Urbis oder der Tanz der Tummelfliegen. Kirsten Döbler

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Название Urbis oder der Tanz der Tummelfliegen
Автор произведения Kirsten Döbler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847618799



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zurückwarfen, so dass Caro nur noch abzudrücken brauchte. Die Momentaufnahmen ihrer Freiluftaktivitäten betrachtete sie später am Rechner: Ben beim Sprung über eine Parkbank, Ben beim Hüpfen in der Hocke, Ben, wie er auf sie zugelaufen kam – er schien immer in Bewegung zu sein.

      Jeden Moment würde nun die Hupe seines dunkelblau glänzenden Combis zu hören sein. Man konnte sich darauf verlassen, dass Ben stets pünktlich zum verabredeten Termin erschien. Caro betrachtete sich noch einmal in ihren Spiegeln: Die roten Haare kontrastierten wie gewünscht mit dem Oliv ihres Hemdes. Sie fühlte sich gerüstet für ihren Jahrestag.

      2

      Ranjeet räumte die leeren Teller ab, auf denen er zuvor Gemüsepakoras mit Minzsauce und Kichererbsen mit Lamm serviert hatte. Er schenkte nach, und Caro ließ einen Schluck des kräftigen Angoori-Weins durch ihre Kehle gleiten. Sie beobachtete, wie Ben sich mit dem Wirt unterhielt. Ranjeet gab sicher keine Weisheiten von sich, aber Ben besaß die Fähigkeit, allein durch seine Aufmerksamkeit und Zuwendung das an sich triviale Gespräch bedeutungsvoll erscheinen zu lassen.

      Sie bewunderte diese Fähigkeit umso mehr, als Bens Verhalten von keinerlei Berechnung gesteuert war. Er mochte Menschen und schien alles, was sie sagten, ernst zu nehmen. Ben hatte den richtigen Beruf gewählt; er war ein guter Arzt. Die Menschen vertrauten seinem Urteil, und Caro war sicher, dass in nicht unerheblichem Maße seine überzeugende Intonation und Anteilnahme zu ihrer Genesung beitrug. Gelegentlich allerdings beunruhigte Caro seine Leidenschaft für den Beruf, auch wenn alle wissend mit dem Kopf nickten, sobald sie auf das Arbeitspensum eines Klinikarztes zu sprechen kam. Aber war es gut, so viel Zeit mit Arbeiten zu verbringen? Andererseits war sie froh über seine Ernsthaftigkeit. Auf Ben war Verlass, das hatte sie vom ersten Tag an gespürt, und sie fand, dass sie allen Grund hatte zu feiern.

      Ranjeet war wieder in der Küche verschwunden. Ben schob sein Glas beiseite und lehnte sich mit seinem Oberkörper über den Tisch, um an Caros Finger heranzureichen. Sie rollte sie ein und drehte ihre Fäuste ganz leicht in der schützenden Schale seiner Hände. Die Reibung ihrer Hautflächen vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit, von einer Geborgenheit, die sie im Laufe des vergangenen Jahres anfänglich mit ungläubigem Staunen, später mit wachsendem Vertrauen genossen hatte. Ben schaute ihr in die Augen und drückte ihre Hände. Jetzt würde er das Geheimnis lüften. Sie reckte den Hals noch ein Stück weiter nach vorne.

      »Carissima, erinnerst du dich an Bertram, meinen Kollegen, mit dem ich Tennis spiele?« Caro nickte und zog die roten Augenbrauen hoch, um vollste Aufmerksamkeit zu signalisieren. »Also Bertram«, sprudelte es im nächsten Augenblick aus Ben nur so heraus, dass Caro Hören und Sehen verging. Bertrams Vorschlag, Bertrams Vater, Bertrams Angebot. Die Fakten jagten so schnell vorbei, dass Caro sie nur mühsam erfassen konnte. Der sonst so gelassene Ben hastete von Satz zu Satz, als er seinen Fluchtplan aus der Klinikmühle schilderte, und Caro begriff schließlich: Bertrams Vater hatte eine Arztpraxis in der niedersächsischen Provinz, die er seinem Sohn übergeben wollte. Und dieser hatte Ben, der sein Glück kaum fassen konnte, vorgeschlagen, als Partner einzusteigen.

      »Was sagst du nun«, hörte sie Ben mehr schreien als sprechen, als er sich und ihr das Leben in einem bezaubernden kleinen Ort am Rande des Elm-Höhenzuges ausmalte. »Und so ein Hauptgewinn rechtzeitig zu unserem Jubiläum – die Götter müssen uns lieben!«

      Caro wollte etwas sagen, öffnete den Mund, aber es wollten sich keine Worte formen. Sie war sich nicht sicher, dass sie begriffen hatte, was Ben damit andeuten wollte. Überlegte er etwa ernsthaft, in eine Landpraxis einzusteigen? Aber das ging nicht! Er konnte doch Hamburg nicht verlassen, wie stellte er sich das vor?

      Sie hastete gedanklich hin und her und hatte mit einem Mal die Zukunft klar vor Augen: Sie würden eine Wochenendbeziehung führen müssen. Aus und vorbei mit spontanen Treffen in Kneipen und Cafés, Schluss mit der Kostbarkeit ungeplanter Augenblicke, alles würden sie künftig im Voraus bedenken müssen. Bei Regen, Schnee, bei Hitze, immer würden über zweihundert Kilometer zwischen ihnen liegen, die es zu überwinden galt. Frühes Aufstehen am Wochenende, überfüllte Züge, Staus auf der Autobahn. Und darüber sollte sie sich freuen?

