WHO I AM NOT. Von Lügen und anderen Wahrheiten. Ted Staunton

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Название WHO I AM NOT. Von Lügen und anderen Wahrheiten
Автор произведения Ted Staunton
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401804613



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Shan, die Arme um einen mageren, kleinen Danny im Fußballtrikot gelegt. Sie lächelten, blinzelten in die Sonne, sahen glücklich aus. Auf einmal durchzuckte es mich wie ein Blitz. Ich würde es durchziehen. Warum? Weil sie es so wollten. Ich machte sie glücklich. Wir sorgen dafür, dass sie sich gut fühlen. Wenn sie Danny wollten, würde ich ihnen Danny geben. Vielleicht würde ich dann auch glücklich sein. Ich musste fast lachen. Vielleicht lachte ich tatsächlich, denn Shan drehte sich um und blinzelte mir zu. Fast so, als wüsste sie, was ich gerade gedacht hatte.

      Harley erlöste mich aus der Bösen Zeit. Er rettete mich vor Barbie und Ken, den Bibelfundamentalisten. Das war oben in Portland, Oregon, wo ich vom Zeitpunkt meiner Geburt an unter staatlicher Vormundschaft stand. Die beiden waren, glaube ich, meine achtzehnte Familie. Böse Zeit nenne ich den Sumpf, der zurückreicht bis in die Zeit, bevor ich mich erinnern kann. Manchmal tauchen Leute von damals in meinen Träumen auf. Die ältere Dame in Strickjacken, die Kekse backte und mich schlug, wenn ich ihr nicht alles zeigte, was ich auf der Toilette machte. Die lustigen Dicken, die mich zwangen, die abgelegten Klamotten ihrer ebenfalls dicken Kinder zu tragen, und sich von dem Pflegegeld, das sie für mich bekamen, eine Spielekonsole kauften, die ich nicht anfassen durfte. Die Ordnungsfanatiker, die alle meine Bücher wegwarfen, weil sie mein Zimmer verstopften, in dem stets perfekte Ordnung herrschen musste. Die Buchhalter, die beide die gleiche Brille trugen; in den Nächten, in denen sie eine Schlaftablette genommen hatte, kam er immer in mein Zimmer, um zu »reden«.

      Nicht alle waren böse. Ich war böse. Oder vielleicht wurde ich böse. Nach einer Weile wartete ich nicht mehr, bis sich jemand mit mir anlegte, ich legte mich mit ihnen an. Jedenfalls waren die Fundamentalisten nicht die schlechtesten und auch nicht die besten. Und eigentlich hießen sie gar nicht Ken und Barbie. Sie hießen Wayne und Patti. Aber ich glaube, sie wollten Ken und Barbie sein. Die beiden hatten irgendein Bibelcollege in Kalifornien besucht und waren dann nach Oregon gezogen. Sie hatten perfekte Zähne und beteten viel und oft, wenn sie nicht gerade eine christliche Fernsehsendung sahen oder versuchten, mich und die homosexuellen Ökos zu retten. Wayne und Patti waren der Meinung, dass Homosexualität die schlimmste Sünde überhaupt sei, das und Wichsen.

      »Halte dich rein«, warnte mich Wayne ständig. »Versündige dich nicht. Es gibt richtige Feuer, wahre Höllenfeuer, und sie brennen lichterloh. Gib mir deine linke Hand.«

      Dann hielt er immer meine Hand über die Flamme des Gasherdes, er berührte sie nie damit, aber das wusste ich ja nicht. Ich versuchte, meine Hand wegzuziehen, aber er war stärker als ich und ich spürte, wie die Flamme immer näher kam. Beim ersten Mal hatte ich solche Angst, dass ich mich anpinkelte. Dafür bekam ich dann auch Ärger. Wayne hielt immer meine linke Hand über den Herd. Ich sagte ihm nicht, dass ich die rechte benutzte. Stattdessen ging ich ins Bad und wichste auf seine Zahnbürste, sobald ich Gelegenheit dazu hatte. Und dann zettelte ich in der Schule eine Prügelei an.

      Das Hauptproblem mit Wayne und Patti bestand darin, dass ich ständig den Gottesdienst besuchen und laut um Vergebung beten musste, wenn ich etwas angestellt hatte, was ziemlich oft vorkam. Genau wie die Schläge auf die Nieren. Vermutlich steht irgendwo in der Bibel, dass Schläge okay sind, aber das Jugendamt sieht blaue Flecken nicht so gern.

      Harley war damals mit Darla zusammen gewesen, mit der er als Bill und Bonnie seine Prediger-Nummer abgezogen hatte. Damit waren sie damals in die Kirche gekommen, die Wayne und Patti immer besuchten. Harley erzählte mir später, es sei ganz einfach gewesen, mich zu bekommen. Er sagte den beiden, sie sollten einen Tag warten und dann behaupten, ich sei weggelaufen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich weglief.

