Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach

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zu verstehen, und bedienten sich gerade deshalb in seiner Gegenwart unverhohlen dieser Art der Mitteilung. So entwickelte Faolán ein geschultes Auge für Hände, die aus den weiten Ärmeln der Habite kurz hervorschauten und ein „Gespräch“ begannen. Sofort suchte er das antwortende Händepaar und wurde auf diese Weise oftmals unbemerkter Zeuge einer stummen Unterredung, bei der er vieles über die Mönche und Novizen erfuhr: Eigenarten und Vorlieben, welche Verhältnisse und Kräfte im Kloster herrschten und dass es auch Rivalitäten gab.

      Faolán fühlte sich nur in Gegenwart zweier Mönche wohl: Der eine war der Kellermeister und der andere Abt Degenar selbst. Und in die Nähe des Abtes gelangte der Novize öfter, als er zunächst geglaubt hatte. Das Klosteroberhaupt hatte es sich nämlich zur Aufgabe gemacht, die Novizen einzeln in seine Räumlichkeiten zu beordern und Gespräche mit ihnen zu führen. Er glaubte, auf diesem Wege die Beschaffenheit ihrer Seelen und ihres Geistes ergründen, sie auf ihre Gläubigkeit prüfen und sie dadurch zu guten Mitgliedern der Gemeinschaft heranziehen zu können. Ein wichtiger Aspekt für Degenar, dessen Novizen zum Großteil einmal das Mönchsgelübde ablegen und weiter in seiner Abtei leben würden.

      Viele der jüngeren Novizen hatten großen Respekt oder gar Angst vor diesen Gesprächen. Ältere Novizen nutzten diese Unsicherheit oft und schürten die Angst noch zusätzlich mit den schlimmsten Lügengeschichten darüber, was sich in den Gemächern des Abtes alles zutragen würde.

      Faolán hingegen hatte man darüber niemals etwas erzählt. Er galt als zu beschränkt, als dass man sich mit ihm einen Spaß hätte machen können. ‚Wer nicht einmal unter Drogos Pein weint oder bei einem Scherz nicht lacht, dem kann man auch keine Furcht vor dem Abt einflößen, sagten sie sich und ließen Faolán in Ruhe.

      Als er dann das erste Mal zum Abt gerufen wurde, begab er sich völlig unbedarft auf den Weg zum Klosteroberhaupt. Er war von diesem ersten Gespräch sehr angetan, denn es war wie ein interessanter Einzelunterricht. Faolán verstand nicht, weshalb die anderen Novizen ein solches Aufsehen um diese Gespräche machten, denn er genoss sie regelrecht.

      Jedes Mal, wenn Abt Degenar nach ihm verlangt hatte, wurde Faolán nach einem zaghaften Klopfen an die Türe der Abtsgemächer sogleich hereingebeten. Respektvoll betrat er dann die schlichte Kammer, die Degenar als Schreib- und Lehrstube diente. Geduldig wartete er, angesprochen zu werden. Es kam öfter vor, dass er recht lange warten musste, denn der Abt war immer beschäftigt und blieb in seine Gedanken und Aufgaben vertieft, bis er sie abgeschlossen hatte.

      Danach aber widmete sich der Abt ganz seinem Novizen, und es begann ein Gespräch über ein beliebiges Thema. Es war immer ein anderes, und niemals baute eine Lehrstunde auf einer vorherige auf. Das eine Mal sprachen sie über die Heilige Schrift, ein anderes Mal über Viehzucht und ein drittes Mal erkundigte sich der Abt einfach nur nach dem Wohlbefinden des Novizen. Nach jedem dieser Gespräche hatte Faolán das Gefühl, von Abt Degenar in Kürze mehr gelernt zu haben als von jedem anderen Mönch der Abtei. So konnte er es kaum erwarten, bis er wieder zu ihm gerufen wurde, denn all das neue Wissen sog Faolán durstig auf, wie trockene Erde einen Regenguss.

      Drogo hingegen war das genaue Gegenteil von Faolán. Er war im Unterricht selten aufmerksam, brach oft das Schweigegebot und zeigte keinen Respekt gegenüber Älteren. Wenn er im Unterricht gefragt wurde, antwortete er entweder falsch oder gar nicht. In dieser Hinsicht war er keine Ausnahme. Die meisten Novizen hatten Schwierigkeiten, das Gelehrte zu behalten oder gar anzuwenden. Auch dabei erwies sich Drogo als eine Art Anführer, denn im Unwissen überbot er alle Novizen um ein gutes Maß. Allein das Lesen einer Bibelstelle war ein Graus für jedermanns Ohren und Geist, so stockend und falsch kam ihm das Griechisch oder Latein über die Lippen. Faolán konnte an Drogos ratloser Miene erkennen, dass der nichts von dem begriff, was er da las.

      Die Leichtigkeit, mit der Faolán die Lehren verstand, entging auch Bruder Ivo und Abt Degenar nicht. Aus diesem Grund ernannten sie ihn schon nach kurzer Zeit offiziell zum Gehilfen des Cellerars. Zunächst bedeutete dies jede Menge neuer Pflichten, die alle ein hohes Maß an Konzentration von ihm abverlangten.

