Urbis oder der Tanz der Tummelfliegen. Kirsten Döbler

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Название Urbis oder der Tanz der Tummelfliegen
Автор произведения Kirsten Döbler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847618799



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sportlichen Körper mühelos nach unten beugte und mit elastischen Bewegungen die Mayonnaise von seinen Lederschuhen wischte. Er war gut in Form. Das perfekte Vorbild für seine Patienten: durchtrainiert, mit glatten Wangen und klaren blauen Augen. Die Zusammensetzung der Mineralienmischung, die er jeden Morgen und Abend zu sich nahm, musste also stimmen, überlegte Caro mit einem Anflug von Ironie. Doch sie musste zugeben, dass selbst seine hellblonden Haare ein wenig mehr zu glänzen schienen als bei anderen Männern, und wenn man es nicht besser wüsste, könnte man auf die Idee kommen, er habe eine raffinierte Haarpflege benutzt, um seinen ohnehin schimmernden Haarschopf noch effektiver in Szene zu setzen.

      Dabei würde Ben derartige Maßnahmen entschieden ablehnen. Er setzte auf Gesundheit von innen und unternahm gar nichts, um sein Äußeres künstlich vorteilhafter erscheinen zu lassen. Und vielleicht war das auch kein Wunder, dachte Caro. Als Ben noch in die sechste Klasse ging, hatte der Vater die Familie verlassen und die Scheidung eingereicht. Und während Ben der Mutter wieder auf die Beine half und seine kleinen Schwestern beim Lesenlernen unterstützte, war ihm jeder Gedanke daran, wie er auf andere wirken mochte, herzlich egal. Er hätte noch so adrett und ansprechend oder im Gegenteil struppig und verwahrlost aussehen können – sein Vater hätte ihn doch keines Blickes gewürdigt. Und die Mutter war ohnehin immerfort stolz auf ihren Sohn.

      »Wie kann ein durchschnittlich intelligenter Mensch nur seine Pommesschale auf die Straße fallen lassen, wenn keine zwei Meter weiter ein Papierkorb hängt?«, fragte Ben und warf sein Taschentuch hinein. Caro brummte geistesabwesend Zustimmung. Sie holte einen Spiegel aus der Canvas-Tasche und überprüfte ihre Frisur, die sie unter einem orangefarbenen Organzatuch aufgetürmt hatte, einer farblichen Referenz an Steffis gestickte Blüten auf dem Abendkleid. Mit diesem Farbtupfer endete dann aber auch jegliche Ähnlichkeit mit dem Outfit der Freundin, denn für den Abend der Atelierseröffnung hatte Caro ihre Panzerkombi angezogen, den durchgehenden, olivfarbenen Overall mit Reißverschluss bis in den Schritt. Sie hatte die langen Ärmel ein Stück weit aufgekrempelt und den Reißverschluss bis zum Bauchnabel aufgezogen, so dass ihr orangefarbenes Trägertop leuchtete, sobald sie sich ins Licht stellte. Dazu trug sie Turnschuhe in derselben Farbe. Sie hatte sich bei Ben eingehakt, musterte ihre Silhouette in den Schaufenstern des Schanzenviertels, die sie zügigen Schrittes passierten, und war zufrieden: Trotz ihrer groben Schuhe und des sportlichen Overalls wirkte sie überhaupt nicht plump, im Gegenteil: Da sie so schmal gebaut war, konnte sie anziehen, was sie wollte – sie sah immer grazil aus, selbst in einer Panzerkombi.

      Caro und Ben gingen unter einer S-Bahnbrücke hindurch und tauchten ein in die Schallwelten eines Saxophonisten, dessen melancholische Tonfolge sie noch eine Weile begleitete, bis sie endlich vor der Fensterfläche des neuen Ateliers standen. Hinter der Glasscheibe leuchtete ein Meer unruhig flackernder Lichter. Steffi musste Dutzende von Kerzen angezündet haben. Caro ging feierlich die zwei Treppenstufen des Eingangs hinauf und betrat das Atelier.

      Der Duft geschmolzenen Wachses schlug ihr entgegen. Sie war mit den Räumlichkeiten vertraut, hatte Steffi an manchem Wochenende beim Renovieren geholfen. Aber die Wirkung war jetzt eine völlig andere, seit Steffi dem weiß gestrichenen verwinkelten Raum in den letzten Tagen vor der Eröffnung sein endgültiges Gesicht gegeben hatte. Den Dielenfußboden hatte sie in Mattgold lackiert, ebenso die Türen für ihre beiden Umkleidekabinen. Von der Decke des Hauptraumes funkelte ein Messingleuchter, dessen lange Kristallzapfen das Licht brachen und es auf die Stangen mit Kleidern, Jacken und Hosen aus Steffis neuer Kollektion warfen. In unregelmäßigen Abständen blitzten aus den robusten, gemauerten Klinkerregalen, die wie die Wände weiß getüncht worden waren, einige wenige mattgoldene Mauersteine heraus. Der Raum strahlte eine zugleich edle wie zwanglose Atmosphäre aus.

      Ben verstand nicht, warum Caro partout als Erste hatte eintreffen wollen.

