Könnte schreien. Carola Clever

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Название Könnte schreien
Автор произведения Carola Clever
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347059184



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das ihre Aufgabe gewesen. Ich schämte mich für sie und ihr Versagen. Wie viele Mütter gab es wohl auf der Welt, die ihre Kinder nicht vor destruktivem, egozentrischem Verhalten schützten? Ich fühlte mich leer und ausgesaugt. In diesem Zustand rief ich die Nummer meiner Ex-Schwägerin an.

      „Hallo?“

      „Hallo, meine Liebe, ich bin es, Valentina. Mein aufrichtiges Beileid möchte ich dir wünschen.“

      „Ach, Valentina. Schön, dass wenigstens du dich meldest. Mein Kind und ich, ihr Enkelkind, dein Neffe, sind für deine Familie abgemeldet, existieren nicht mal. Dabei ist Alex fremdgegangen, nicht ich. Er hat mich verlassen, nicht ich ihn. Das ist so schreiend ungerecht“, klagte sie. „Dabei liebe ich ihn heute noch. Zu seiner Beerdigung wollen sie nicht, dass ich dabei bin. Kannst du dir das vorstellen?“

      „Es tut mir so leid. Ich verstehe da meine Eltern nicht. Es ist ja auch ihr Enkelkind. Ihr gehört doch zur Familie. Menschen können schockierend verletzend sein.“ Sprechpause. Ich hörte, wie sie leise weinte.

      „Kann ich etwas für dich tun?“, fragte ich aufrichtig.

      „Ja, kannst du. Bleib in Verbindung! Ich würde mich freuen, wieder von dir zu hören. Oder schreib eine Karte, eine Mail, einen Brief. Komm uns besuchen, wenn du mal hier bist. Was auch immer. Hauptsache, du bleibst mit uns im Kontakt.“

      Schluchzend verabschiedeten wir uns.

      Ich stand auf, öffnete die Fenster, lüftete, damit meine schweren Gedanken den Weg ins Freie fanden.

      Ich versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, plante ein Arrangement, das alle befriedigte. Aber egal, was ich mir vorstellte, nichts funktionierte. Das Telefon klingelte. Ich stürzte von der Toilette zum Telefon. Lim war dran.

      „Hallo, wir haben gute Nachrichten. Wir kommen schon in vier Tagen zurück, konnten viel regeln. Danke nochmals für deine außerordentlich großzügige Hilfe. Deshalb auch lieben Dank von unseren Familien. Wir waren eine große Stütze für sie, haben soeben das Rückflug-Ticket gekauft.“

      „Toll, freue mich.“

      „Wie geht es der Kleinen?“, fragte Sung, die sich in das Gespräch einschaltete.

      „Sehr gut. Sie hat einen ordentlichen Schuss getan. Die Kleider gehen ihr jetzt übers Knie. Sie ist ein guter Kostverwerter und hat Energie für drei. Ich züchte gerade Sumo-Ringe um ihre Taille.“

      Sung lachte erleichtert. Wir verabschiedeten uns.

      Im Bus zur Uni waren meine Gedanken über den Wolken und ich traf meine Lieben. Ich hielt ein Zwiegespräch mit ihnen, hatte tausend Fragen: Wie es da oben aussah, ob sie auf mich herunterschauten? Mich sahen und beobachteten, mich vermissten? Vielleicht Freunde oder alte Bekannte wiedersahen?

      In der Uni war ich unfähig, das Gehörte aufzunehmen. Auf der Rückfahrt im Bus fasste ich mir an die Brust. Der stechende Schmerz war unerträglich. Meine Atemnot kam in Schüben. Ich kniff mich minutenlang vorn am Nagel meines Mittelfingers. Der Druck sollte das Kribbeln im Arm vermindern. Am nächsten Morgen klingelte in aller Frühe das Telefon.

      Schlaftrunken nahm ich den Hörer ab.

      „Valentina?“ schrie jemand laut in den Hörer. „Bist du es? Grüß dich, hier ist Anita. Kennst du mich noch?“ Pause. Ich versuchte, wach zu werden. „Anita? Na klar. Entschuldige, dass ich so lange gebraucht habe, bin gerade erst wach geworden und noch nicht so ganz auf der Höhe. Hallo Anita, wie geht’s dir! Schön, dass du dich meldest.“

      „Die Freude liegt ganz bei mir. Sei bitte nicht beunruhigt, aber ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Ella hatte einen Herzinfarkt!“

      „Neeeiiin“, schrie ich in den Hörer. „Wie ist das passiert? Wo ist Martin?“

      „Mmh, das ist es ja gerade. Er ist in Österreich und kommt erst zur Beerdigung von Alexander zurück. Deine Mutter hat sich so aufgeregt, dass sie ohnmächtig geworden ist. Sie hat alles unter sich gelassen. Ich stand gerade bei euch in der Küche, als ich sie im Esszimmer habe fallen hören. Habe sofort den Krankenwagen geholt. Der hat sie in die Uniklinik auf den Venusberg gefahren. Ich war bis jetzt bei ihr. Sie liegt auf der Intensiv. Die Ärzte haben sie unter Kontrolle.“

