Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach

Читать онлайн.



Скачать книгу

ausgerechnet in unsere Obhut?“

      Wulfhild legte wütend den Löffel beiseite. Der Abt vermochte nicht zu sagen, ob es seine Forschheit oder die Frage selbst war, die sie so in Rage brachte. Es war ihm auch gleich. Ihn interessierte nur der Grund für ihren Entschluss. Sollte Wulfhild klare Pläne mit ihrem Sprössling haben, so zögerte sie jetzt, diese preiszugeben und starrte stattdessen wortlos auf ihren Teller. Endlich schien sie die passenden Worte gefunden zu haben:

      „Es gibt mehrere Ziele für die Erziehung meines Kindes, die Euch am Herzen liegen sollten. Wenn Ihr sie beachtet, lauft Ihr keine Gefahr, meine Erwartungen zu enttäuschen. Allem voran sind es Schreiben, Lesen und die Arithmetik. Ihr wisst selbst allzu gut, welche Macht die Schrift ausüben kann. Oder liege ich hier falsch, ehrwürdiger Abt?“

      „Gewiss nicht. Doch für die Lehre der Schrift und die Grundzüge der Arithmetik hätte Euch jeder andere Priester ausreichende Dienste leisten können. Er hätte Drogo auf der Burg herangezogen und die Aufwendungen hierfür wären erheblich geringer gewesen als das, was Ihr jetzt aufbringt.“

      „Möglicherweise habt Ihr Recht. Doch hier geht es um mehr.“

      „Um was geht es Euch denn?“, wollte Degenar sofort wissen.

      „Disziplin, Respekt und Ehrfurcht! Und die Fähigkeit, seinen Verstand an der richtigen Stelle zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass er letzteres in seinem bisherigen Umfeld erlernen würde.“

      Diese Bemerkung fiel in einem Ton unverkennbarer Verachtung. Rurik blickte seine Gemahlin erzürnt an, und Degenar wurde klar, dass dieser Disput nicht zum ersten Mal geführt wurde. Schnell versuchte er einzuschreiten.

      „Für die ersten drei Punkte kann ich Euch versichern, dass gerade dies im Interesse unserer Gemeinschaft liegt. Doch der Einsatz des Verstandes liegt nicht in unserer Hand. Seinen eigenen Verstand einzusetzen bedeutet vor allem, dass man dazu auch bereit ist und, was viel entscheidender ist, dass der Verstand auch vorhanden ist!“

      Die Klarstellung hatte ihr Ziel präzise getroffen und Wulfhild errötete vor Zorn. Alle Anwesenden schwiegen, und für einen Augenblick herrschte absolute Stille. Wulfhild brachte offensichtlich all ihre Kräfte auf, um Haltung zu wahren. Es schien ihr zu gelingen, denn trotz ihrer Wut klang ihre Stimme ruhig, wenn auch tonlos und unterkühlt. „Ihr werdet genügend Zeit haben, ehrwürdiger Abt, seine Fähigkeiten zu erkennen, auch über die Zeit in Eurem kleinen Kloster hinaus! Vergesst nicht, wessen Erbe er ist!“

      Degenar blickte auf den angehenden Novizen neben seiner Mutter, über den hier so offen debattiert wurde. Offensichtlich schien Drogo nicht zu begreifen, um was oder wen es hier ging. Das war alles andere als ein Zeichen von wachem Verstand. Im Gegenteil, Drogo saß gelangweilt da und spielte lustlos mit seinem Löffel in den Essensresten auf seinem Teller.

      Plötzlich verspürte Degenar Mitleid mit dem Knaben. Seine Worte kamen bitter und zynisch über die Lippen. „Ist dem Jungen klar gemacht worden, was ihn hier erwartet? Ist ihm bewusst, dass er über viele Jahre in diesem Kloster leben wird, in Demut, Armut und Enthaltsamkeit?“

      An Wulfhilds Mimik konnte Degenar erkennen, dass er einen weiteren Treffer erzielt hatte. Offen bekannte sie: „Ich habe Euch bereits erklärt, dass es hier nicht um Erkenntnisse geht!“

      „Um was geht es Euch dann? Wollt Ihr den Knaben nur von Eurer Seite wissen? Oder steckt noch etwas anderes dahinter?“

      Rage stand deutlich in Wulfhilds Gesicht geschrieben. Nur mit größter Mühe behielt sie die Kontrolle über ihre Stimme. In ihrem Zorn erhob sie sich und stützte sich mit den Fäusten auf der Tafel ab. „Glaubt Ihr etwa, dass ich noch Zeit für ein Kind haben werde, wenn ich eine Burg und ein Gut mitsamt Gesinde zu leiten habe? Das bedeutet eine Unmenge an Aufgaben, die erledigt werden müssen, Tag für Tag. Wie stellt Ihr Euch das vor? Wie soll man eine Grafschaft verwalten, wenn einem ständig ein Balg am Rockzipfel hängt?“