      Faolán fühlte sich anfangs den neuen Anforderungen des Kellermeisters nicht gewachsen. Die Furcht, den Erwartungen des Mönches nicht gerecht zu werden, bereitete ihm sogar viele unruhige Nächte. Doch nach anfänglichen Schwierigkeiten entwickelte er zunehmend Geschick für diese Aufgabe. Bruder Ivo war stets an seiner Seite und erklärte Abläufe mehrfach, wenn Faolán die komplexen Zusammenhänge nicht gleich begriffen hatte.

      Nachdem er seine Begabung unter Beweis gestellt, und die Anerkennung des Cellerars hatte, wurde er immer selbstbewusster in seinem Amt. Bruder Ivo registrierte es zufrieden und weitete das Tätigkeitsfeld seines Gehilfen langsam aus. Somit befand Faolán sich viele Stunden am Tag in der Gegenwart des Kellermeisters. Obwohl das für ihn viel Arbeit bedeutete, bot es doch zugleich Sicherheit vor Drogo. Nun begann für Faolán eine Zeit der Ruhe, in der er aufatmen konnte, statt immer um sich schauen zu müssen, ob Drogo ihm auflauerte.

      Einzig an den Markttagen war es anders. Faoláns Ansicht nach gab es derer viel zu viele. Das Kloster stellte zwar viele Dinge des täglichen Bedarfs selbst her und die umliegenden Bauern entrichteten regelmäßig ihre Abgaben, dennoch mussten einige Waren außerhalb erworben werden. Das eigentliche Problem an diesen Tagen war natürlich nicht der Markt selbst, sondern vielmehr die Abwesenheit des Cellerars. Sein Gehilfe durfte nicht mit ihm fahren, sondern blieb ohne den Schutz des Meisters im Kloster. An diesen Tagen fand Drogo verstärkt Gelegenheiten, Faolán abzupassen. Der konnte sich dann nicht mehr, wie Drogo es gehässig ausdrückte, unter dem Habit des dicken Mönches verstecken.

      Die Markttage schienen für Faolán daher ungewöhnlich lang zu sein und in Drogos derbem Spiel war er weniger erfolgreich als an gewöhnlichen Tagen. Faolán musste ständig auf der Hut und seinen Häschern immer einen oder zwei Schritte voraus sein, um ihnen entgehen zu können.

      Es war an einem dieser langen Markttage, als Faolán über das Klostergelände streifte. Die Mönche waren zu einer außerordentlichen Kapitelsitzung einberufen worden und es schien, als hätten sie die Novizen darüber völlig vergessen. Niemand war mit ihrer Beaufsichtigung oder Unterrichtung betraut worden. Niemand hatte ihnen Arbeit auferlegt, weshalb die meisten der Knaben müßig gingen. Da kein Mönch in der Nähe war, musste sich Faolán bis zur nächsten Andacht in Sicherheit bringen und für Drogo unauffindbar sein.

      Trotz der unübersichtlichen Größe der Klosteranlage, kannte Faolán sich inzwischen sehr gut aus. Als Neuling lief man Gefahr, sich zu verirren. Er hatte sich allerdings schnell einen Überblick verschaffen können und sich den systematischen Aufbau des Klosters schon nach wenigen Wochen eingeprägt. Die Gebäudeanordnung war ihm klar wie ein gemaltes Bild aus der Sicht eines Vogels.

      Das Kloster glich einer kleinen Stadt, die von einer mannshohen Mauer und abgrenzenden Gebäuden umgeben und nur durch ein Tor erreichbar war. Wie eine urbare Insel lag es mitten im dichten Wald. Die Mauer war in dieser Einsamkeit nicht nur ein Schutz gegen räuberische Übergriffe, sondern vor allem gegen die weltlichen Versuchungen außerhalb des heiligen Bezirks.

      In der Mitte der Anlage erhob sich das größte Bauwerk, die Klosterkirche, die sogar die Baumwipfel des Waldes überragte. Zugang erhielt man vom Klosterhof durch die sogenannte große Himmelspforte, oder durch eine Seitentür, die vom Kreuzgang aus erreicht werden konnte. Dieser grenzte an die nördliche Fassade, war allerdings den Mönchen vorbehalten. Mit dem Hauptportal im Westen, erstreckte sich die dreischiffige Kirche nach Osten, wo der Altarraum und die Apsis lagen. Der Haupteingang der Kirche wurde von zwei hohen, im Grundriss quadratischen Türmen flankiert, die Erhabenheit und Macht ausstrahlten.

      Die Himmelspforte wurde nur an Sonn- und Feiertagen genutzt, wenn zu besonderen Anlässen Prozessionen einen imposanten Einzug erforderlich machten. Sonst verwendete die Gemeinschaft die Tür vom Kreuzgang her. Mit seinen umlaufenden Arkaden und dem Brunnen in der Mitte des kleinen Gartens, war diese offene Halle ein Ort der Stille und der Besinnung.

      Vom Kreuzgang aus erschlossen sich viele weitere Bereiche des Klosters, unter anderem das großzügige Refektorium, die Küche der Mönche und das Skriptorium mit der darüber liegenden Bibliothek. Zu der blieb Faolán der Zutritt noch verwehrt, denn die Bücher und alle Schreibmaterialien waren viel zu kostbar, als dass man sie in Kinderhände