      »Ist doch Ehrensache«, sagte sie, noch ganz benommen von dem warmen Licht. Sie schritt ehrfurchtsvoll an den gefüllten Kleiderstangen entlang und rief nach ihrer Freundin. Steffi antwortete aus dem hinteren Raum, den sie sich als Teeküche eingerichtet hatte, trat durch den goldenen Türrahmen und stellte sich breit grinsend vor ihre ersten Gäste.

      Caro starrte Steffi an, begriff nicht gleich, suchte Vertrautes, stieß unvermittelt einen Laut der Überraschung aus. Klammheimlich, ohne ihr auch nur etwas anzudeuten, hatte Steffi sich am Nachmittag eine Glatze schneiden lassen. Hatte ihre vollen struppigen Haare, die schwarze Pracht mit der hellblauen Strähne einfach abrasieren lassen. Caro war perplex.

      »Welcher Teufel hat dich denn geritten?«

      »Es erschien mir plötzlich alles nicht mehr richtig«, erwiderte Steffi leise. Sie fuhr sich mit beiden Händen über die glatte Kopfhaut. »Ich brauchte eine echte Veränderung. Wollte den Beginn der neuen Ära auch körperlich erleben. Es ist ein erhebendes Gefühl, wenn du jeden Luftzug spürst.« Sie grinste zufrieden. »Und du kriegst jede Menge Aufmerksamkeit.«

      Caro musste zugeben, dass die Verwandlung ihren Reiz hatte. Steffis rundes Gesicht, ihre vollen, dunkelrot geschminkten Lippen, die breite Nase zwischen ihren schwarz umrandeten Augen, die verhältnismäßig dünnen Augenbrauenbögen – ihr Gesicht enthüllte jetzt viel deutlicher als zuvor das große Maß an Warmherzigkeit, das Steffi auszeichnete.

      »Und dein Abendkleid?«, fragte Caro, während sie jetzt das Dress musterte, das Steffi stattdessen für den Abend angezogen hatte, ein weißes Dirndl aus ihrer neuen Kollektion mit einem gesmokten goldenen Einsatz auf der Brust.

      »Das werde ich verkaufen müssen, denn meine blau-grüne Periode betrachte ich ab sofort als abgeschlossen.« Dabei strich sie sich erneut über ihre Glatze und schüttelte übermütig den Kopf, so dass ihre Ohrringe, zwei Kristallzapfen, die sie aus dem neuen Kronleuchter genommen und umfunktioniert hatte, ihr an die Wangen schlugen.

      Caro bewunderte Steffi dafür, dass sie so hemmungslos umsetzte, was ihr richtig erschien. Inmitten der flackernden Kerzen auf den Golddielen wurde Caro zum ersten Mal bewusst, wie unterschiedlich sie und Steffi in diesem Punkt waren. Denn sie selber war durchaus einmal bereit zu einem Kompromiss. Beispielsweise bei der Wahl des Wohnortes, dachte sie mit einem Anflug von Wehmut und vergewisserte sich mit einem Seitenblick auf Ben, dass auch diese Strategie zweifellos ihre Berechtigung hatte.

      Bevor Caro etwas erwidern konnte, öffnete sich die Ladentür, und Steffi ging auf die Gruppe von Musikern zu, die die Gastgeberin mit einem anerkennenden »Wow, nicht übel« begrüßten, was sich auf die Ausstattung des Ateliers beziehen konnte, ebenso aber auf den rasierten Kopf, doch niemand vertiefte das Thema, und die Jungs von »Achterndeich« begannen sofort, ihre Instrumente im hinteren Teil des Ladens aufzubauen.

      Unablässig öffnete und schloss sich nun die Tür und versetzte die Flammen der Kerzen in zittrige Tänze. Grüppchen, Pärchen, Singles trafen ein, begutachteten Steffis Atelier und ihre Glatze, teils lautstark, enthusiastisch, teils entgeistert, aber höflich. Steffi umarmte ihre Gäste einen nach dem anderen und schickte sie charmant an den Tisch, an dem eine Studentin Getränke ausschenkte und die Blumensträuße versorgte. Der Raum war bald erfüllt von Gesprächen. Caro und Ben ließen sich Prosecco einschenken und waren im Begriff, in Richtung der Musiker zu gehen, als sich Steffis Bruder ihnen in den Weg stellte.

      »Oje, Caro, hab ich etwa die Mobilmachung verpasst?«, rief Matthias mit gespieltem Entsetzen, während er sie von oben bis unten musterte.

      »Was interessiert dich das? Du bist doch ohnehin untauglich.« Caro wollte sich an Matthias vorbeidrängen, aber er ließ sie nicht durch und schnaubte:

      »Ich muss schon sagen, Caro, du passt perfekt zu meiner kahlgeschorenen Schwester. Wie kann man denn ernsthaft in einer Panzerkombi hier erscheinen?«

      »Matthias«, sagte Caro mit eisiger Stimme, »hattest du jemals das Gefühl, dass deine Meinung mich interessiert? Ich meine, falls ja, möchte ich den Eindruck hiermit nachdrücklich korrigieren.« Sie schob ihr Proseccoglas gefährlich nahe an Matthias’ Anzug heran, so dass er sie und Ben schließlich passieren ließ.

      »Ihr mögt euch wohl nicht«, stellte Ben irritiert fest.

      »Erraten.« Caro hoffte inständig, er möge jetzt keinen Versuch unternehmen, ihre ehrlich empfundene Abneigung durch verfehltes Verständnis für Matthias zu verwässern.