingen überall viele Hände hoch. Da wir viele Bibeln und evangelistische Bücher zur Verfügung hatten, bekam jeder eine Ration an geistlicher Verpflegung mit auf den Weg. Am Ende eines jeden Tages waren wir von all den Einsätzen müde und erschöpft, aber die Freude war groß über das, was Gott an den Menschen gewirkt hatte.

      Wir wurden ständig von Anatoli Rogow, einem Universitätsprofessor, den Harry noch aus seiner Studienzeit kannte, begleitet. In Moskau hörte er in jenen Tagen mehrmals täglich das Evangelium, und bei den vielen Fahrten quer durch Moskau hatten wir sehr angeregte Gespräche mit ihm. Einmal sagte er mir, dass zwei Deutsche ihn beeindruckt haben, nämlich Hegel und Gitt. Immer hofften wir, dass er bei einem der Einsätze auch einmal die Hand heben würde, um Jesus in sein Herz zu lassen, doch leider vergeblich. Vorbilder hatte er ja inzwischen sehr viele. Aber er blieb eisern, ja er verhielt sich gegenüber der Botschaft geradezu immun. Das Evangelium beschäftigte ihn zwar irgendwie, aber es schien ihn letztlich doch nicht zu erreichen. So nahte unser Abreisetag, und bei ihm blieb alles beim Alten.

      Blieb wirklich alles beim Alten? Schon wenige Wochen nach unserer Rückkehr hatte er dienstlich in Stuttgart zu tun. So traf er sich auch mit Harry. Kurz entschlossen lud dieser ihn ins Auto, und sie besuchten uns an einem Wochenende in Braunschweig. Abends luden wir einige junge Leute von der Moskau-Reise zu uns nach Hause ein, um das Wiedersehen ein wenig zu feiern. Es war eine nette Begegnung. Am anderen Morgen besuchten wir den Gottesdienst in unserer Gemeinde. Da Prof. Rogow kein Deutsch verstand, reduzierte sich für ihn alles auf das Erleben der Gemeinschaft. Während des Mittagessens sprachen wir über Zachäus. Gespannt hörte er jetzt zu und achtete konzentriert auf das, was Harry übersetzte. Er legte Messer und Gabel beiseite, um kein Wort zu verpassen. In diesem Augenblick spürte ich: Jetzt rührt Gott sein Herz an. So fragte ich ihn direkt, ob er sich bekehren wolle. Es kam die klare Antwort: JA! Nach dem inzwischen fast erkalteten Essen konnten wir ihm den Weg zu Jesus erklären und zusammen beten. Was in Moskau nicht möglich war, begriff er in unserem Wohnzimmer. Erst jetzt fiel die rettende Botschaft in sein Herz. Nun war das Evangelium für ihn reif geworden. Es bleibt für uns ein unergründliches Geheimnis, wann und wo der Herr Jesus ein Herz öffnet.

      Bei unserer nächsten Moskau-Reise im Mai 1993, also zwei Jahre später, trafen wir ihn wieder. Er lud uns zu einem Jugendabend in seiner Gemeinde ein und bat uns darum, auf Fragen, die die jungen Leute beschäftigten, einzugehen. Er sagte, dass er nun seine Aufgabe gefunden habe: »Die Jugend Russlands muss für Christus gewonnen werden, denn sie ist die Zukunft des Landes.«

      2.3