Das Buch des Kurfürsten. Marlene Klaus

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Название Das Buch des Kurfürsten
Автор произведения Marlene Klaus
Жанр Языкознание
Серия Kurpfalz-Trilogie
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941408364



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beim Bäcker an Heiliggeist eine Brezel kaufen.

      Ihre Hand lag noch immer auf seinem Arm, ihr Blick war forschend, sie schien nach den rechten Worten zu suchen. Und tatsächlich, nachdrücklich sagte sie: „Das wird schon wieder, sorgt Euch nicht.“ Es war nicht klar, ob sie die kranke Mutter oder den vermeintlichen Ehekrach meinte.

      Philipp wollte nur noch weg. Mit einer Geste deutete er an, dass er nun aber aufbrechen müsse.

      „Sicher, sicher, geht nur“, nickte sie. „Ihr müsst aufschließen, Feuer anmachen. Ich weiß, ich weiß, nun geht!“ Damit entließ ihn die gute Frau, die letztlich nichts weniger getan hatte, als ihrer nachbarschaftlichen Pflicht nachzukommen, weshalb ihn seine Lügen umso mehr schmerzten.

      Er eilte durch die Pforte, die zur Gasse hinausführte – und prallte mit Kilian zusammen.

      „Holla Freund, Guten Morgen!“, rief dieser. „Will eben zu dir.“

      Vermaledeit, jetzt auch noch Kilian!

      Sein Freund wohnte in der Jakober Vorstadt, sein Weg zum Marstall führte ihn schnurstracks an ihrem Haus vorbei.

      „Haben auf euch gewartet gestern. Wurdest du so lange gebraucht?“

      Weiterlügen. Am liebsten hätte er Kilian in die Stube gebeten, ihm anvertraut, in welch unsagbarer Not er sich befand.

      „Auch Hedwig … Aber was ist nur? Ich seh dir an, etwas stimmt nicht. Ist etwas geschehen? Juli ist doch nicht krank?“ Kilians Miene, die zunächst ein wenig ungehalten gewirkt hatte, drückte nun neugierige Anteilnahme aus.

      Philipp schüttelte den Kopf. „Nein. Aber Hedwigs Mutter. Hedwig brach gestern Abend nach Reilingen auf.“

      „Wie das? Du sagtest doch, sie sei bereits in der Schenke.“

      Verflucht! Wie sollte er sich da herauswinden? Gott, steh mir bei, auch wenn es beim Lügen ist.

      „Und du ließest sie allein gehen?“, setzte Kilian ungläubig nach.

      „Nein, nein.“ Philipp suchte nach einer Erklärung. Und wunderte sich fast nicht mehr, wie leicht sie ihm auch diesmal über die Lippen kam. „Nach meinem Amtsgang eilte ich noch einmal nach Hause, weiß gar nicht mehr warum. Hedwig hat dort auf mich gewartet, zusammen mit dem Boten, den ihr Vater sandte. Der begleitete sie.“

      „Und du?“

      „Was meinst du?“ War Kilian misstrauisch? Philipp wagte nicht, ihm offen ins Gesicht zu sehen. Wie er sich für seine Lügerei schämte.

      „Hättest doch noch ins ‚Schwert‘ kommen können.“

      Philipp machte eine unbestimmte Geste. „Ich ging bis zum Rabenstein mit. Auf dem Rückweg blieb ich am Speyerer Tor bei den Wächtern hängen. Denen hatte wer zwei Kannen Roten ausgegeben.“ Er zuckte die Schultern.

      „Ah“, machte Kilian.

      Nahm er ihm das krumm? Er konnte es nicht einschätzen. Gott, Kilian, wenn du wüsstest …

      „Was hat ihre Mutter?“

      Wieder zuckte Philipp die Schultern. „Etwas mit Fieber, man weiß es nicht genau.“

      Verständnisvoll nickte Kilian. Plötzlich kniff er die Augen zusammen, sein Gesicht kam näher. „Herrje, was ist mit deiner Backe?“

      Er würde ständig darauf angesprochen werden, er hatte sich bereits etwas einfallen lassen. „Ich hab mich gestoßen“, winkte er ab.

      Kilian setzte ein schiefes Grinsen auf. „Der Rote schmeckte wohl. Und die Straßen sind rutschig.“ Er hieb ihm auf die Schulter. „War jedenfalls lustig, kannst dir ja denken. Conradt spielte den Zink, Ochsenkuhn die Sackpfeife, ein Flötist noch dazu – es ging heiter her. Ha, und zu später Stunde sang so ein schwarzer Vogel welsche Lieder.“

      Als Philipp fragend schaute, ergänzte Kilian: „Der war gänzlich schwarz gewandet, wie ein Magister. Rabenschwarzes Haar dazu und Augen wie ein Muselmann, ansonsten bleich wie Milch. Sprach so gut wie nichts. Nach ’ner Kanne aber hob er an zu singen, keiner verstand sein Gekrähe, aber alle johlten mit.“ Kilian grinste.

