Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach

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Drogos Aufnahme als Novize war zwar auf Pergament besiegelt, doch die offizielle Handlung, die Übergabe des Kindes in die Obhut des Klosters, verbunden mit der Überreichung der Urkunde, war noch nicht vollzogen worden. Erst ab der Übergabe war es die Aufgabe der Gemeinschaft, sich des Schützlings anzunehmen. So suchte Degenar nach den Personen, die sich noch um den Knaben kümmern mussten. Er fand Rurik in einiger Entfernung, der seinen Männern gerade Befehle erteilte, um die Abreise zu beschleunigen.

      Kurz darauf ging er auf seinen Sohn zu, nahm ihn bei den Schultern und führte ihn bis auf wenige Schritte vor die drei Mönche. Fast alle Männer des Gefolges hatten ihre Reittiere oder Karren bestiegen und das Fußvolk stand ebenfalls bereit. Eine merkwürdige Stille trat ein.

      Drogo stand zwischen Degenar und Rurik, dessen eine Hand schwer auf der Schulter des Jungen ruhte. In der anderen Hand hielt er ein gefaltetes und mit Wachs versiegeltes Pergament: die Schenkungsurkunde.

      Erwartungsvoll blickte Drogo in die Augen des Abtes. Er hatte keine Ahnung, weshalb er hier stand und wirkte unsicher. Dann ergriff Rurik das Wort, über den Kopf des Kindes hinweg, und richtete es an das Klosteroberhaupt: „Ehrwürdiger Abt, es ist an der Zeit, Euch des Jungen anzunehmen, wie es vereinbart und besiegelt wurde.“

      „Nichts anderes liegt in meiner Absicht“, bestätigte Degenar mit sanfter Stimme. „Schließlich war dies doch das einzige Bestreben Eures Aufenthaltes.“

      Rurik brummte etwas vor sich hin, als überlege er, ob die Antwort des Abtes wieder als Stichelei zu werten war, hielt sich jedoch zurück. Seine Stimme blieb beherrscht und höflich.

      „Dann nehmt ihn jetzt in Eure Obhut und sorgt für ihn, wie es Eure Ordensregeln vorschreiben.“

      Seine große Hand löste sich von der Schulter des Sohnes und gab ihn mit einem kleinen Schubs nach vorne frei. Rurik folgte ihm, überreichte dem Abt die Urkunde und trat dann einige Schritte zurück. Der Knabe blieb allein vor dem Abt stehen, verstand aber nicht recht, weshalb sein Vater nicht mehr hinter ihm stand. Er hatte Ruriks Worten keine Beachtung geschenkt und schaute nun fragend und hilflos drein.

      Sofort schritt Prior Walram ein. Er ging an Degenar vorbei und mit ausgestreckter Hand dem Kind entgegen. Die plötzliche Bewegung des dunkel gekleideten Mönches verwirrte Drogo allerdings und er suchte mit einem verzweifelten Blick über die Schultern nach einer Erklärung im Gesicht seines Vaters. Was er dort sah, gefiel ihm ganz und gar nicht: Ruriks Miene war versteinert und teilnahmslos.

      Der Knabe drehte sich deshalb nach seiner Mutter um. Wulfhild, die auf ihrem Pferd saß und in einiger Entfernung auf die Abreise wartete, erwiderte zwar den Blick ihres Sohnes, doch in ihren Augen gab es außer Kälte nichts für ihn zu lesen. Verwirrt suchte Drogo weiter nach einer Antwort und erblickte sein gesatteltes Pony. Langsam fügten sich ihm die Bilder zusammen und sein Gesichtsausdruck wandelte sich allmählich von überrascht zu angsterfüllt. Er hatte begriffen! Langsam begann er den Kopf zu schütteln, als wolle er der Trennung mit Ungläubigkeit und Leugnen begegnen.

      Ein Funke Hoffnung blitzte noch einmal in Drogos Gesicht auf, als Rurik dem Prior zuvorkam und sich zu seinem Sohn beugte. Doch statt ihn, wie erhofft, zu sich zu nehmen, entwendeten die mächtigen Vaterhände das Holzschwert des Sohnes. Rurik mied dabei jeglichen Blickkontakt und sah die Tränen des Jungen nicht, die langsam die Wangen herabliefen.

      Das erste „Nein“ kam nur geflüstert über Drogos Lippen, von Tränen erstickt. Das zweite „NEIN!“ schrie er mit Protest in den stillen Hof, dass es von den Wänden der Klostergebäude widerhallte. In einem letzten Aufbäumen versuchte Drogo in all seiner Verzweiflung davonzulaufen. Doch sein Vater war darauf vorbereitet. Zwei starke Arme verhinderten jegliches Entkommen, so sehr sich der zukünftige Novize auch dagegen wehrte.

      Von diesem Augenblick an ließ Drogo seinen Gefühlen freien Lauf. Sein flehender Blick wanderte von Vater zu Mutter und wieder zurück. Als ihn die Arme seines Vaters dennoch nicht freigeben wollten, begann er noch verzweifelter dagegen anzukämpfen, doch die Hiebe seiner kleinen Fäuste waren für den in Leder gehüllten Krieger ohne Wirkung.