      Wulfhild verstummte schlagartig und es herrschte wieder Stille im Saal. Ob Mönch oder Krieger, die meisten Anwesenden hielten die Köpfe eingezogen. Degenar hielt Wulfhilds Blick stand. Der Satz, der ihm auf der Zunge lag, dass doch für diese Pflichten ihr Gatte zuständig sei, wurde überflüssig. Rurik erhob sich nämlich gerade und sein Blick drückte genau diese Zuständigkeit aus. Beschämt senkte Wulfhild ihr Antlitz und wurde sich ihres Fehlers gewahr. Der mächtige Krieger musste gegen diese Kritik an seiner Person etwas unternehmen, wollte er sein Gesicht wahren! Doch statt laut zu werden und seine Gattin anzufahren, war nur dieser scharfe Blick notwendig, um sie in ihre Grenzen zu verweisen. Wulfhild zeigte sich reumütig und verhielt sich ruhig, doch Degenar bezweifelte, dass diese Haltung ehrlich war. Um Schlimmeres zu verhindern, richtete sie sich auf und verließ mit einer gemurmelten Entschuldigung die Tafel.

      Erst jetzt, als seine gewaltige Mutter von seiner Seite wich, bemerkte Drogo, dass etwas Außergewöhnliches im Gange war. Man hätte den Eindruck gewinnen können, der Junge sei diese Art von Auseinandersetzung gewohnt. Mit aufgerissenen Augen sah der Junge seiner Mutter nach.

      Dann ließ er den hölzernen Löffel fallen und lief ihr schreiend nach.

      Degenar hielt derweil seinen Blick fest auf Rurik gerichtet. Das Gesicht des Kriegers sprach Bände, und es hätte den Abt nicht verwundert, wenn Rurik ein leises Grollen aus seiner Kehle hätte ertönen lassen. Der Verwalter der Grafschaft glich einem Wolf, der soeben sein Revier erfolgreich behauptet, und dessen Rivale, seltsamerweise die eigene Gemahlin, das Feld geräumt hatte.

      Es dauerte eine ganze Weile bis die Normalität ins Refektorium zurückkehrte. Als das Klosteroberhaupt wieder zu speisen begann, folgten die Brüder seinem Vorbild und die Lage entspannte sich. Doch der Abend blieb von diesem Zwischenfall geprägt.

      Wulfhilds Entgleisung hinterließ bei Degenar einen nachhaltigen Eindruck. Dieser Frau ging es um Macht, um nichts anderes! Im Bemühen, als Gemahlin die vor kurzem erhaltene Macht des Sachwalters zu festigen, war Drogo, ihr eigen Fleisch und Blut, nur noch Ballast. Drogo hatte nicht die leiseste Ahnung von dem, was ihn am morgigen Tage erwartete, geschweige denn, wie sehr sich sein bisheriges Leben ändern sollte.

      * * *

      In der folgenden Nacht verbreiteten die Gäste Unruhe in dem sonst so streng geregelten Leben der Bruderschaft. Während das ungewöhnlich üppige Mahl manchem Mönch Schlaflosigkeit bereitete, respektierten Ruriks Männer in keiner Weise die Regeln ihrer Gastgeber. Im Gegenteil, nach dem gemeinsamen Mahl begann im Gästehaus ein zügelloses Gelage, als sei der Völlerei nicht schon genug gewesen.

      Degenar hatte es bereits befürchtet, denn Bruder Ivo informierte ihn noch im Refektorium darüber, welche Speisen und Getränke er auf Wunsch der Herrschaft ins Gästehaus hatte bringen lassen. Hinzu kam noch all das, was von Ruriks Karren abgeladen worden war. Als in den Nachtstunden die Matutin abgehalten wurde, war die lautstarke Geselligkeit sogar durch die dicken Mauern der Kirche zu hören. Gleiches wiederholte sich zur Laudes. Allein das Wissen um die baldige Abreise des Gefolges half Degenar, all die Ärgernisse durchzustehen. Spätestens zur Mittagsstunde würde wieder Ruhe in der Abtei herrschen.

      Eine neue Geschäftigkeit im Klosterhof begann bereits mit dem Morgengrauen, kurz nachdem das letzte Licht im Gästehaus erloschen war. Die Bediensteten hatten der Feier natürlich nicht beigewohnt und begannen früh, die Karren zu beladen.

      Trotz des frühen Trubels wurde es später Vormittag, bis die Pferde im Stall gesattelt und auf den Hof geführt wurden. Drogos Pony war ebenfalls dabei. Es war dem Jungen nicht gestattet, das Tier im Kloster zu halten, und für Außenstehende sah es so aus, als würde der Knabe die Abtei ebenfalls verlassen.

      Plötzlich stürmte Drogo völlig unbekümmert mit seinem Holzschwert in der Hand aus dem Gästequartier und rannte aufgeregt schreiend zwischen Menschen und Pferden einher. Offensichtlich hatte noch niemand dem Jungen mitgeteilt, dass seine Zukunft im Kloster lag. In Drogos Augen war das Spektakel der Abreise ein großes Spiel und er hegte keinen Zweifel, dass er daran teilhaben durfte.

      Ratlos schaute Degenar dem Treiben zu. Er würde dem Kinde bei dem kurz bevorstehenden Eklat nicht helfen können. Ivo und Walram standen zwar hinter ihm, doch auch sie gedachten nicht