Könnte schreien. Carola Clever

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Название Könnte schreien
Автор произведения Carola Clever
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347059184



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bis in die frühen Morgenstunden zu plauschen, merkte ich erst jetzt.

      Ich erwachte auf der Ottomane, eingerollt in eine flauschige Decke. Karl-Heinz und Lucky teilten sich den Platz vor und hinter meinem Bauch. Mein Blick fiel auf die restlichen Pizzastücke. Uuh! Ich sah die Batterie von Gläsern, die neben den schlappen Salatblättern standen. Flaschen über Flaschen. Reste von Paprikastücken. Leblose Petersilienstängel. Schalen der Honigmelone lagen breitflächig verteilt auf dem Wohnzimmertisch. Nüsse … wohin das Auge blickte.

      Der Fernseher war an. Obwohl leise gestellt, lauschte ich dem gellenden Schrei des Kuckucks, bemerkte, dass ich schon lange nicht mehr so früh wach gewesen war, um ihn auch nur im Fernsehen zu hören. Er war auf Brautschau und suchte sein Mädel. Ich liebte den Discovery-Channel, blinzelte rüber zu Alex, schaute auf sein tiefenentspanntes Gesicht. Wie ein Prinz lag er träumend am Schloss neben der Rosenranke, die hoch bis zum Fenster rankte. So friedlich. So schön. Ich stellte fest, er war nicht nur schön, sondern hatte auch ein warmes Herz und edle Gedanken. Eben ein echter Prinz.

      Aus innerster Überzeugung, aus überquellender Liebe sprang ich auf, brannte ihm einen Mega-Schmatzer auf die Wange, sodass meine haarigen Beobachter bei dieser abrupten Bewegung erschrocken ihre Ohren spitzten. Ich sah, Prinz Alex schlief weiter, denn der Jetlag hatte seinen Schlaf-Wach-Rhythmus völlig durcheinandergebracht. Ich ging zurück auf meine Ottomane, versammelte die Vierbeiner auf meinen Schoß, schloss die Augen, war immer noch aufgeregt und überdreht. Unbändige Freude, dass er mich besuchte, überfiel mich erneut. Ich ließ unsere Gespräche Revue passieren, war erschrocken, wie er immer noch litt und gelitten hatte. Seine Wunden waren für andere unsichtbar, aber überhaupt nicht verheilt. Ganz im Gegenteil, sie bluteten immer noch, auch nach Jahren. Er versuchte zwar krampfhaft, sich die Liebe von Martin und Ella zu erarbeiten. Aber was immer er auch schaffte, es war nie genug, nie perfekt in ihren Augen!

      Martins fortwährende Kritik an seiner Person war gnadenlos.

      Im Discovery-Channel hatte ich eines Nachts einen Bericht über männliche Löwen gesehen. Wie gefährlich diese Alten sein konnten, zeigte sich, wenn sie Nebenbuhler oder auch eigene Kinder überfielen, ihnen tödliche Bissen zufügten. Auch sie duldeten keine Götter neben sich. Ich erinnerte mich an die brutalen, blutigen Schläge mit der Bügelschnur im Keller, an seine wimmernden Tage im Keller, seinen spärlichen, verdreckten Nachtplatz, wie er ohne Essen und Trinken zwei Tage lang seine Strafe, auf den Putzlumpen liegend, absitzen musste. Maßlose Trauer überfiel mich. Hier waren sie wieder, meine nächtlichen Verfolger, die auch tagsüber zu Überfällen bereit waren.

      Ich vergegenwärtigte mir die vielen erniedrigenden Belehrungen, die er sich strammstehend anhören musste.

      Ich blendete die Erinnerungen aus, ertrug sie einfach nicht mehr. Sabia hatte mir mal als Hilfestellung, wenn mich die Trauer überfiel, einen Rat gegeben. Ich sollte meine Augen im geschlossenen Zustand von links nach rechts wie ein Pendel bewegen. Diese Art Wischtechnik mit kognitivem Einfluss wischte sozusagen die Erinnerung weg. Dann sollte ich die Gedanken und Erinnerungen ersetzen mit einem verbindenden Glied, mit etwas Nettem und Positivem.

      Ich zog die Decke noch mal über meine Augen, atmete tief ein und aus, wurde ruhiger, während ich an Sabia dachte. Bei ihr hörte ich etwas über Perfektion. „Mit Perfektionisten zusammenzuleben, ist anstrengende Schwerstarbeit“, sagte sie. „Wie Narzissten sind sie von sich und ihrem Tun sehr überzeugt. Nur sie haben den Dreh raus, wissen, wie das Leben zu leben ist, meistern jede Situation am besten, stülpen dir ihre Sicht- und Arbeitsweise über, sind im Kopf, ihrem Verstand zu Hause und verankert, wissen, dass sie ein Herz besitzen, können nur leider nichts damit anfangen. Ihr Dickicht im Kopf siegt und ihr Adrenalin-Ausstoß sowie Kampfgeist sind beeindruckend.“

      Sie sprach von der Kehrseite des Perfektionismus, der Terra Incognita oder der anderen Seite. Diese basiert auf einer tiefen inneren Unsicherheit, auf quälenden Selbstzweifeln. Das resolute bestimmende Auftreten dient als eine Art Blendwerk, um Unsicherheit und Selbstzweifel zu kaschieren. Sie sind regelrechte Meister in dieser Camouflage-Technik.

