Название | Urbis oder der Tanz der Tummelfliegen |
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Автор произведения | Kirsten Döbler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847618799 |
»Lass uns bei Jacques frühstücken gehen«, schlug Steffi vor. »Zur Feier des Tages werde ich über die Stränge schlagen. Wenn schon müde, dann wenigstens satt und müde.«
Caro war einverstanden. Ihr selbst tat es gut, ein fettes Toastbrot mit Schinken und Käse zu sich nehmen, denn es fiel ihr schwerer, ein paar Pfunde zu- als abzunehmen. Aber wenn Steffi sich dazu entschloss, den Morgen mit einer üppigen Mahlzeit zu beginnen, dann hieß das »Ausnahmezustand«.
Nach dem Frühstück trennten sich Steffis und Caros Wege. Steffi begab sich zur Vorbereitung der abendlichen Feier in ihr Atelier, und Caro ging zurück in Steffis Wohnung. Sie hatte ihr versprochen, dort mit dem Schlüssel auf Matthias zu warten, der zur Feier seiner Schwester aus München anreiste.
Caro mochte ihn nicht und sah den jungen Anwalt im Geiste schon wie seinen Vater hinter dem größten Schreibtisch einer Notariatskanzlei sitzen. Nach Meinung der Familie schlug Steffi ärgerlicherweise aus der Art. Dabei hätten die Eltern wirklich allen Grund, auf ihre Tochter stolz zu sein: Ein abgeschlossenes Modedesign-Studium und nun die Eröffnung ihres eigenen Ateliers. Aber noch immer konnten sie nicht vergessen, dass sie nach der Schule partout ein Praktikum bei einer Maßschneiderin hatte machen wollen, anstatt an dem Auswahlverfahren für Harvard teilzunehmen, das sie ihr mit Nachdruck empfohlen hatten. Erst Matthias hatte ihnen vier Jahre später diesen Herzenswunsch erfüllt.
Caro fand es empörend, dass sie Steffi die Anerkennung vorenthielten, die sie so offensichtlich verdiente. Und als sie jetzt an Steffis Eltern dachte und daran, wie sie die kreative Energie ihrer Tochter bis heute belächelten, entwickelten Caros Hände plötzlich ein Eigenleben. Sie griff blindlings auf Steffis Tisch, ihre Hand erwischte einen Graphitstift, und Caro konnte im letzten Moment verhindern, dass sie ihn auf den Boden schleuderte.
Glücklicherweise, beruhigte sie sich, dachte Steffi gar nicht daran, sich von ihrem Weg abbringen zu lassen. Sobald ihr Vater oder ihre Mutter ihr einen Plan madig machten, beendete sie das Telefongespräch oder verließ den Raum, entzog sich sofort der weiteren Einflussnahme und machte umso konsequenter das, was ihr richtig erschien. Aber eingeladen, ärgerte sich Caro, hatte Steffi ihre Familie trotzdem.
Es klingelte an Steffis Haustür. Caros Finger umklammerten noch immer den Graphitstift, und sie öffnete die Tür mit der freien Hand. Sie roch eine Molekülmischung aus teurem Aftershave und Treppenhausmoder. Im selben Moment blickte sie in Matthias’ Gleitsichtbrille und registrierte dieses halb belustigte Aufblitzen seiner Augen, das sich angesichts der Wohnsituation seiner Schwester einstellte. Caro umschloss den Graphitstift fest mit ihren Fingern.
»Einen wunderschönen guten Tag«, schmetterte Matthias, musterte sie von oben bis unten und fügte in einem kindlichen Tonfall hinzu, der so gar nicht zu seinen zweiunddreißig Jahren passen wollte: »Oho, welch apartes Armeehemd! Aus deinem vorigen Leben als Soldat?« Begeistert von seinem eigenen Scherz, fügte er wimmernd hinzu: »Aber bitte, bitte, Caro, nicht schießen, bitte tu mir nichts!«
Caro nahm sich vor, nur das Minimum an Smalltalk mit ihm zu machen, bevor sie ihm Steffis Schlüssel aushändigen und verschwinden würde.
»Komm rein«, sagte sie tonlos und ging voran über den Korridor. Der smarte Jurist betrat mit eingezogenem Kopf die Küche, als fürchte er, jeden Moment ein abgebröckeltes Stück Putz auf den Kopf zu bekommen. Plötzlich starrte er auf Steffis selbstbemalte Frühstücksteller, die sie in einem Hängeregal ausstellte, und griff sich ein Exemplar, um dessen Unterseite zu betrachten.
