Название | Könnte schreien |
---|---|
Автор произведения | Carola Clever |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783347059184 |
Täglich machte ich nachts Kampfansagen an meine Erinnerungen, die mich wie ein Stalker ständig bedrängten. Ich betete mir vor, dass es Schlimmeres und Besseres gab, wiederholte, dass Gut und Böse in jedem Flechtwerk einer Persönlichkeit vorhanden waren. Wahrscheinlich brauchten Menschen das Böse, um Gutes zu erkennen!
Könnte schreien!
ALEXANDER LUCKY
Ich war irgendwie total aufgekratzt. Alexander hatte seinen Besuch angekündigt. Er wollte am Flughafen ein Taxi nehmen, weil er wusste, dass ich irre lange mit Bus und Bahn unterwegs sein würde, wenn ich ihn dort abholen wollte. Das Haus war für ihn gewienert. Ich musste schmunzeln. Eigentlich hatte ich nach Ellas Kriterien die Hütte sterilisiert. Seit drei Tagen versuchte ich krampfhaft, alle Ecken von sichtbarem Staub zu befreien.
Dabei fühlte ich mich in meinem Durcheinander ziemlich wohl. Sauwohl! Seit Mrs. Clark verstorben war, verteilte ich meine Klamotten, Schuhe, Bücher, Notizen, Kosmetika im gesamten Haus. Die Küche offenbarte sich als nicht zu bändigendes Schlachtfeld. Ich produzierte Berge an Müll, der sich in Tüten vor der Ausgangstür stapelte.
Gott sei Dank kam es nur alle zwei Wochen zu diesen Putzattacken. Ich stellte dann erstaunt fest: Trotz leichter Tendenzen zur Schlampigkeit war ich putzwütig wie Ella. Kopierte ich sie oder suchte ich nach Anerkennung? Vielleicht beides?
Ich war in Eile, musste für Alexanders Besuch Essbares bei Dominion kaufen. Es war spät. Ich lief deshalb ungewohnt schwungvoll zur Eingangstür, schreckte zurück, versuchte, meinen Körper zu balancieren. Denn beinahe wäre ich über das Katzenkörbchen gefallen, das hinter mir auf dem Boden stand.
Wer ist denn so desperado und legte seinen kleinen vierbeinigen Freud hier ab? Oder hatte sich jemand in der Hausnummer geirrt? Vielleicht ein Geschenk eines Gönners an mich?
Ich rannte zu Nachbarn links und rechts von mir, klingelte bei Brigitte Nielsen, beim Qi-Gong-Guru, bei den Neuen aus New Brunswick. Keiner wusste etwas. Auch die in den gegenüberliegenden Häusern wussten nichts. Ich tackerte große Zettel an Bäume und Türen, wies den vielleicht Suchenden darauf hin, dass ich mich seiner haarigen Freude vorrübergehend angenommen hatte, schrieb meine Telefonnummer in Fettdruck hinzu.
Zurück in der Küche legte ich mein Tragetuch auf den Boden. Karl-Heinz lugte vorsichtig aus der Ecke des Tuches hervor, weil die krächzende, belegte Stimme des haarigen Würmchens ihn neugierig machte. Vorsichtig beschnupperten sie sich. Ich drehte Würmchen auf den Rücken, wollte sehen, was für ein Geschlecht hier vorlag. Ach nee … männlich! Okay, ich taufte ihn mit Milch auf den Namen Oskar.
Oskar der Pingelige aus dem Stück von Neil Simon kam mir als Name in den Sinn. Ich schaute in diese rehbraunen Augen. Hm … vielleicht etwas zu harsch? Zu männlich? Ich ließ nochmals eine Furche Milch über sein Köpfchen rinnen. Karl-Heinz schleckte das leckere Taufwasser vom Boden auf. Feierlich taufte ich diesen haarigen Findling auf den Namen Lucky. Lucky, weil er ein Glückspilz war.
Ich sprach in sein kleines Steiff-Öhrchen: „Bald holt dich dein rechtmäßiger Besitzer ab. Keine Angst, alles wird gut. Bis dahin schauen wir nach dir.“ Ich holte das kleine Nuckel-Fläschchen von Karl-Heinz, gab erst mal eine Runde Milch für alle aus, machte mich bei Google kundig, was so ein Mini als stärkende Mahlzeit brauchte. Karl-Heinz ließ ich als Bodyguard bei Lucky. Ich schloss das Gitter zwischen Küche und Wohnzimmer, war jetzt wirklich in Eile, wollte Alexander unbedingt vermitteln, dass es mir gut ging, ich genug zu essen hatte, prima hier ohne Sorgen oder Nöte lebte. Ja, er sollte den Eindruck gewinnen, dass ich alles im Griff und unter Kontrolle hatte! Unter keinen Umständen wollte ich, dass er sich unnötig Sorgen um mich machte. Er hatte selbst genug. Ich nahm eine große Pappe aus dem Keller, malte in Großbuchstaben ein „Herzlich willkommen“ und klebte es über den Türsturz.
