WHO I AM NOT. Von Lügen und anderen Wahrheiten. Ted Staunton

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Название WHO I AM NOT. Von Lügen und anderen Wahrheiten
Автор произведения Ted Staunton
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401804613



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hinter ihm war noch eingeschaltet; er hatte gerade etwas getippt, als sie mich hereingebracht hatten. Über seiner Schulter konnte ich gerade noch das Wort FALLBEARBEITUNGSSTRATEGIEN erkennen. Mit Fallbearbeitungsstrategien kannte ich mich aus, sie waren sozusagen mein Leben. Irgendwo gab es eine Akte über mich, die voll davon war. »Willst du jemanden anrufen? Oder soll ich für dich anrufen?«, sagte er.

      Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ist schon okay. Ich sollte einfach gehen.« Meine Stimme zitterte.

      Josh presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Na ja, Frank, die Frage ist nur, wohin? Deinem Ausweis nach bist du fünfzehn, also noch minderjährig. Und aus Michigan. Hast du Familie hier in Tucson? Freunde?«

      »Ja, klar«, antwortete ich. »Die Ludwigs, die Mc-Leods, die Lombards. Und die Alvierezes, die wohnen ganz in der Nähe. Sie brauchen nicht anzurufen. Ich kann laufen.«

      Ich stand so schnell auf, dass mir schwindlig wurde.

      »Frank«, sagte Josh leise, »ganz ruhig.«

      Ich setzte mich wieder und steckte die Hände in die Taschen, damit er nicht sah, wie sie zitterten. Ich trug Cargoshorts von Gap, damit sie zu dem Kindreicher Eltern-Look passten. Meine Beine sahen darin ziemlich dünn aus, was mich vermutlich noch kleiner und jünger wirken ließ, als ich sowieso schon war. Ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht war.

      Josh redete weiter: »Die Cops haben mir von den Ausweisen im Van erzählt und von den anderen Sachen. Von einer Tasche mit manipulierten Kartenlesern zum Beispiel. Willst du mir etwas darüber sagen?«

      »Das hab ich denen doch schon gesagt. Ich kannte den Typ doch gar nicht. Ich war nur zufällig dort, wie alle anderen.«

      Josh nickte. Er nahm sein Bein vom Schreibtisch und legte stattdessen die Ellbogen darauf. Dann stützte er den Kopf in beide Hände und starrte mich noch ein bisschen weiter an. Er kratzte sich am Kinn; er war einer dieser Typen mit Dreitagebart. Wenn mir Haare im Gesicht gewachsen wären, hätte mir so ein Bart vermutlich auch gefallen. »Die Cops sagten, du hättest den Kratztrick abgezogen«, sagte er dann.

      Ich verzog das Gesicht. »Was ist denn ein Kratztrick?«

      Josh zuckte nur mit den Schultern, das Kinn immer noch in die Hände gestützt. »Etwas, von dem die Cops glauben, dass du es getan hast. Nicht mein Problem. Und deins hoffentlich auch nicht, aber sie werden vermutlich mit dir darüber reden wollen. Ich frage dich nicht danach. Meine Aufgabe ist es, dich irgendwohin zu bringen, wo du sicher bist. Und dazu muss ich wissen, wer du bist. Also: Wer bist du, Frank?«

      Und da war sie. Die Frage. Ich sah ihm direkt ins Gesicht. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. Es stimmte, aber das spielte keine Rolle. Wenn man die Wahrheit sagt, glaubt einem sowieso niemand.

      Josh reagierte, wie ich gedacht hatte. Er ließ meine Antwort eine Weile in der Luft hängen und starrte mich unverwandt an. Nach einer Minute sagte er: »Okay. Hör zu, du bist ein bisschen durcheinander. Was kein Wunder ist. Lass dir ruhig Zeit.« Er stand auf. Er war groß und mager. Sein zerknittertes Hemd hing aus der Hose, es war zu kurz. »Ich hole mir einen Kaffee. Willst du was essen oder trinken?«

      Ich schüttelte den Kopf. Mein Herz klopfte wie wild.

      »Okay«, sagte er. »Falls du es dir anders überlegst, ich bin draußen. Mach eine Pause, entspann dich einen Moment. Wenn du telefonieren willst oder so, nur zu. Und vergiss nicht, dass ich da bin, um dir zu helfen. Ich will dir keinen Ärger machen. Wenn du irgendwohin musst oder ich dir sonst irgendwie weiterhelfen kann …« Er zuckte mit den Schultern, legte den Kopf schief und lächelte leicht. Dann verließ er das Büro und schloss die Tür hinter sich.

      Ich sackte auf meinem Stuhl zusammen. Harley war tot. Die Böse Zeit umzingelte mich. Eine Minute lang konnte ich mich überhaupt nicht bewegen. Typen wie Josh halfen einem nicht weiter, sie schickten einen ins System zurück. Zurückgehen kam nicht infrage. Ich musste hier raus, egal wie. Ich stand auf. Das Büro grenzte an den Eingangsbereich, daher konnte ich nicht einfach so verschwinden. Es gab auch kein Fenster nach draußen.

      Was würde Harley tun? Ich zog die Hände aus den Taschen. Meine Achselhöhlen wurden ganz kalt von der Luft der Klimaanlage. Unter den Armen meines Tommy-Hilfiger-Hemds hatten sich Schweißflecken gebildet. Ich holte tief Luft und öffnete meine Fäuste. In einer Hand hielt ich zusammengeknülltes Papier: Joshs Visitenkarte und die von dem Typen im Fitnessstudio.

      Ich warf sie auf das Durcheinander auf dem Schreibtisch. Jeder hatte einen Namen. Ich hatte ganz viele. Jetzt brauchte ich einen anderen, einen, der mir ein bisschen Zeit verschaffte und vielleicht einen Vorsprung, damit ich weit genug von hier weg war, um herausfinden zu können, was ich als Nächstes tun sollte. Ein Name, der mich vor der Bösen Zeit bewahrte.

      Was würde Harley tun? In dem Büro hing eine Pinnwand mit einem Rauchverbotsschild und Postern von vermissten Kindern; an der Wand über dem Regal war eine Landkarte von Nordamerika befestigt. Dokumente, Aktenhefter, gebrauchte Kaffeetassen … Josh war ein Chaot. Selbst seinen Computermonitor hatte er mit diesen kleinen gelben Haftnotizzetteln tapeziert. Der Bildschirm war schwarz. Ich ging um den Schreibtisch herum und stupste gegen die Maus. Der Bildschirm wurde aktiviert. FALLBEARBEITUNGSSTRATEGIEN. Josh hatte vergessen, sich abzumelden.

      Zum ersten Mal an diesem Tag hatte ich Glück. Ich setzte mich hin und holte noch einmal tief Luft. Dann klickte ich das Fenster weg und öffnete den Browser. Jetzt brauchte ich nur noch etwas, wonach ich suchen konnte. Aber was? Einen Namen? Von wem? Was würde mich hier rausbringen? Ich drehte Joshs Bürostuhl in die andere Richtung. Aktenhefter, die Landkarte, eine Pinnwand mit Fotos weggelaufener Kinder. Ich drehte mich zurück zum Computer. Bericht bis Dienstag stand auf einem der gelben Zettel. Geburtstag Ellen auf einem anderen. Einige Telefonnummern, dann gleich mehrere Haftzettel untereinander auf einer Seite des Monitors. Houston/G, A/Grand Rapids Mi?De./Ponoma Ca und, ganz am unteren Ende, Ch KC anrufen Mo. Meine Knie begannen zu zittern. Plötzlich wusste ich, was Harley tun würde.

      Ich tippte die Worte Vermisste Kinder und warf noch einmal einen Blick auf die Karte, weit weg von Arizona. Ontario war das Erste, was ich sah, oben im Norden, in Kanada. An Ontario in Kalifornien konnte ich mich noch erinnern. Vor zwei Jahren hatten Harley und ich dort eine Versicherungsgesellschaft abgezogen und eine Menge Geld verdient. Ich hatte eine Woche lang einen von diesen weißen, gepolsterten Kragen um den Hals tragen müssen, aber Harley hatte gesagt, es hätte sich mehr als nur gelohnt. Vielleicht würde mir Ontario in Kanada auch Glück bringen. Ich tippte die Buchstaben und drückte auf die Eingabetaste.

      Aus dem Empfangsbereich waren Stimmen zu hören. Die ganze Zeit, in der ich im Internet war, hatte ich Angst, dass jemand hereinkam, um nach mir zu sehen. Aber es kam niemand und nach einer halben Stunde hatte ich drei mögliche Kandidaten. Ich entschied mich für den Jungen, der am längsten vermisst wurde, drei Jahre. Damals war er zwölf gewesen. Wo war ich mit zwölf gewesen? Ich wollte mich nicht daran erinnern. Stattdessen lernte ich alles über den Jungen auswendig. Ich bin gut im Auswendiglernen, dafür hat Harley gesorgt. Bei unseren Fahrten haben wir immer Gedächtnisspiele gespielt.

      Dann suchte ich noch nach ein paar Satellitenbildern von der Gegend, aus der der Junge kam, und merkte mir auch die. Ich wusste nicht, ob es oben in Kanada einen komischen Akzent oder eine andere Sprache gab. Es spielte keine Rolle. Ich musste nur alle lange genug verwirren, um von hier wegzukommen. Ich klickte mich durch die Fenster zurück und schloss sie, dann löschte ich den Browserverlauf und stand auf. Während ich darauf wartete, dass der Bildschirm schwarz wurde, steckte ich die Visitenkarten zurück in die Tasche. Namen konnte man immer gebrauchen.

      Der Monitor schaltete sich aus. Harley war nicht mehr da. Ich war allein. Ich verließ das Büro und ging in den Empfangsbereich. Josh hing lässig auf einem Stuhl, in der Hand einen großen Pappbecher von Starbucks, und lachte über etwas, während er sich mit zwei Mädchen unterhielt, die wie Punkerinnen aussahen. Er drehte sich um und bemerkte mich.

      Ich wartete einen Herzschlag lang. Dann sagte ich: »Ich heiße Danny.«

      »Wir reden später weiter«, sagte Josh zu den Mädchen. Er stand auf und warf