      Lange dachte ich, Harley hätte den beiden Geld für mich gegeben. Zwei Jahre später fragte ich ihn danach, weil ich wissen wollte, wie viel ich wert war. »Geht’s noch?«, sagte er. »Sie haben mir Geld gegeben.« Seine Stimme nahm einen leiernden Tonfall an. »Eine kleine Gabe für Gott, auf dass wir dieses Kind unter unsere Fittiche nehmen und auf den Weg der Tugend bringen.« Er schnaubte verächtlich und steckte sich einen frischen Kaugummi in den Mund. »Ich wette, sie haben mir nicht mal so viel gezahlt wie das, was ihnen der nächste Scheck vom Jugendamt gebracht hat. Und dich haben sie bestimmt erst als vermisst gemeldet, nachdem sie ihn eingelöst hatten. Du musst ihnen tierisch auf die Eier gegangen sein.«

      »Ich habe vor dem Essen nicht laut genug gebetet.«

      »Worum ich dich bitte, ist nur, beim Kauen den Mund zuzumachen.«

      Ich kann mich nicht mehr so genau daran erinnern, wie ich mich gefühlt habe, als Wayne zu mir sagte, ich solle mit meiner grünen Mülltüte, in der meine Klamotten steckten, zu Harley und Darla in das Wohnmobil steigen. Auf der Seite des Wohnmobils waren in Himmelblau die Worte Gott sei mit dir aufgemalt. Ich dachte bestimmt, dass es nicht schlimmer sein könnte, als dort zu bleiben, wo ich war, und außerdem war ich damals ohnehin schon super darin, nichts zu fühlen.

      Ich weiß noch, wie ich hinten im Wohnmobil saß und zusah, wie Darla das Fenster auf der Beifahrerseite einen Spaltbreit öffnete und eine Zigarette anzündete, als wir um die Ecke fuhren. An der ersten roten Ampel sagte Harley an seinem Kaugummi vorbei: »Hey Kleiner, hol mir mal ein Bier aus dem Kühlschrank dahinten.«

      Er drehte den Kronkorken auf, während er die Straße im Blick behielt. »Wie sollen wir dich eigentlich nennen?«

      Ich sagte nichts.

      »Bill Junior.« Darla blies Rauch aus dem Fenster. »Dann kann sich niemand verplappern.«

      »Was dagegen?« Harley warf einen Blick über die Schulter und sah mich an. Ich schüttelte den Kopf, ging wieder nach hinten und setzte mich. Das Einzige, was mich überraschte, war die Tatsache, dass ich gefragt wurde. Ich wusste, dass sie angeblich Wanderprediger waren, aber ich glaubte schon lange nicht mehr daran, dass jemand das, was er vorgab zu sein, auch tatsächlich war. Sogar Wayne hatte Pornohefte hinter der Holzverkleidung im Keller versteckt. Bevor sie mich nach oben riefen, damit ich mit Harley und Darla mitging, verteilte ich sie gut sichtbar im Wohnzimmer, zusammen mit einer Nachricht, auf der stand links oder rechts? Ich bin gut darin, Sachen zu finden.

      Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir am ersten Abend KFC und Dr. Pepper zum Abendessen hatten, was ich gut fand. Gebetet hat niemand. In der Bösen Zeit hatte ich immer solche Sachen wie Kartoffelbrei und ein winziges Steak mit Wasser oder Milch bekommen, außer bei den Gesundheitsfanatikern. Bei denen gab es nur Tofu, Vollkornreis, Fisch und gedämpftes Gemüse. Das war noch schlimmer.

      Nach dem Essen zündete sich Darla noch eine Zigarette an. Harley rülpste und sagte: »Oh, Baby, das war genau das Richtige.« Es war besser als beten und heiße Gasherde, aber es bedeutete nicht, dass ich ihnen vertraute. In den ersten Monaten schlief ich mit einem Steakmesser, das ich aus einer Küchenschublade geklaut hatte, unter der Matratze. Aber sie wollten gar nichts von mir; es kam auch gar nicht so oft vor, dass sie miteinander ins Bett stiegen. Die meiste Zeit ging es nur ums Geschäft.

      Dafür hatten sie mich nämlich mitgenommen: fürs Geschäft. Zuerst war ich nur ihre Tarnung – einer Familie vertraut man schneller. Schon damals war ich klein für mein Alter und sah jünger aus, als ich war, vor allem nachdem sie mir ein paar neue Klamotten besorgt hatten und mit mir beim Friseur waren. »Du stellst dich neben mich und lächelst. Dann gibst du dem Mann oder der Frau einen Umschlag. Sag ›Gott sei mit dir‹.«

      »Gott sei mit dir.«

      »Du bist ein Naturtalent. Gehst du gern in die Schule?« Harley kaute auf seinem Kaugummi herum.

      Ich zuckte mit den Schultern. Ich hasste Schule.

      »Wir sind ständig auf Achse. Du bist jetzt in einer anderen Schule. Der Schule des Lebens. Wir werden uns jetzt das Einkaufzentrum da vornehmen. Du lächelst und hältst Darla an der Hand, wenn wir reingehen.«

      Das war das Einzige, was mir an der Nummer nicht gefiel, aber ich schaffte es.

      Harley machte die Tür auf. »Alles, was du wissen musst, wirst du von uns lernen. Du brauchst nur Augen und Ohren offen zu halten.«