Die Klinik am See Staffel 1 – Arztroman. Britta Winckler

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Название Die Klinik am See Staffel 1 – Arztroman
Автор произведения Britta Winckler
Жанр Языкознание
Серия Die Klinik am See Staffel
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783740912307



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noch im Wartezimmer sitzenden Frau zu verstehen, daß der Doktor heute wegen eines Notfalls keine Sprechstunde mehr halten konnte. »Bitte kommen Sie morgen vormittag wieder!« bat sie.

      Achselzuckend nahmen die Frauen das zur Kenntnis und gingen, während Astrid der Sekretärin Bescheid sagte, daß die Sprechstunde für diesen Tag vorbei sei.

      »Tja, dann kann ich auch bald Schluß machen, wenn ich hier fertig bin, und nach Hause gehen«, entgegnete Marga Stäuber.

      »Tun Sie das, Frau Stäuber«, gab Astrid zurück. »Ich sage es meinem Vater. Bis morgen also.« Sie lächelte und begab sich nach oben in die Wohnung. So ein Notfall konnte unter Umständen eine Menge Zeit in Anspruch nehmen, dachte sie.

      Astrid war nicht wenig erstaunt, als sie bereits nach knapp zwanzig Minuten ihren Vater zurückkommen hörte. Als der aber nicht gleich in die Wohnung heraufkam, sondern unten in der Praxis blieb, wurde sie neugierig und ging hinunter. »Du bist aber schnell wieder zurück, Paps«, sagte sie. »War es nicht so schlimm?« forschte sie.

      Dr. Lindau, der sich gerade einige Notizen machte, hob den Kopf und sah seine Tochter ernst an. »Schlimm genug«, antwortete er.

      »Geht es der Frau denn so schlecht?« wollte Astrid wissen.

      »Das kann man nicht sagen«, erwiderte Dr. Lindau. »Sie ist jedenfalls außer Gefahr. Ich habe die Blutung stillen können. Eine Einweisung in eine Klinik war glücklicherweise nicht nötig.«

      »Also keine…«

      »Eigentlich dürfte ich mit dir darüber gar nicht reden«, unterbrach Dr. Lindau seine Tochter ernst. »Du verstehst – ärztliche Schweigepflicht. Aber was soll’s? Du bist meine Tochter und kennst diese Frau nicht.« Mit knappen Sätzen berichtete er.

      »Ich verstehe«, meinte Astrid, als der Vater schwieg, »es ist nur bei einem Versuch geblieben.«

      »Ja, weil die Frau bei den ersten Aktivitäten der... der... na, du weißt schon, was ich meine, davongelaufen ist.«

      »Weshalb?« fragte Astrid interessiert.

      »Vielleicht bekam sie es mit der Angst zu tun«, erwiderte Dr. Lindau und zuckte mit den Schultern. »Möglicherweise meldete sich in letzter Sekunde auch ihr Gewissen, oder aber sie konnte die Schmerzen nicht aushalten. Ich weiß es nicht genau, denn sie war in ihrem Zustand nicht ansprechbar. Aber ich kriege es noch heraus«, fügte er mit grimmiger Miene und zornblitzenden Augen hinzu. Sein Zorn richtete sich dabei nicht so sehr gegen Lisa Reutlinger, sondern gegen jene Scharlatanin, die sich anmaßte, gegen gutes Geld natürlich, werdendes Leben zu vernichten. Ihr mußte das Handwerk gelegt werden.

      »Wer ist denn diese Frau?« fragte Astrid leise.

      »Das weiß ich noch nicht«, stieß Dr. Lindau hervor. »Das Dumme ist ja, daß die Betroffenen kein Wort sagen; aus Angst vor Strafe. Abtreibung ohne zwingenden medizinischen Grund ist nun einmal strafbar. Aber…«, in seinen Augen blitzte es auf, »... einen Hinweis habe ich jetzt. Herr Reu… hm… der Ehemann hat sich ein wenig verplappert. Wenn ich zwar den Namen jener ›Engelmacherin‹ nicht weiß, so ist mir aber jetzt die Gegend bekannt, in der sie wohnt, und daß sie Patin genannt wird.«

      »Patin?« Verwundert sah Astrid den Vater an.

      In Dr. Lindaus Zügen arbeitete es. »Natürlich hat sie irgendeinen bürgerlichen Namen«, sagte er. »Vielleicht kenne ich sie sogar.«

      »Aber du sagtest doch, daß du weißt, wo sie wohnt, Paps«, warf Astrid ein.

