Schatten und Licht. Gerhard Kunit

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Название Schatten und Licht
Автор произведения Gerhard Kunit
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738021592



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König Eberherz und der Drache

      Jahr 17, König Eberherz von Bael, Sommer

       König Eberherz

      Das sanfte Licht der Abenddämmerung wollte nicht zu den vielen Gefallenen am Grund des weitläufigen Hochtals passen. Nach den stundenlangen Kämpfen war König Eberherz am Ende seiner Kräfte. Sein Schwertarm schmerzte und eine Delle in der Schulterplatte behinderte seine Bewegungen.

      Sein Blick glitt über das zusammengeschmolzene Häuflein seiner Getreuen. Hundertzwanzig mochten es noch sein oder hundertdreißig und kaum einer war unverletzt. Sie hatten gekämpft, als wären sie von KORON’CHA, dem leibhaftigen Kriegsgott beseelt, doch was zählte persönliche Tapferkeit gegen die Armbrüste und Schleudern der zahlenmäßig überlegenen Zwerge?

      Reinalf von Schwanenau lächelte ihm trotz des klaffenden Schnitts auf seiner Wange aufmunternd zu. Vor drei Monden erst hatte er den jungen Heißsporn zum Baron erhoben. Neben ihm hockte Orima von Graueneck. Ihr verdrecktes Gesicht war fahl und leer. Tagelang hatten ihre gebirgserfahrenen Grenzer dem Feind zugesetzt, doch jetzt war von ihren Männern und Frauen kein halbes Dutzend mehr am Leben.

      Eberherz sah der Wahrheit ins Auge: Es war zu Ende und sie würden den morgigen Tag nicht überstehen. Eine seltsame Mischung aus Stolz und Trauer überkam ihn, als er zu seiner Tochter, