WHO I AM NOT. Von Lügen und anderen Wahrheiten. Ted Staunton

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Название WHO I AM NOT. Von Lügen und anderen Wahrheiten
Автор произведения Ted Staunton
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401804613



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durchgehalten. Musste ich aber gar nicht. Harley brauchte nur ein paar Sekunden, um bei dem einen Lesegerät den Stecker rauszuziehen und ihn in das andere zu stecken (beim Kartenausteilen war er noch schneller), aber es war wirklich gut. Ich konnte den Verkäuferinnen ansehen, dass ich ihnen eine Freude machte. Ich erfand immer alles Mögliche, bis ich fast selbst daran glaubte. »Wir sorgen dafür, dass sie sich gut fühlen«, sagte Harley immer, wenn wir bei der Arbeit waren. Wenn eine Verkäuferin sehr nett zu mir war und das entsprechende Alter hatte, sagte ich ihr immer, dass ich sie gern als Mutter hätte. Dann lachte sie und wurde rot, daher wusste ich, dass es ihr gefiel.

      Was komisch ist, denn ich habe mir eine ganze Reihe von Eltern für mich vorgestellt, aber welche, die in einem Laden arbeiteten, waren nie darunter.

      Nachdem wir mit den Boutiquen fertig waren, trafen wir uns im Food Court, dann war das Fitnessstudio an der Reihe. Harley sagte, er sei mein Vater, und brachte die Leute dazu, mir alles zu zeigen. Weil er angeblich wissen wollte, ob es mir so gut gefiel, dass eine Familienmitgliedschaft infrage kam. Ein muskelbepackter, viel zu stark gebräunter Schönling führte mich zu den Crosstrainern und den Geräten mit Gewichten. Frauen fanden ihn bestimmt toll, aber mir machte er Angst. Er hatte null Haare. Alle paar Meter blieb er stehen und glotzte sich im Spiegel an. Ich warf einen Blick zu Harley hinüber; er hatte die Kartenleser schon ausgetauscht. Ich sagte dem Typ, ich würde es mir überlegen. Er gab mir seine Visitenkarte.

      Ich weiß noch, dass Harley draußen stehen blieb, um seine zweifarbige Sonnenbrille aufzusetzen und den Kragen seines gelben Poloshirts über den blauen Blazer zu ziehen. Dann schob er auch noch die Ärmel des Blazers nach oben, sodass jeder seine große silberne Uhr sehen konnte. Harley war furchtbar pingelig, vor allem wenn es um seine Haare ging. Oben auf dem Schädel wurde er langsam kahl und er war so klein, dass es auffiel. Bei sich hatte er eine leere Laptopmappe und eine kleine Sporttasche, in der die Kartenleser steckten. Er sah aus wie ein ganz normaler Geschäftsmann, der gerade von seinem Workout kam.

      Harley zog ein Kaugummipäckchen aus der Tasche und steckte sich zwei Streifen in den Mund, dann gingen wir über den Parkplatz zu unserem Van. Es war so hell, dass es einem in den Augen wehtat, die Hitze strömte in Stoßwellen vom Asphalt. August in Tucson ist nichts für Weicheier. Ich schlurfte hinter Harley her, aber das war ihm egal. Harley ging nicht, er stolzierte.

      »Gute Arbeit«, sagte Harley Kaugummi kauend.

      »Wie viel wird Dennis zahlen?«, fragte ich.

      »Darum werde ich mich schon kümmern.« Harley sah mich nicht an, während wir sprachen. Ich wusste, dass er den Parkplatz nach einer zusätzlichen Verdienstquelle absuchte. Hattest du schon mal zu viel Geld?, fragte er mich immer, auch wenn es nie ernst gemeint war. Ich hatte nie Geld, es sei denn, er gab mir ein paar Scheine, und keine Ahnung, wie viel wir hatten, oder besser gesagt, wie viel er hatte.

      »Was haben wir denn da?«, sagte Harley. »Pass auf. Siehst du ihn? Den Dicken da?«

      Inzwischen wusste ich, worauf ich achten sollte. Und tatsächlich, zwei Autoreihen weiter schnaufte und keuchte ein pummeliger Kerl mit Igelfrisur, in jeder Hand eine große Plastiktüte aus dem Elektronikgeschäft im Einkaufszentrum, dazu eine Laptoptasche, die er über der Schulter trug.

      »Los«, befahl Harley und kaute jetzt schneller. »Wenn es ein teures Auto ist, machen wir’s.«

      Er meinte den Kratztrick – einfach, aber noch anspruchsvoll genug, dass es Spaß machte. Ich trennte mich von ihm und lief durch die Hitze und zwischen den geparkten Autos hindurch bis zu der Reihe direkt hinter dem Dicken. Dann ging ich langsamer, hielt mich hinter ihm. Vor einem schwarzen Lexus blieb er stehen. Perfekt. Ich duckte mich. Ich hörte, wie die Türschlösser entriegelt wurden, und sah, wie er seine Sachen auf den Rücksitz verfrachtete. Er schwitzte in der Sonne; man konnte die dunkle Stelle sehen, an der das Hemd an seinem Rücken klebte. Er öffnete die Fahrertür, und als er einstieg, schlich ich zu dem Wagen, der unmittelbar hinter seinem stand. Harley schlenderte vor den Lexus und tat, als würde er durch seine große Sonnenbrille hindurch einen Blick auf seine Uhr werfen. Der Dicke griff nach dem Sicherheitsgurt. Ich stand auf und machte einen Schritt nach vorn. Harley hob den Kopf. »Hey!«, brüllte er dem Dicken zu. »Hey!« Er klopfte auf die Motorhaube, dann zeigte er auf mich. »Er zerkratzt Ihr Auto!«