      »Ungefähr, nur ungefähr«, entgegnete Dr. Lindau. »Ich weiß nur, daß sie drüben in der alten Aue-Siedlung wohnt.«

      Astrid war diese Siedlung nicht unbekannt. Sie lag etwas außerhalb vom Ort und war über eine einzige sandige Zufahrtsstraße zu erreichen, die über die hölzerne Brücke führte, die die beiden Ufer der sich um den Ort herumschlängelnden etwa vier Meter breiten Aue miteinander verband. Entstanden war diese Siedlung nach dem Krieg, als man Wohnraum für Ortsvertriebene brauchte. Neben einer kleinen Laubenkolonie hatte man damals an die zwanzig einfache Einfamilienhäuser hingebaut. Im Laufe der Jahre aber waren etliche der damaligen Bewohner umgezogen – in den Ort oder aber irgendwohin in die weitere Umgebung. Andere dann in die leergewordenen Häuschen eingezogen, wie Astrid gehört hatte.

      »Tja, du siehst – der Arztberuf hat auch Schattenseiten«, unterbrach Dr. Lindau die Gedankengänge seiner Tochter.

      »Und du kannst nichts unternehmen?« fragte Astrid.

      »Was denn? Soll ich mich auf die Lauer legen und die Aue-Siedlung beobachten?« Dr. Lindau winkte verärgert ab. »Aber selbst wenn ich Name und Adresse jener Frau hätte, würde mir das nichts nutzen«, fügte er hinzu. »Beweise müßte es geben.«

      »Ist das so schwer, solche Beweise zu beschaffen?«

      »Astrid, überleg’ doch!« entgegnete Dr. Lindau. »Diejenigen, die sich ein Baby wegmachen lassen, schweigen. Die sogenannte Helferin in Not ebenfalls. Sie haben Angst vor Strafe. Zugeben wird niemand etwas. In flagranti müßte man…« Er winkte ab und setzte hinzu: »Das aber ist aussichtslos.«

      Astrid nickte. Sie wollte etwas sagen, unterließ es jedoch, als sie merkte, daß ihr Vater plötzlich gespannt zum Fenster hinaussah. »Was ist?« fragte sie leise und sah auch zum Fenster hinaus. Sie bemerkte ebenso wie der Vater den braunen Wagen, der in dieser Sekunde vor dem Haus hielt.

      »Der ist gestern schon einmal langsam vorbeigefahren«, murmelte Dr. Lindau und wandte sich an seine Tochter. »Ich habe das Gefühl, daß da jemand zu uns will«, sagte er. Das letzte Wort war gerade über seine Lippen gekommen, als es läutete.

      »Ich öffne, Paps«, sagte Astrid und schritt zur Tür. »Soll ich dann hierbleiben?« fragte sie.

      »Nicht nötig«, erwiderte ihr Vater. »Geh du dann ruhig nach oben. Es wird sicher nicht lange dauern…«

      Astrid verschwand und öffnete die Tür zur Praxis. Vor ihr stand eine schlanke Frau im eleganten Tweedkostüm. Ihr Gesicht konnte sie nicht richtig erkennen, weil es zur Hälfte von einem durchsichtigen Hutschleier verdeckt war. Dennoch kam es ihr vor, als wäre ihr dieses Gesicht nicht fremd. Sie konnte im Augenblick jedoch nicht sagen, woher sie es zu kennen glaubte.

      »Ist Herr Doktor Lindau zu sprechen?« fragte die Einlaßbegehrende mit melodisch klingender Stimme.

      »Wir haben zwar keine Sprechstunde mehr«, erklärte Astrid, »aber bitte – der Herr Doktor ist noch da. Treten Sie ein! Wen darf ich melden?« wollte sie wissen.

      »Angern ist mein Name.« Mehr sagte die Frau nicht.

      Astrid nickte und ging voraus ins Sprechzimmer, gefolgt von der fremden Frau, deren Alter wegen des Gesichtsschleiers schwer zu schätzen war.

      »Frau Angern möchte dich sprechen«, meldete Astrid ihrem Vater. »Ich habe allerdings gesagt, daß du keine Sprechstunde mehr hast.«

      »Schon gut, Astrid.« Dr. Lindau stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Seiner Tochter warf er einen Blick zu.

      Astrid verstand und verließ das Sprechzimmer, nicht ohne noch einen neugierigen und prüfenden Blick auf die fremde Frau geworfen zu haben.

      »Bitte, nehmen Sie Platz, Frau Angern!« bat Dr. Lindau die Besucherin, als Astrid die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Was führt Sie zu mir? Wie Sie bereits von meiner Tochter hörten, habe ich heute keine Sprechstunde mehr, will Sie aber gern anhören, da Sie nun schon einmal hier sind.«

      »Danke, Herr Doktor.« Die Frau blickte sich um. »Sind wir allein, und kann ich ungestört mit Ihnen reden?« fragte sie leise.

      »Sprechen Sie ruhig«, entgegnete Dr. Lindau. »Außer Ihnen und mir ist niemand hier.« Er ahnte etwas. Es war nicht das erste Mal, daß eine Frau zu ihm kam und mit einer solchen Frage begann.

      Sekundenlang war Stille im Sprechzimmer. Die Besucherin schien mit sich zu kämpfen. Doch dann hob sie die Hand und schlug den Halbschleier von ihrem Gesicht zurück. In ihren Augen war ein entschlossener