Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach

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Familie. Er hatte bisher nicht so recht glauben können, was man sich hinter vorgehaltener Hand zuraunte: Rurik sei eigentlich mit einem Mann vermählt. Doch bei dem Anblick dieses Weibes verstand Degenar, was mit dieser Behauptung gemeint war. Wulfhild war ein Mannsweib, wie der Abt noch niemals zuvor eines gesehen hatte.

      Mutter wie Sohn herrschten die Leute mit beißendem Tonfall an. Das Gesinde vermied es, ihnen in die Augen zu blicken und suchte sich schnellstmöglich Arbeit, bevor ihnen eine zugeteilt wurde. Während Wulfhild ihre Macht durch Auftreten und Worte ausübte, verlieh der Junge seinen Befehlen mit seinem Holzschwert Nachdruck. So manche Magd erhielt von ihm einen Hieb auf das Hinterteil und sie achteten allesamt darauf, möglichst außerhalb Drogos Reichweite zu sein.

      Degenar wollte gerade in dieses Geschehen eingreifen und den Jungen maßregeln, als ein kleiner, schmächtiger Mönch mit wild fuchtelnden Armen auf ihn zugeeilt kam. Bereits von Weitem rief der Fremde Degenar immer wieder mit „ehrwürdiger Abt“ an, unterbrochen von schwerem Atmen, als wäre der Bruder den gesamten Weg von der Greifburg bis zum Kloster gelaufen.

      „Ehrwürdiger Abt, Ihr könnt Euch nicht im Entferntesten vorstellen, welcher Gottlosigkeit ich Zeuge werden musste!“, begann der Mönch unversehens und heftig schnaufend. „Es war mitten in finsterster Nacht. Nichts und niemand war vor ihnen sicher. Selbst die hohen Mauern und die schweren Tore boten keinen Schutz. Hier muss wahrlich der Leibhaftige seine Finger im Spiel gehabt haben. Eine andere Erklärung gibt es einfach nicht. Was nutzen schon all die scharfen Klingen, wenn das Böse selbst einfällt? Glaubt mir, die schwachen Mauern Eures Klosters sind mir um einiges lieber.“

      Milde lächelnd legte Degenar beruhigend seine Hände auf die Schultern des Fremden. „Vielleicht habt Ihr die Güte und helft meinem Verstand auf die Sprünge, indem Ihr mir zunächst Euren Namen mitteilt. Zudem wäre mir sehr geholfen, wenn Ihr über diese Begebenheit von Beginn an berichtet.“

      „Natürlich, ehrwürdiger Abt, verzeiht mir. Ich bin Bruder Eberhardt, ein Pilger auf der Reise nach Santiago de Compostela. Vor einigen Tagen fand ich dank des gütigen Herrn Farold Unterkunft in der hiesigen Grafenburg.“ Plötzlich wurde der Blick des Mönches starr, als er sich an Farolds Schicksal erinnerte. „Der Herr möge seiner Seele gnädig sein. Man hat ihn und seine Gemahlin brutal gemeuchelt. Hätte ich nur geahnt, was sich in dieser Nacht zutragen würde, so hätte ich ein anderes Refugium für die Nacht gesucht.“

      „Hättet Ihr diesen Überfall erahnt“, erwiderte Degenar beruhigend, „und wäret gegangen, statt ihnen beizustehen, so hättet Ihr eine schwere Sünde begangen. Durch Euer Bleiben hingegen wart Ihr in schwerster Stunde als Gottes Gesandter vor Ort.“

      Der Pilger stutzte kurz und überlegte.

      „Womöglich habt Ihr Recht.“

      Nach einer kurzen Pause wurde er geradezu euphorisch. „Ja, ganz sicher habt Ihr Recht. Doch warum hat mir Gott keine Eingebung gesandt? Weshalb war es mir nicht vergönnt, die Menschen zu warnen und zu retten? Wo bin ich fehlgegangen, dass ich dieses Unheil erleben musste?“

      Nur mit Mühe konnte Degenar seine Ungeduld gegenüber dem unsteten Mönch verbergen. Er versuchte noch einmal das Gemüt des Mannes zu beruhigen und sprach beschwichtigend auf ihn ein: „Quält Euch nicht mit solch schweren Gedanken, Bruder Eberhardt. Gottes Wege bleiben uns oftmals verschlossen. Und es wäre eine Sünde, an ihnen zu zweifeln. Doch soweit mir bekannt ist, wurde die Burg letztlich nicht eingenommen, sondern vom Bruder des Grafen gerettet. Der Herr hat also für die Seinen gesorgt. Leider wurde mir bisher über den Hergang der Dinge nichts berichtet. Vielleicht habt Ihr die Güte, mir die Geschehnisse genauer zu erläutern. Wollt Ihr mir nicht Gesellschaft leisten?“

      Erneut weiteten sich die Augen des Pilgers, so sehr fühlte er sich geehrt. „Allzu gerne, ehrwürdiger Abt. Wenn Ihr Eure kostbare Zeit für einen einfachen Wallfahrer wie mich opfern könnt, so werde ich Euch gerne alle Einzelheiten schildern.“

      Bruder Eberhardt folgte Degenars einladender Geste. Während die beiden der Menge den Rücken kehrten, begann der Pilger augenblicklich mit seinem detailreichen Bericht über den grausamen Einfall der Nordmänner auf der Greifburg.