      Jetzt trat Prior Walram an den Jungen heran. Er versuchte, eine der wild schlagenden Hände zu fassen, doch sie entwischten ihm immer wieder. Drogo hatte nicht die Absicht, sich freiwillig in die Obhut der Mönche zu begeben. Mit großem Aufwand gelang es Walram schließlich, beide Handgelenke des Jungen zu fassen und festzuhalten. Er hatte sichtlich Mühe, sie nicht wieder zu verlieren. Mit all seiner Kraft richtete Drogo jetzt seine Wut gegen den fremden Ordensbruder.

      Für Rurik war die Angelegenheit, sein Kind dem Kloster zu übergeben, damit beendet. Er öffnete seine Arme, ließ den Jungen los und entfernte sich ein paar Schritte. Für Drogo hingegen war noch nichts entschieden. Sein Zorn wurde durch den Rückzug des Vaters zusätzlich geschürt. Er begann, noch wilder zu zerren und zu schreien, versuchte Walram mit Tritten zu traktieren und landete dabei so manchen schmerzhaften Treffer. Der Prior festigte seinen Griff um die Handgelenke nachhaltig, weshalb sich Drogo aus Leibeskräften hin und her zu werfen begann. Er wollte dem Mönch um keinen Preis gehorchen.

      Degenar bemerkte, dass er den Anblick des ringenden Priors genoss. Wie sehr sich Walram doch abmühen musste, sein heimliches Abkommen in die Tat umzusetzen.

      Drogo erkannte schließlich die Ausweglosigkeit seiner verzweifelten Versuche und ließ sich auf einmal wie ein nasser Sack auf den staubigen Erdboden fallen, schluchzend und flehend. Seine Worte, von Tränen und Rotz erstickt, waren kaum zu verstehen, doch es schien, als verhandle er um sein Leben wie ein Verurteilter.

      Degenar wollte nicht länger untätig bleiben. Er drehte sich zur Seite und suchte nach einem Ausweg aus dieser unmöglichen Situation, als er im gleichen Moment einen älteren Novizen mit einem kleinen Jungen an der Hand das entfernte Ende des Hofes betreten sah. Sofort erkannte er, dass der kleine Junge Faolán war.

      Dem Abt blieb beinahe das Herz stehen. All die Anstrengungen, den Jungen von Rurik fernzuhalten, wurden durch das leichtfertige Handeln eines Novizen zunichte gemacht. Degenar schalt sich leise einen Narren. Wieso war er nur ein solches Risiko eingegangen und hatte den Jungen nicht bis nach der Abreise Ruriks eingesperrt?

      Sein gesamter Körper spannte sich an. Ein leises Aufstöhnen zu seiner Rechten verriet ihm, dass Ivo die Novizen ebenfalls bemerkt hatte. Beide hofften, dass Walram sich weiter mit Drogo beschäftigte, so dass er Faolán nicht bemerken würde. Vielleicht würde der ältere Novize mit Faolán den Platz unbemerkt wieder verlassen. Doch statt eines der nächsten Gebäude zu betreten, schlugen die beiden Novizen genau den Weg quer über den Hof ein, der sie unmittelbar an der kleinen Gruppe um den ringenden Drogo vorbeiführen würde.

      Degenar schloss die Augen und richtete ein Stoßgebet gen Himmel. Ihm blieb jetzt nur noch die Hoffnung, dass Rurik den jungen Novizen nicht als seinen Neffen erkennen würde. Seine weitere Sorge galt Walram, der Rurik darauf aufmerksam machen könnte, wer dieser Junge seiner Vermutung nach war.

      Degenars Herz schlug rasend bis zum Halse und es wollte ihm beinahe stehen bleiben, als Faolán sogar für einen kurzen Moment direkt in das Gesicht des mächtigen Kriegers schaute. Doch obwohl sich ihre Blicke trafen und Rurik einen Augenblick zögerte, schien er den Sohn seines Bruders nicht zu erkennen. Er widmete sich ohne Regung wieder seinem eigenen Jungen und dessen Ringen mit Prior Walram.

      Der Abt konnte sein Glück kaum fassen. Erleichtert dankte er still dem Herrn, dass er den Krieger mit Blindheit geschlagen hatte. Sogleich begann Degenar sich ebenfalls um Drogo zu bemühen, damit seine Untätigkeit und seine Blicke auf Faolán ihn nicht verraten würden.

      Als sich die beiden Novizen in unmittelbarer Nähe befanden, nur wenige Ellen von Degenar entfernt, hielt Drogo plötzlich inne. Im Dreck liegend blickte er überrascht zu Faolán auf. Schweigen legte sich über den Platz. Vielleicht hegte Drogo die Hoffnung, der gleichaltrige Junge sei gekommen, um ihm zu helfen.

      Faolán blieb tatsächlich auch stehen und betrachtete den Knaben. Der ältere Novize ließ ihn gewähren, wohl weil er nicht sicher war, ober er den jüngeren vor dem Abt mit harschen Worten vorantreiben sollte oder nicht.

      Walram gewann wieder an Fassung, richtete sich auf und begann sachte den Staub von seiner Robe zu klopfen.