      »Wie stellst du dir das vor? Ein Wochenende hier, ein Wochenende dort?«, war schließlich das Einzige, was sie auszusprechen in der Lage war.

      »Caro!«, versuchte Ben sie zu begeistern für eine Idee, die, so musste er bekennen, zwar ganz frisch sei, aber sie müsse zugeben, das sei ein Angebot, das zu prüfen sich lohne, er könne zu unschlagbar günstigen Konditionen einsteigen, sie müsse sich nur mal vorstellen, einen eigenen Arbeitsbereich, keine Klinikdienste, keine Rufbereitschaft, nie mehr den Chefarzt im Nacken. Natürlich sei das zunächst nur ein Angebot von Bertram, über das er nachdenken solle. Aber er habe gehofft, sie könnten das gemeinsam tun. Er blickte ihr direkt in die Augen.

      »Ist es für dich denn so abwegig, dass wir gemeinsam umziehen?« Mit einem Ruck saß Caro kerzengerade auf ihrem Stuhl. Sie nahm ihren Kelch in die Hand und trank den Angoori-Wein mit einem kräftigen Schluck aus. Beim Absetzen des Glases fiel ihr Blick auf eine Spur von Weinstein auf seinem Kristallboden, die ihr wie angespültes rotes Strandgut erschien. Alles, einfach alles war in Auflösung begriffen, trieb über die Ozeane und wurde irgendwo als Treibholz wieder angeschwemmt.

      »Du meinst, aus Hamburg wegziehen?« Caro konnte selbst nicht glauben, was sie da fragte. Das war vollkommen undenkbar.

      »Wäre das so schlimm?«

      »Eine Katastrophe wäre das«, hätte Caro am liebsten gerufen, aber da Bens Miene einen solchen Enthusiasmus verriet, dass jede Bejahung der Frage einer schroffen Zurückweisung gleichgekommen wäre, schwächte sie ihre Antwort ab:

      »Seit dem Tag, an dem ich aus dem Dorf und Haus meiner Eltern fortgegangen und nach Hamburg gezogen bin, habe ich niemals daran gedacht, die Stadt je wieder zu verlassen.«

      Erschrocken räumte Ben ein, er hätte sie mit der Idee nicht so überfallen sollen. Ihm ginge jedoch das Gespräch mit Bertram nicht mehr aus dem Kopf, und an diesem besonderen Tag habe er sich darauf gefreut, bei einer Flasche Wein und Ranjeets Köstlichkeiten gemeinsam mit ihr über den Vorschlag nachzudenken.

      Wie auf Kommando nahte mit kleinen schnellen Schritten der Wirt, servierte Caro ihre Okra mit Kokosnuss und Ben sein Tandoori-Hähnchen und schenkte mit ruhiger Hand Rotwein nach. Kaum war er wieder in der Küche verschwunden, sagte Caro mit einer leichten Schärfe in der Stimme:

      »Nachzudenken? Sieht aus, als hättest du dich schon entschieden« und wickelte sich vor lauter Anspannung eine ihrer losen Strähnen um den Mittelfinger, bis sie am Haaransatz angekommen war, wo sie so lange an dem Strang zerrte, bis sie einige der Fäden in der Hand hielt.

      »Möglicherweise bietet sich nie wieder eine so günstige Gelegenheit. Und du weißt ja selbst, dass ich bestimmt nicht traurig wäre, dem Lärm der Stadt zu entkommen. Aber ohne dich wäre die Aussicht natürlich trübe.«

      Caro beobachtete, wie Ben sich aus einem kleinen Schälchen eine bescheidene Portion Chutney auf seinen Teller füllte, nicht zu viel, um seinen Zuckerkonsum in Grenzen zu halten. Sie schüttelte sich die ausgerupften Haare von der Hand, ließ sie neben sich auf den Steinfußboden gleiten und dachte:

      »Trübe, mag sein. Aber gehen würdest du auch ohne mich.«

      Laut bat sie ihn darum, ihr Zeit zum Nachdenken zu geben und das Thema zu vertagen.

      »Sicher«, sagte Ben und begann dennoch, ihr alle Einzelheiten zu Lage und Ausstattung der Praxis und Aussicht auf Übernahme des Personals zu erläutern. Je länger er von den Möglichkeiten erzählte, die die Zukunft für ihn bereit hielt, desto deutlicher wurde Caro, dass er mit Bertram bereits detailliert geplant haben musste. Selbst die Aufteilung der Praxisräume konnte er ihr schon auf der Serviette aufzeichnen. Und je eifriger Ben Detail an Detail reihte, um seinen Traum möglichst plastisch auszumalen, desto diffuser wurden Caros Bilder ihrer eigenen Zukunft, so dass sie mit einem Mal das Gefühl hatte, Ben stoppen zu müssen.

      »Lass uns heute die Zeit anhalten«, unterbrach sie ihn. Gesenkten Hauptes stocherte sie in ihrem vegetarischen Curry herum. Mit einem Mal fühlte sie sich wieder in die