Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach

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dass Faolán vor Rurik stand?

      Inzwischen hatte Drogo sich aufgerappelt, machte ein paar Schritte auf Faolán zu und blieb vor ihm stehen, staubig von Kopf bis Fuß. Mit verächtlichem Blick musterte er den fremden Jungen.

      Prior Walram war noch immer damit beschäftigt, sein Habit wieder in einen einigermaßen sauberen Zustand zu bringen. Erst jetzt, als Drogo direkt vor Faolán stand, begriff er, was sich vor seinen Augen abspielte. Wie vom Blitz getroffen hielt er in seiner Bewegung inne und sein Blick suchte Rurik, als müsse er ihm etwas Dringendes mitteilen. Der Krieger hatte jedoch nur Augen für seinen Sohn.

      Obwohl Drogo und Faolán nahezu gleichaltrig waren, unterschieden sie sich gänzlich in ihrer Statur. Wie sein Vater, besaß Drogo deutlich breitere Schultern als sein Gegenüber und überragte Faolán um einen halben Kopf.

      Ein zaghaftes Lächeln zeigte sich auf Faoláns Lippen, als freue er sich, diesen Jungen zu sehen.

      Degenar blieb beinahe das Herz stehen. Er wusste nicht, ob das Lächeln bedeutete, dass Faolán seinen Vetter erkannt hatte.

      Es gab keine Worte des Grußes, die Kinder schauten einander nur an. Drogos Augen wurden schmal. Er schien das Lächeln falsch zu interpretieren. Vielleicht suchte er auch nur einen Grund, um seine Wut an jemanden auslassen zu können. Deshalb klangen seine Worte herausfordernd und verächtlich zugleich: „Lachst du mich aus oder grinst du immer wie ein Dämlack?“

      Augenblicklich erstarb Faoláns Lächeln und ein unsicherer, fragender Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit.

      „Willst du mir nicht antworten oder bist du zu dumm dazu?“, provozierte Drogo erneut.

      Wiederum gab Faolán keine Antwort. Degenar beobachtete ihn genau. Der Junge hatte während seiner wenigen Tage im Kloster noch kein einziges Wort gesprochen! Zu tief saß wohl der Schrecken der jüngsten Geschehnisse in seinem Herzen. Hoffentlich würde Faolán sein Schweigen nicht ausgerechnet jetzt wegen eines simplen Streites mit einem fremden Jungen brechen.

      „Wen glaubst du denn vor dir zu haben, du Dämlack?“, reizte Drogo sein Gegenüber weiter. „Warte nur, ich werde dir das Grinsen schon noch austreiben!“

      Blitzschnell fuhr Drogos rechte Faust mit voller Wucht in Faoláns Magengrube. Der sackte zusammen und fiel nach Luft ringend zu Boden. Drogo setzte mit dem Fuß nach und traf die gleiche Stelle erneut. Der Schmerz war zu groß, als dass Faolán hätte weinen oder einen Schrei von sich geben können. Lediglich ein leises Stöhnen war zu hören, als er sich schützend zusammenrollte.

      „Hat es dir etwa die Sprache verschlagen? Wo ist denn dein dämliches Grinsen?“, höhnte Drogo, der jetzt selbst ein breites Lächeln zeigte.

      Die Mönche blickten entsetzt auf die beiden Jungen. Sie waren derartige Handgreiflichkeiten nicht gewohnt. Nach einem Augenblick der Starre reagierte Ivo als Erster. Trotz seiner Massigkeit sprang er behänd nach vorne, ergriff mit einer ihm nicht zuzutrauenden Schnelligkeit Drogos Arm und verhinderte dadurch ein erneutes Zutreten. Kräftig zog er den Jungen zur Seite, der dabei beinahe zu Boden ging. Drogo versuchte zwar erneut auf Faolán loszugehen, doch Bruder Ivo war kräftiger als Prior Walram. Für ihn war es kein Problem, dem wütenden Knaben Einhalt zu gebieten. Der Mönch musste seinen Griff um Drogos Handgelenk lediglich etwas verstärken, um den Jungen zur Besinnung zu bringen. Mit einem Fingerzeig wies er Drogo die Richtung ins Noviziat. Wortlos folgte der Knabe dem Kellermeister. Ohne weiteren Widerstand ergab er sich stillschweigend seinem Schicksal.

      Die Unruhe auf dem Hof hatte sich endlich gelegt. Der ältere Novize hatte sich über Faolán gebeugt und kümmerte sich um ihn. Mit Erleichterung stellte Degenar fest, dass der Junge schnell wieder auf die Beine kam und gehen konnte, wenn auch von Schmerzen gekrümmt.

      Beruhigt wandte sich der Abt jetzt Rurik zu, der sich inzwischen sein Pferd hatte bringen lassen. Auf seinem Gesicht war Zufriedenheit abzulesen, als sei er mit dem Auftreten seines Sohnes einverstanden.

