Schatten und Licht. Gerhard Kunit

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Название Schatten und Licht
Автор произведения Gerhard Kunit
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738021592



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Haar. So wie Alles an Magistra Professura Vilana Südfahrer und das Gleiche erwartete sie natürlich auch von den vierzehn angehenden Zauberinnen und Zauberern, die, fein säuberlich nach Alter gereiht, an den Schreibpulten standen. „Die Älteren schreiben heute auf Pergament. Carol, gib jedem einen Bogen, aber nur einen.“

      Ein schlaksiger Junge mit braunem, kurz geschnittenem Haar nahm die acht schon mehrfach abgeschabten Bögen entgegen.

      „Kyrina, die Tintenfässer bitte. Pass auf die Federkiele auf. Mit den Kleineren ….“ Die Lehrerin stockte. Ihr Blick heftete sich auf das leere Pult in der zweiten Reihe. „Hat jemand Sylva gesehen? Wo steckt das Kind denn wieder?“

      Die beiden blonden Mädchen aus der ersten Reihe, nicht älter als sechs oder sieben, wohl frisiert und in weiße Umhänge gekleidet, sahen eingeschüchtert zu ihr auf und von den kaum älteren Burschen dahinter kam auch keine Antwort. Schließlich meldete sich Kyrina: „In Grundlagen der Alchimie hat sie ihre Schwefelbasis versemmelt. Vielleicht ist ihr übel.“

      „Hat sie ihre Schwefelbasis verdorben“, korrigierte die Magistra, doch ihr Missmut über das Fehlen der Schülerin schien sich zu legen. „Also mit den Kleineren …“

      Jäh flog die Türe auf. Wie ein Wirbelwind schoss die Vermisste mit wehendem schwarzem Haar in die Schreibstube. Es schien, als würde sie Carol umlaufen, aber sie schaffte es ohne Zwischenfall zu ihrem Pult. Dort blieb sie sichtlich erhitzt stehen und rang nach ihrem Atem.

      „Wo in aller magischen Winde Namen bist du gewesen, du störrisches Kind?“, herrschte die Lehrerin die Achtjährige an.

      „Ich … ich war noch im Garten und ich habe die Zeit vergessen.“ Die hellgrauen ausdrucksstarken Augen hielten dem Blick der Älteren mühelos stand.

      „Wie du wieder aussiehst. Aus dir wird nie eine respektable Magierin.“ Missbilligend musterte die Lehrerin die Flecken im Umhang der Schülerin und fixierte schließlich die Kletten und Ästchen, die sich in Sylvas Haaren verfangen hatten.

      „Schreiben“, sagte die Magistra. „Zwei Stunden schreiben nach dem Abendbrot, nein, statt dem Abendbrot.“ Mit einer schroffen Bewegung riss sie dem Mädchen eine der Kletten aus dem Haar und warf diese samt der Strähne, in der sie sich verfangen hatte, angewidert hinter sich. „Disziplin, Ausdauer, Regeln, Strenge: Das braucht ein Magier, wenn er seine Kunst beherrschen und seinem Land und seinem Kaiser dienen will. Wissen, Übung und wieder Disziplin, das ist euer Leben.“

      Hundertmal habe ich das schon gehört, dachte Sylva. Wann lernen wir endlich richtig zaubern? Und kämpfen? Schreiben, Lesen, Strammstehen, komplizierte Mixturen fertigen – all das musste sie lernen und Vieles mehr. Aber es war schwer, wenn man sich dazwischen nicht austoben konnte. Den Übrigen schien das wenig auszumachen. Die machten einen großen Bogen um die kräftigen Burschen und Mädchen aus der Stadt, wenn sie überhaupt einmal die Schule verließen. Aber sie war nicht wie die Anderen. Sie hatte Spaß an den einfachen Körperübungen, die oft genug ausreichten, den einen oder anderen Mitschüler ins Schwitzen zu bringen.

      Mittlerweile schrieben die Jüngeren bereits auf ihren Schiefertafeln. Vorsichtig schielte Sylva nach rechts, um zu sehen, welches Zeichen geübt werden sollte. Die Buchstaben der Gemeinsprache beherrschte sie schon ganz ordentlich, doch die verschlungene Schrift der alten Magier wollte sich ihr nicht erschließen.

      Disziplin, schoss es ihr durch den Kopf. Ich muss mich zusammenreißen. Ah, das große C, mehr als nur ein Buchstabe. Wie jedes Zeichen der alten Sprache war auch das C mit einer eigenständigen Bedeutung versehen. Es stand für die Alchimie, die Kunst aus vorhandenen Stoffen Neues zu erschaffen, von eigener Beschaffenheit und ungleich wertvoller als die Summe seiner Teile.

      Das Kratzen in ihrem Hals erinnerte Sylva an den Vormittag, als ihre Schwefelbasis zu blubbern begann und ätzenden, gelblich fettigen Rauch absonderte, bis Magister Reimer die Schüler ins Freie trieb. Gerade ihr passierten solche Missgeschicke immer wieder, obwohl sie ihren Alchimielehrer schätzte. Anders als Magistra Südfahrer war er nett zu ihr und sie hätte sie sich in seinem Unterricht gerne geschickter angestellt, aber ….