      Ich bereitete ein Katerfrühstück mit leckeren Rollmöpschen und Ölsardinen zu, Stärkung in unserem desolaten Zustand.

      Ich genoss Alexanders Gegenwart. Was war schon eine Woche? Nichts!

      Mary gab mir das Auto von Stevie, weil der sechs Tage in Calgary war. Ich schleppte Alex zu Mary, die ihn mit liebevoller Aufmerksamkeit auffressen wollte. Sie überraschte ihn mit dieser kleinen Party, die einen Tag vor seiner Abreise stattfinden sollte. Alex war überrascht, gleichzeitig überfordert. Noch nie hatte jemand eine Party für ihn gegeben. Gerührt umarmte er sie.

      Mit meinen haarigen Vierbeinern vorm Bauch zeigte ich Alex die Uni, fuhr mit ihm nach Scarborough, einem größeren Vorort, der mit seinen berühmten Kreidefelsen warb. Ich zeigte ihm die Scarborough Bluffs, deren kreidebleiche Gesteinssteilhänge fast senkrecht ins Wasser des Ontariosees fielen – ähnlich wie die in Dover, die ich nur aus dem Fernsehen kannte.

      Ich hatte Karten für die Oper: Der Rosenkavalier. Etwas leicht Verdauliches.

      Auf dem Rückweg schwebten wir erst mal ins Reisebüro. Sofort lagen meine Kollegen auf dem Boden, um Lucky und Karl-Heinz zu bespaßen.

      Die Bürodose mit Leckerlies kam zum Einsatz.

      Die Chefin blickte auf, sah uns durch die Sehschlitze der Jalousien, stand auf und kam aus ihrem Büro mit weit ausgestreckten Armen. Sie umarmte uns beide gleichzeitig, war hin und weg von Alex. Sie balzte wimpernklimpernd ihren betörenden Tanz, um seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu erhalten.

      Meine dunkelhäutige Kollegin aus Barbados saß mit offenem Mund am Schreibtisch, schaute Alex tief in die Augen, fixierte ihn, musste mit meinen Fingern schnippen, um sie ins Hier und Jetzt zu holen.

      Ich verstand ja ihr Sabbern: Alex mit seinem Drei-Tage-Bart, seiner stattlichen Größe von einszweiundneunzig, seinen langen Wimpern, seinem herzförmigen Kussmund, seinem wohl proportioniertem Körper, Marke Adonis, mit seinem sexy Po, den gepflegten Händen, einem Lächeln, das die blauweißen Gletscher von Glacier Bay in Alaska, wenn er sie anstrahlen würde, reihenweise und permanent kalben ließe. Vielleicht aber war es auch diese Mischung aus edler Zurückhaltung, kindlicher Neugierde und lässiger Offenheit, die ihm die Herzen der Mädels nur so zufliegen ließen. Selbst mein Kollege Clive, die personifizierte Zurückhaltung aus St. Lucia, umarmte Alex, küsste ihn zum Abschied auf beide Wangen.

      Vor dem Büro stand die Sonne hoch am stahlblauen Himmel. Am Spätnachmittag zeigte ich Alex die vorgelagerte Insel vor der Stadt. Die Überfahrt mit der Fähre war angenehm, denn der Fahrtenwind ließ uns beide dösen. Für fast Ende August war es ziemlich heiß, nichts für haarige Freunde im Bauchsack. Der Garten bot ihnen Schatten und deshalb mussten sie zu Hause bleiben.

      Während der Autofahrt hielt er meine Hand. Beim Spazieren lag sein Arm auf meinen Schultern. Zu Hause oder im Restaurant nahm er meine Hände in seine. Ich betete und hoffte inbrünstig, dass er sich auf der Party in jemanden verliebte, darüber nachdachte, hier zu bleiben oder wenigstens zurückzukommen.

      Die Party war ein voller Erfolg. Alex kannte jetzt jeden, mit dem ich Kontakt hatte außer Mr. Campbell und Stevie, der noch nicht zurück war. Wir tanzten Salsa, Merengue, Rock’n‘Roll, um schnulzig mit Frankie Boy den Morgen zu begrüßen, bevor wir alle nach Hause fuhren. Leider blieb Alex freundlich und zurückhaltend. Meine Hoffnungen gingen ins Leere. Schade!

      Am Flughafen dachte ich, er bringt mich um oder will mich ersticken. Seine Umarmung war so heftig, dass mir die Luft wegblieb.

      „Es war schön bei dir. Bleib so, wie du bist, dann bist du richtig. Bleib positiv, lass dich nicht manipulieren. Du wirst deinen Weg finden und gehen, Süße!“

      Dann küsste er mich noch mal und verschwand in der Menge.

      Ich stand eine ganze Weile vor dem Eingang zum Flugsteig wie das bekannte hypnotisierte Kaninchen, konnte nicht fassen, dass er schon wieder weg war. Es fühlte sich an, als wenn ich vom Baum abgeschnitten wäre. Ich bewegte mich nicht, weil ich glaubte, so regungslos noch mit ihm in einer unsichtbaren Verbindung zu bleiben. Erst als mich jemand anrempelte, sich entschuldigte, kam