      Ich musste mich setzen. „Wie kann er nur so rücksichtslos sein? Dieses Schwein. Was hat diese Frau, dass er sich so zu ihr hingezogen fühlt und Ella so verletzt? Nach so vielen Jahren rennt er immer noch dahin. Will Ella es nicht merken? Will sie keine Konsequenzen ziehen? Was macht sie so blind? Oder weiß sie es und hat resigniert? Weiß er, was mit Ella ist?“, sprudelte es aus mir heraus. Dann dämmerte es mir. „Großer Gott, das fällt mir gerade auf. Sie wird auf der Beerdigung von Alex nicht dabei sein können! Anita, glaubst du, dass die Ärzte sie in drei Tagen entlassen?“

      „Im Leben nicht. Außerdem liegen bis dahin nicht alle Befunde vor. Sie ist bestimmt noch zwei Tage auf der Intensiv!“

      „Albtraum.“

      „Wie?“

      „Hatte heute Nacht einen Albtraum, der jetzt wahr geworden ist!“

      „Ich kümmere mich um deine Mutter, bleib ruhig. Ich liebe deine Mutter seit vielen Jahren, aber von diesem Despoten krieg ich sie leider nicht weg.“

      „Wie soll ich das verstehen?“

      „Nun, ich war leider auch mal mit einem Despoten, so einem verkappten Adolf, verheiratet. Der körperliche und seelische Horror ging über Jahre. Dann traf ich auf Lisa und verliebte mich in sie. Sie starb vier Jahre später an Krebs. Ich zog in eure Nachbarschaft und seitdem liebe ich deine Mutter. Leider erwidert sie meine Gefühle nicht. Ich liebe sie aber trotzdem.“

      Mir blieb die Spucke weg. War ich früher blind, taub oder einfach nur ignorant? Wir verabschiedeten uns. Sie wollte mich in zwei Tagen anrufen.

      MODEL

      Früh fuhr ich ins Reisebüro. Am Nachmittag verkaufte ich wieder Perücken. Arbeit tat gut, lenkte ab vom Schmerz, hob mich auf eine andere Bewusstseinsebene und zwang mich, keine weiteren Gedanken an zu Hause zu verlieren. Ich stieg eine Station früher aus und ging schnurstracks zur Bank. Am Automaten brannten meine Pupillen regelrechte Löcher in den Auszug. Die Entscheidung war getroffen: kein Flug!

      Wie konnte das sein? Schon wieder Ebbe? Den Gürtel musste ich enger schnallen. Nur wo sollte ich ansetzen? Ich wohnte zwar kostenlos, aber den Unterhalt des Hauses musste ich zahlen, nur fair. Tierarzt, Tierfutter, Spielzeug. Lebensmittel, Strom, Wasser, Heizung, Reparaturen, Versicherungen, Rücklagen. Ich addierte die Zahlen, sah sofort, dass die Kostenseite wesentlich höher war als die Einnahmen. Ich nagte am Kugelschreiberkopf, als wenn es ein Hähnchenschlegel wäre. Shit!

      Ich sah den Bruder von Mrs. Levinson, der Besitzerin des Perückenstands, von Weitem an der Kasse. Seine Schwester hasste es, wenn er lange Finger bei den Scheinen machte. Laut ihrer Anweisung mussten wir es melden, wenn er mal wieder unangemeldet erschien und sich an den Scheinen großzügig bediente.

      „Aaah, da ist ja unsere Starverkäuferin!“, raspelte er das Süßholz klein.

      „Guten Tag!“, presste ich, ohne ihn bei seinem Namen zu nennen, angewidert hervor.

      „Ich habe schon auf Sie gewartet, möchte Ihnen nämlich ein lukratives Angebot machen.“

      Bei dem Wort lukrativ wurde ich umgehend aufmerksam und hellhörig.

      „Was kann ich für Sie tun?“, antwortete ich kühl und sachlich.

      „Nun, nicht so förmlich. Was halten Sie davon, wenn wir das Sie lassen und uns einfach duzen? Das Sie klingt so förmlich. Also, ich heiße Jakov Werner, nennen Sie mich Werner.“ Dabei streckte er mir seine Hand entgegen.

      Ich fühlte mich überrumpelt, aber spielte mit.

      „Nachdem wir so erfolgreich mit den Perücken im Markt eingeschlagen sind, wollen wir uns jetzt an Dessous wagen, denken auch an Nachtwäsche, Hausanzüge, Bademode.“ Warum kratzte er sich am Kopf, zupfte an seinem Bart? War er nervös? Die ganze Zeit beobachtete