»Nun guck sich das einer an. KPM. Der ist unter Garantie von unserer Großmutter. Das war doch vorher ein prima Teller. Und was macht mein Schwesterherz? Verhunzt das gute Stück.« Caro betrachtete den wunderschönen Oktopus mit seinen schillernden Saugnäpfen, der zur Serie von Steffis Meerestieren in grün und blau gehörte. »Ich kann das einfach nicht verstehen«, fuhr Matthias fort. »Ich würde gern begreifen, wie man gebaut sein muss, um das Produkt einer anerkannten Firma ein für allemal mit aufgepinselten Frutti di mare zu verderben.«
»Knack«, sagte es, und der Grafitstift in Caros Hand war zerbrochen. Überrascht registrierte sie, dass dies einer jener Zerstörungsakte war, die ihr früher so zahlreich, nun aber schon lange nicht mehr unterlaufen waren. Der Schaden, beruhigte sie sich, hielt sich in Grenzen, ein kleiner Grafitstift, dessen Verlust Steffi leicht verschmerzen würde, aber dennoch. Er war ein Anklang an vergangene Zeiten, in denen vieles zu Bruch gegangen war, und Caro legte die beiden Teile des Stiftes schnell auf den Tisch, als müsse sie sich von ihrem unheilvollen Einfluss befreien, bevor sie zu Matthias sagte:
»Mit Geschirr ist es wie mit Mode, Möbeln und Musik. Spießer kommen nur mit Konfektionsware klar.« Und damit langte sie in die Beintasche ihrer Cargohose, aus der sie Steffis Schlüsselbund zog und vor Matthias auf den Tisch warf. »Bis heute Abend. Wird sich wohl nicht vermeiden lassen, dass wir uns über den Weg laufen.«
Während sie an Matthias vorbei Richtung Flur ging, fing sie einen Blick von ihm auf, der sie an irgendetwas erinnerte. An irgendjemanden. Es war der Blick einer Person, die alles, was Caro tat, vollkommen unpassend und schlichtweg unmöglich fand. Ja, es war derselbe Blick, den sie von ihrer Schwester Petra kannte. Dieser Blick, der sie getroffen hatte, wann immer sie ihr auf dem Schulhof oder vor dem Zeitschriften-Kiosk über den Weg gelaufen war. Diese leicht angeekelte, zweifelnde Miene in Petras Gesicht. Ungläubig und vorwurfsvoll zugleich, als könne sie nicht verstehen und verlange eine Erklärung dafür, aus welchem Grund sie mit solch einer Schwester wie Caro gestraft sei.
Solch einer »Hexe«, wie Petra sie zu nennen pflegte. Nicht nur hatte die Schwester ihr dieses Wort hinterhergeschrien, immer und immer wieder, nein, eines Tages hatte sie sich das Taschenmesser des Vaters ausgeliehen und die Gleichung CARO=HEXE in die Rinde der Baumstämme geritzt, an denen Caro Tag für Tag auf ihrem Weg zur Schule vorbeikam.
Dabei war sich Caro keiner Schuld bewusst gewesen, im Gegenteil, weder hatte sie die Schwester verraten, wenn diese heimlich auf der Schultoilette rauchte, noch hatte sie ihr Widerstand entgegengesetzt, wenn sie ihr Taschengeld an sie abtreten sollte. Caro hatte lediglich von ihr wissen wollen, wie man den Konjunktiv II von »helfen« bildete, denn Petra war schließlich zwei Klassen über ihr. Caro verstand nicht, warum ihre Schwester darüber so ungehalten wurde, dass sie sich am nächsten Tag die Mühe machte, ihre Hexengleichungen in die Baumrinde zu ritzen.
Über die Jahre wuchsen nicht nur die Buchen und Linden selbst, sondern ganz langsam und unaufhaltsam auch ihre Inschriften. Sie sprangen Caro an jedem Schultag ins Auge, so dass sie bald sehnsüchtig das Ende ihrer Schulzeit herbeiwünschte.
5
Ben bog mit seinem Kombi zum dritten Mal in die Schanzenstraße ein und schüttelte den Kopf.
»Ein Segen, dass wir dieses Parkplatzchaos bald für immer hinter uns lassen«, hörte Caro ihn seufzen und biss sich auf die Lippen. Durch die Windschutzscheibe sah sie die Häuserzeilen des Viertels vorbeiziehen. Sie fand es keineswegs lästig, einige Male um den Block zu fahren, um eine Parklücke zu suchen. Im Gegenteil, beim Abfahren der Haupt- und Nebenstraßen genoss sie es, Teil einer Menge von Menschen zu sein, die irgendwo inmitten all der Trödelläden, Boutiquen, Ateliers, türkischen Gemüsehändler oder asiatischen Imbisse von irgendwem erwartet wurden. Oder auch von niemandem erwartet wurden, alleine im Viertel unterwegs waren, sich in ein Café setzten, an ihrem Getränk nippten und dem Leben auf der Straße zusahen, dem sie selber angehörten, sobald sie sich von ihrem Stuhl erhoben.
Der Kombi quälte sich einen Kantstein hinauf und kam neben einem Straßenschild zum Stehen, dessen Pfahl über und über mit Zetteln beklebt war, so dass er Caro an einen Wunschbaum denken ließ. Ben stellte den Motor ab. Beim Verlassen des Wagens trat er in eine Pappschale mit Essensresten