Gerade als ich die letzten Einkäufe im Kühlschrank verstaut hatte, klingelte es an der Tür. Ich ging in den Flur, riss voller Erwartung und Freude die Tür auf, breitete meine Arme aus, schwang mich mit voller Wucht an seinen Körper, übersäte sein Gesicht mit schmatzenden Küssen.
„Holla, holla … nicht so stürmisch, Schwesterlein. Bei diesem Temperament reißt du ja einen Bullen nieder!“
Seine Küsse bedeckten auch mein Gesicht. Ich merkte in dieser Umarmung, wie sehr er mir wirklich gefehlt hatte. Das liebende Band unserer geschwisterlichen Vertrautheit spannte sich um unsere Körper. Mein Vorsatz, Alexander etwas vorzumachen, flog auf und davon. Er war doch mein Bruder!
Wie dumm von mir zu glauben, ich könnte ihm eine Scharade vorspielen! Er kannte mich und meine vorgetäuschte humorvolle Fröhlichkeit, wusste, dass ich mein Päckchen, das ich zu tragen hatte, gut verpackte. Wir waren seelenverwandt, hatten früh geübt, „Busch“-Leute zu sein. Die Lektüre hatten wir schon unter der gemeinsamen Bettdecke verinnerlicht. Denn Wilhelm Busch meinte:
„Was man ernst meint, sagt man am besten mit Humor.“
Alex hielt mich am ausgestreckten Arm, um mich zu begutachten. Ich stand stramm und salutierte: „Oberst Behrmann, melde gehorsamst, bin wohlauf. Ich lebe hier im Luxus-Außenlager Toronto oder wenn du so willst, im königlichen Archipel Gulag des Lebens.“
„Wow … dein Wortschatz hat sich vergrößert und dein Humor ist noch schwärzer als schwarz, Vali.“
„Ich versuche, gradlinig meinen Weg zu finden. Gelegentlichen, leichten Einschlägen von Unsicherheiten und Fehltritten begegne ich wie das Unkraut von R. W. Emerson.“ Ich legte lachend den Arm straff an meinen Oberschenkel.
„Und wer ist dieser Schlaumeier, Emerson?“
„Nun, der Gute hat das erkannt, woran ich noch arbeite.“
„Das wäre?“ Alex zog seine Augenbrauen amüsiert hoch.
„Er sagte: ‚Das Unkraut ist die Pflanze, deren Vorzüge einfach noch nicht erkannt worden sind.‘“
Alex nahm mich wieder in die Arme, drückte und küsste mich, bevor er durch die Luft wirbelte. Er lachte lauthals: „Früher fandst du die Sprüche schrecklich, aber du bist wie Clara und Ella. Die texten mich heute noch mit ihren weisen Sprüchen zu. Schön, dich endlich zu sehen. Habe dich sehr vermisst.“
Ich nahm ihn an die Hand. „Komm rein, komm rein. Karl-Heinz und Lucky warten schon auf ihren Alleinunterhalter.“
Glückspilz Lucky hüpfte vor Freude wie ein Häschen an seinen Hosenbeinen hoch, sodass er die gesamte Aufmerksamkeit erhielt, während Karl-Heinz leicht säuerlich die Hüpfeinlage argwöhnisch aus der Ecke betrachtete. Ich bereitete einen Campari mit Grapefruitsaft vor. Wir stießen freudestrahlend in der Küche auf unser Wiedersehen an. Dann gab es eine Palastführung durch Haus und Garten.
Ich erzählte von meiner schönen Zeit mit Mrs. Clark, verbalisierte meine Trauer über ihren plötzlichen Tod. Ich berichtete über mein gleichzeitiges Glück, das ich hier kostenlos wohnen durfte, erzählte, wie ich zu meiner neuerlichen Ménage-à-trois gekommen war, die mich zu liebevollen Selbstgesprächen animierte.
„Bin beeindruckt, Schwessi! Wünschte, ich hätte auch jemanden, der mich kostenlos wohnen ließe, mit dem ich unter demselben Dach eine liebevolle, freundschaftliche Verbindung pflege, tierische Freunde, deren Anwesenheit allein bedingungslose Liebe und Freunde ausdrückt. Du hast Glück!“
Im Wohnzimmer machten wir es uns gemütlich, erzählten uns bis ins kleinste Detail, wie es uns so ergangen war. Um kurz nach Mitternacht legten wir eine Tanzeinlage aufs Parkett und sangen John Lennons Woman. Wir tranken abwechselnd aus der Flasche: den Moët mit roten Strohhalmen, giggelten, lachten, duschten unter dem Peanut-Regen, den ich angeheitert in die Luft warf. Unsere haarigen Zuschauer konnten sich über so viel Übermut nur wundern und hielten Distanz.
Draußen wurde es hell. Strahlen zwängten sich grell durch den Vorhangschlitz. Vögel zwitscherten aufgeregt ihr Morgenlied, um den Tag zu begrüßen. Das letzte Mal, als ich auf die Uhr geschaut hatte, bevor wir uns hinlegten,