      „Da hab ich ja was verpasst“, sagte Philipp müde.

      Kilian wurde ernst. „Hattest ja andere Sorgen. Was ist, willst du in der Mittagspause nicht zum Marstall kommen? Gut dreihundert Pferde sind schon da. Täglich werden es mehr. Sollen bis sechshundert werden für den Umzug nach Amberg.“ Er fasste Philipp am Arm. „Das wird dich ablenken.“

      „Ich weiß nicht recht.“ Er fürchtete sich vor dem Zusammensein. Er würde weiterlügen müssen. Und andererseits hätte er sich Kilian nur zu gerne anvertraut.

      „Denk drüber nach. Ich werde dort sein.“

      Sie mussten einem Ochsenkarren Platz machen, der vom Jakober Tor heranrumpelte, drückten sich an die Hauswand. Kilian deutete die Gasse hinunter und sagte: „Lass uns das Stück zusammen gehen.“

      Philipp nickte und trottete neben seinem Freund gen Marktplatz.

      Später stand er in der Mauernische von Heiliggeist, stopfte den letzten Krümel Brezel in den Mund und schaute hinüber zum Belierschen Haus. Kaum dreißig Schritte bis zum Tor, sie erschienen ihm wie dreitausend.

      Er hatte eigentlich keine Zeit mehr, lange zu überlegen. Heiliggeist schlug sechs, er musste in die Kanzlei. Und doch stand er hier und starrte auf die etwa vier Ruten breite Hausfassade, als könnten ihm Erkerbrüstung, Bogenfenster, Ornamente und Reliefs des neuen Gebäudes bei seinem Vorhaben irgendwie behilflich sein. Aber das konnten sie nicht. Er musste selbst entscheiden, ob er zum Hausherrn persönlich ginge oder ob er es dabei bewenden ließe, dem Knecht Bescheid zu geben. In Anbetracht der Zeit und weil es weniger unangenehm war, musste wohl Letzteres genügen. Doch noch waren die vertikal ausschwenkbaren Klappläden, die als Verkaufstische für die Tuche dienten, an den eingemauerten Eisenlaschen verriegelt und nicht heruntergelassen. Auch das Hofportal war noch geschlossen. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als zu pochen. Er schaute noch einmal an der Vorderseite des Hauses empor und erkannte im zweiten Obergeschoss einen blassen Lichtschein. Er gab sich einen Ruck und ging auf das Tor zu. Hob den Arm und klopfte fest.

      Sofort wurde geöffnet. Doch nicht Velten, dem Knecht des Hauses, sah er sich gegenüber, sondern Appel, im Wollumhang und mit zwei Eimern in den Händen. Sie war auf dem Weg zum Wasserholen. Sofort dachte er daran, dass Kilian ihm glücklich erzählt hatte, dass Appel gestern Abend tatsächlich gekommen war und bei ihnen gesessen hatte. Sie war wirklich schön, er verstand Kilian. Augenbrauen wie mit einem Pinselstrich hingeschwungen. Augen wie zwei schwarze Kirschen. Runde Lippen und ein Lächeln, das ihr erstarb, als sie ihn erkannte. „Ist etwas mit Hedwig?“, fragte sie sofort. „Oder Juli?“ Atemwölkchen vor ihren Lippen, duftig wie Schmetterlinge.

      „Nein, den …“ Er stockte. „Den beiden geht’s gut“, hatte er sagen wollen. Aber jäh wurde ihm bewusst, dass er nicht wusste, wie es ihnen ging. Er wusste nicht einmal, ob sie noch am Leben waren. Er kämpfte die aufsteigende Angst nieder, die Verzweiflung. Rang mit sich. „Appel“, sagte er, und die Betonung, die er in ihren Namen legte, ließ sie aufmerken und ihn noch aufmerksamer anschauen. „Sag den Beliers, Hedwig musste nach Reilingen. Ihre Mutter ist krank und man schickte nach ihr. Bitte gib den Herrschaften Bescheid. Ich muss zur Kanzlei, bin ohnehin schon spät.“

      Appel blickte ihn unverwandt an. „Und Juli?“, fragte sie.

      „Ist bei ihr. Willst du es ausrichten, Appel?“

      Sie nickte, und der Ernst in ihren Augen, die sonst so vorwitzig blickten, verfolgte ihn den gesamten Weg bis zur kurfürstlichen Kanzlei am Fuße des Schlossbergs.

       Neun

      Der Morgen war trüb und grau, wie es einem Novembermorgen anstand. Auf dem Küchentisch flackerte deshalb ein Öllicht. Hausherr Matthias Großhans schob den länglichen Eisenbehälter am Griff ein wenig zur Seite, damit die eineinhalbjährige Sophia nicht drankam. Seine Nichte