      Entschlossen schritt Degenar auf den Sachwalter zu, bevor das muskulöse Schlachtross davontraben konnte, und hielt es an den lose herabhängenden Zügeln fest. Er wusste, dass er Rurik gegenüber erneut viel zu waghalsig auftrat und einiges riskierte. Doch er konnte ihn unmöglich ohne ein abschließendes Wort davonreiten lassen.

      Rurik blickte den Abt streng an, der sein Pferd nicht freigeben wollte. Obwohl Degenar den Krieger ansprach, so waren seine Worte auch an dessen entfernt wartende Gemahlin gerichtet: „Disziplin, Respekt und Ehrfurcht! Ihr könnt Euch sicher sein, dass wir dies Drogo beibringen werden. Doch ob er es jemals begreifen wird, liegt nicht in unserer Hand. Es gibt Dinge im Blut eines Menschen, die sich nicht von außen beeinflussen lassen, so sehr sich einer auch dazu berufen fühlt. In manch anderen Menschen hingegen schlummert eine Wahrheit, die von außen nicht erkennbar ist. Und dann gibt es Tage, da rächt sich das eigene Blut der verwerflichen Taten vergangener Zeiten! Möge der Herr jenen beistehen, die übel gehandelt haben!“

      Degenar wusste nicht, was in ihn gefahren war, diese waghalsige Anspielung auszusprechen. Er konnte an Walrams Anspannung spüren, dass der die Bedeutung seiner Worte verstanden hatte. Ruriks Blick hingegen ließ Degenar in völliger Ungewissheit, ob er begriffen hatte. Bevor der Abt noch ein Unheil durch weitere unüberlegte Drohungen anrichten konnte, ließ er die Zügel los, schlug dem Pferd kräftig auf den Hals, dass es seitlich auswich und die ersten Schritte auf das Tor zu machte. Der Sachwalter ließ sein Pferd laufen und ignorierte Degenars Worte. Auf sein Zeichen setzte sich der Tross in Bewegung und Rurik führte sein Gefolge aus dem Klosterhof.

      Mit schwelender Wut schritt Degenar jetzt auf Walram zu, der Rurik entgeistert nachschaute, als wolle er ihm noch etwas Wichtiges mitteilen. Der Abt konnte sich denken, um was es sich handelte. Unter dem Lärm des ausziehenden Gefolges sprach er so zu Walram, dass nur der seine Worte vernehmen konnte.

      „Das alles habt allein Ihr zu verantworten, ehrwürdiger Prior. Ihr dürft Euch deshalb ganz besonders um Drogo kümmern. Schließlich wart Ihr doch so darauf aus, dieses Abkommen zu besiegeln. Hoffentlich wurde das Kloster dabei nicht übervorteilt!“ Beinahe verächtlich drückte er Walram die Urkunde in die Hand und fuhr fort: „Ich erwarte, dass dieser Junge sich zu beherrschen lernt. Falls nicht, so wird Drogo das gleiche Strafmaß wie jeder andere Novize erfahren, ganz gleich wessen Sohn er ist. Solltet Ihr dieser Aufgabe nicht gerecht werden, so werde ich auch Euch gegenüber keine Nachsicht walten lassen. Habt Ihr mich verstanden?“

      Walram starrte noch immer dem Staub aufwirbelnden Tross nach und wirkte, als habe er den Abt nicht vernommen.

      „Habt Ihr mich verstanden, Prior?“ fragte Degenar erneut, aber mit mehr Nachdruck.

      Erst jetzt reagierte Walram, wie einem Traum entrissen. „Ja … ja, gewiss doch.“

      „Dann wisst Ihr auch, was zu tun ist!“

      Degenars letzte Worte klangen, als wolle er dem Prior eine schwere Last vor die Füße werfen, die man ihm selbst auferlegt hatte. Er hatte den grobschlächtigen Jungen nicht in das Kloster aufnehmen wollen. Sollte sich doch Walram darum kümmern, in all seinem Eifer.

      Der Abt machte kehrt, um sich in seine Räumlichkeiten zurückzuziehen. Dabei schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, der ihm bis dahin fremd gewesen war: Wenn der Sohn des Sachwalters, des möglicherweise bald neuen Grafen, in seinem Kloster untergebracht war, würde dies sicherlich Ruriks verstärkte Aufmerksamkeit zur Folge haben! Erneut überkam ihn eine Welle der Wut. Um ihren Ausbruch zu verhindern, eilte er in seine Gemächer, um dort die notwendige Ruhe im Gebet zu finden.

      Walram befand sich als einziger noch auf dem Hof, nachdem der Tross ihn längst verlassen hatte. Er wirkte verloren und unsicher, als stelle er seine Bestrebungen in Frage, den jungen Drogo als Novizen aufzunehmen. War es tatsächlich so klug gewesen und wird es so vorteilhaft sein, wie er es sich erhoffte? Doch die Zweifel waren nur von kurzer Dauer, dann schüttelte er den Kopf, um einen klaren Verstand zu bekommen. Es gab einiges zu tun, schließlich bedurften zwei neue Novizen seiner ganz besonderen Aufmerksamkeit!

      Anno 956 – Freundschaften

      Es dauerte nicht lange und der Klosteralltag vereinnahmte Faolán voll und ganz.