      Der Dicke rastete aus. Er warf sich so heftig herum, dass der Lexus zu schaukeln begann. Dann purzelte er aus dem Auto, rot im Gesicht, die Augen weit aufgerissen, und brüllte: »Hey! Du kleiner …«

      Ich blieb am Heck auf der Beifahrerseite stehen, als wäre ich vor Angst erstarrt. In Wirklichkeit zählte ich bis drei. Er kam auf mich zu. Ich rannte los.

      Es war kein Problem, vor ihm davonzulaufen; ich bin ziemlich klein für mein Alter. Ich brauchte ihn nur so lange abzulenken, bis Harley alles zusammengerafft und abgehauen war. Dann wollte ich in einem weiten Bogen zum Van rennen, damit wir uns aus dem Staub machen konnten.

      Ich hörte, wie der Dicke hinter mir keuchte, wie seine Slipper auf den Asphalt klatschten. Inzwischen waren wir weit genug von dem Lexus entfernt. Nie umdrehen, sagte Harley immer, aber dieses Mal tat ich es trotzdem, während ich schneller rannte. Das Gesicht des Dicken war dunkelrot. Er stolperte, dann hob er den Arm. Er hielt etwas in der Hand. Es hätte ein Blackberry sein können. Es hätte eine Pistole sein können. Das machte mir Angst. Ich begann zu schreien, als ich um einen riesigen SUV herumrannte. Zwei Autoreihen weiter sah ich flüchtig Harleys Kopf. Er schnellte herum, als Harley begriff, dass ich es war, der schrie. Dann hörte ich drei Geräusche hintereinander: lautes Hupen, quietschende Bremsen und einen gedämpften Schlag, als würde etwas in einem Schrank umfallen. Und dann war Harley tot.

      Wahrscheinlich hätte ich sofort danach noch weglaufen können. Wohin ich hätte laufen sollen, kann ich allerdings nicht sagen. In meiner Tasche steckten fünf Dollar und der Ausweis von Frank Rolfe. Alles andere hatte Harley, selbst den Schlüssel zu unserem Motelzimmer, das sowieso auf der anderen Seite der Stadt lag.

      Daher war es vermutlich egal, dass ich zu Harley rannte. Ich war immer noch dort, fassungslos, wie betäubt, kniete ich auf dem Asphalt neben ihm und der rotschwarzen Pfütze, die sich unter seinem Kopf ausbreitete, als der Krankenwagen und die Cops kamen und die kleine Menschenmenge, die sich gebildet hatte, zur Seite wich. Einer der Rettungssanitäter setzte dem Dicken, der immer noch nach Luft rang und an einem Laternenmast lehnte, eine Sauerstoffmaske auf die Nase.

      Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, bis ich auf einem Plastikklappstuhl in einem Büro saß und ein Typ, der sagte, sein Name sei Josh, mit mir redete. Inzwischen war ich hellwach und mein Gehirn lief auf Hochtouren. Ich hätte eine Fliege im Zimmer nebenan hören können. Ich hatte schon viele Typen wie Josh getroffen, damals in der Bösen Zeit und meistens in Büros, die genauso aussahen wie dieses hier. Nur war ich damals noch nicht mit den Füßen auf den Boden gekommen.

      »Frank«, sagte er, »verstehst du, dass ich nicht von der Polizei bin? Du bist beim Jugendamt, das hier ist eine Unterkunft für obdachlose Jugendliche. Meine Aufgabe besteht darin, dir zu helfen. Du hast etwas Furchtbares erlebt heute. Ich will dir nur helfen, sonst nichts.« Er gab mir seine Visitenkarte. Anscheinend war heute der Tag der Visitenkarten.

      Ich steckte sie in die Tasche und nickte. Harley war tot, aber das spürte ich nicht. Ich spürte nur, dass die Atmosphäre in diesem Raum die gleiche war wie in der Bösen Zeit. Ich atmete schneller und kämpfte gegen die Panik an, die in mir aufstieg. Immer wenn Harley richtig sauer auf mich gewesen war, vor allem als ich noch jünger war, hatte er nur Willst du wieder in die Böse Zeit zurück? sagen brauchen und ich war sofort eingeknickt. Egal, was passierte, ich wollte nie wieder in die Böse Zeit zurück. Ich konnte mich zwar nur noch vage und bruchstückhaft daran erinnern, aber das machte es nur noch schlimmer, als würde etwas im Schatten stehen und seine Form verändern. Ich wollte hier raus, auch wenn fünf Dollar und ein gefälschter Ausweis alles waren, was ich besaß.

      Josh legte ein Bein oben auf das Durcheinander auf seinem Schreibtisch. Er trug schwarze, hochgeschnürte Converse. Sein kurzärmeliges Hemd war völlig zerknittert.