      An vielen Stellen war die Erzählung nach Degenars Geschmack zu ausführlich, denn sie dauerte beinahe bis zur Vesperandacht. Doch der Abt lauschte den Worten geduldig. Er hoffte, einige aufschlussreiche Hinweise zu erhalten. Ärgerlich für Degenar war lediglich, dass ihm jetzt nur noch wenig Zeit vor dem unangenehmsten Teil des Tages blieb: der Speisung der Gäste im Refektorium.

      Der Cellerar war wegen dieses Mahls bereits den ganzen Tag beschäftigt gewesen, denn den Sachwalter der Grafschaft mit Gefolge zu verköstigen, war sehr aufwendig. Deshalb hatte der Abt seinen Freund nicht mehr zu Gesicht bekommen, obwohl er ihn von dem Pilgerbericht unbedingt noch vor dem Essen in Kenntnis setzen wollte.

      Erst kurz vor dem Mahl, nachdem Degenar es längst aufgegeben hatte, Ivo ausfindig zu machen, stieß er nahe dem Refektorium zufällig auf ihn. Die übrigen Mönche der Gemeinschaft fanden sich bereits im Speisesaal ein. Degenar zog seinen Freund beiseite und ergriff flüsternd das Wort:

      „Wenn man den Ausführungen dieses Pilgers Glauben schenken mag, und das tue ich zum größten Teil, dann haben tatsächlich wilde Männer die Burg überfallen. Allerdings gibt es ein paar Unstimmigkeiten und ich hege einige Zweifel, zumindest was die Identität der Angreifer angeht.“

      Ivo war überrascht. „Weshalb? Vielleicht denkt sich dieser Eberhardt etwas aus, um sich interessant zu machen. Oder er erhofft dadurch, länger als üblich bei uns beherbergt zu werden.“

      „Nein, das denke ich nicht. Richtige Widersprüche gibt es ja nicht. Eher ein paar außergewöhnliche Zufälle, die nicht so ganz in das Bild eines Überfalls passen, zumindest soweit ich es beurteilen kann. Am meisten stört mich die Tatsache, dass Nordmänner so tief im Landesinneren einen Überfall auf eine hochgelegene Burg durchgeführt haben sollen. Das entspricht nicht den Angriffen, die sie üblicherweise durchführen. In der Regel suchen sie sich ein einfaches Ziel in Flussnähe aus, fallen ein, brandschatzen und ziehen sich dann schnell wieder zurück. Aber die Burg des Grafen? Der nächste große Fluss ist zwei Tagesmärsche von der Burg entfernt, und die Feste ist alles andere als leicht einzunehmen. Zudem ist Bruder Eberhardt fest davon überzeugt, dass der Überfall nur durch die Hand des Leibhaftigen hatte ausgeführt werden können.“

      „Wie kommt er denn zu dieser Annahme?“, fragte Ivo überrascht.

      „Du kennst doch die Burg des Grafen, nicht wahr?“

      „Ja, ich habe sie schon einmal gesehen, jedoch nur aus der Ferne.“

      „Dennoch, welchen Eindruck hattest du von dieser Festung?“

      „Mein Eindruck entsprach dem, was man sich landläufig über diese Burg erzählt. Starke und hohe Mauern mit einem gut befestigten Tor, erbaut auf einem alles überragenden, beinahe uneinnehmbaren Felsen.“

      „Dein Eindruck ist richtig. Gerade deshalb wundert es mich, dass eine Handvoll Barbaren es geschafft haben soll, diese Feste zu erstürmen!“

      Ivo dachte nach und stellte schließlich die Frage, auf die Degenar hingearbeitet hatte: „Glaubst du an einen Verrat? Eine List, die die Angreifer unterstützt hat?“

      Degenar nickte. „Zumindest besteht die Möglichkeit. Allerdings gibt es dafür noch keine Beweise. Doch ebenso verwunderlich wie der Überfall selbst, ist die unverhoffte Errettung der Burg durch Rurik. Bruder Eberhardt hat auch über diese Umstände ausführlich berichtet. Nach meinem Verständnis spielen dabei zu viele glückliche Zufälle eine Rolle. Irgendetwas stimmt hier nicht und dass Rurik in jener Nacht gottgesandt war, wage ich zu bezweifeln!“

      Ivo antwortete mit unterdrückter Stimme. „Glaubst du etwa, dass Rurik …?“ Als der Cellerar begriff, welche Vermutung er da aussprach, hielt er vorsichtshalber den Atem an und schaute sich um. Als er sicher war, dass ihn außer Degenar niemand hören konnte, fuhr er flüsternd fort. „Das ist eine gewagte Theorie ohne Beweise. Zudem sind das weltliche Belange, aus denen wir uns besser raushalten sollten. Gäbe es denn für Rurik überhaupt ein Motiv?“

      „Du