      Erschrocken sah sie auf Nikkis halb bekritzelte Tafel: Sieben verschnörkelte C, fein säuberlich nebeneinander gereiht, wackelig, aber sicherer werdend. Rasch wischte sie ihren einen, halbfertigen Buchstaben ab. Sie wollte sich jetzt richtig Mühe geben.

      „Sylva!“, brüllte eine sich überschlagende Stimme in ihr Ohr. „Träumen kannst du in der Nacht!“

      Da spürte sie eine Bewegung in ihrem Umhang. Auf das Streifenhörnchen, das sie heute im weitläufigen Garten der Akademie eingefangen hatte, hatte sie vollkommen vergessen. Gewöhnlich hielten sie sich ruhig, wenn es dunkel und halbwegs still war, aber Frau Südfahrers Gezeter erschreckte das Tierchen. Das war nicht gut, gar nicht gut. Verzweifelt hielt sie die Tasche zu und hoffte, das arme Hörnchen möge sich beruhigen.

      „Zappel nicht so!“ Die Lehrerin packte Sylvas Handgelenke und im selben Moment schoss das verängstigte Fellbündel aus ihrer Tasche. Es sprang auf ein Schreibpult und von dort zum nächsten. Die Kinder hatten keine Ahnung, was da so plötzlich vor ihnen hin und her flitzte und kreischten. Ein Tintenfass kippte auf eines der Pergamente, während ein anderes seinen Inhalt über den geölten Holzboden ergoss.

      „Stein!“ rief die Magistra und wies auf das Tier. Es erstarrte in der Bewegung, kippte um und blieb liegen. „Bringt … dieses … Ding … hinaus!“, keuchte sie, ehe sie wutschnaubend die Schreibstube verließ.

      Nikki und Satina, die Mädchen aus der ersten Reihe, brachen in haltloses Schluchzen aus. Kyrina versuchte ihnen zu erklären, dass das Streifenhörnchen in einer Stunde wieder durch den Garten tollte. Die anderen bemühten sich Ordnung zu schaffen und die Ausbreitung der Tintenseen einzudämmen. Sylva wollte im Erdboden versinken.

       * * *

      Disziplin, Ausdauer, Regeln, Strenge, prägte sie sich ein, während sie mit all der Kraft, die ein achtjähriges Mädchen aufbringen konnte, den Steinboden der Latrine bearbeitete, als könnte sie ihn komplett wegscheuern. Vier Wochen alle Abtritte der Akademie säubern, die Böden schrubben und die schweren, stinkenden Eimer leeren.

      Dabei hatte sie Glück gehabt. Ohne Magister Reimer wäre sie von der Schule geflogen. Er hatte lang und breit ausgeführt, dass derartiges Fehlverhalten nach Unfällen mit schwefelhaltigen Substanzen vorkäme, und die Rektorin hatte ihn über den Rand ihres Monokels hinweg angesehen, als müsste sie ein Schmunzeln unterdrücken.

      Disziplin, Ausdauer, Regeln, Strenge: Sylva würde sich mehr Mühe geben.

       * * *

       Hilmar Reimer, Lehrmeister an der Akademie des Hohen Magischen Kampfes zu Bethan

      Etwa zwei Jahre später schlenderte Magister Reimer den Karrenweg zur Stadt hinunter. Wie lange war es her, dass er selbst das Examen an der „Akademie des Hohen Magischen Kampfes zu Bethan“ abgelegt hatte?

      Als er seinen Streit mit Vilana dachte, regte sich sein Zorn. Wie so oft ging es um Sylva, der es schwer fiel, sich der strengen Disziplin zu unterwerfen, und wieder musste er die Kleine in Schutz nehmen. Selbst fünfundzwanzig Jahre Unterricht befähigten nicht jeden zu einem wertschätzenden Umgang mit den Schülern.

      Eine kleine Dosis praktischer Erfahrung täte ihr gut, dachte er. Vilana hatte die Akademie nie verlassen. Nach ihrer Abschlussprüfung – mit exzellenter Gesamtbeurteilung – äffte er sie in Gedanken nach, hatte sie als Assistenzkraft begonnen und war durch Fleiß und Ausdauer bald zu einer Lehrstelle gelangt. Die Härte und Disziplin, der sie sich in ihrer eigenen Ausbildung unterwerfen musste, legte sie mit Akribie auf ihre Schüler um.

      Nach seinem Abschluss erforschte Reimer die Schönheiten und Wunder, aber auch die Abgründe dieser Welt. Er durchstreifte das Reich im Dienste Seiner Majestät Kaiser Polanas und sah dabei so manches Mal dem Tod ins Auge. Disziplin, Regeln und Ausdauer, die drei Grundprinzipien der Akademie, retteten ihm dabei mehr als einmal das Leben – und genauso oft bedurfte es der Improvisation und der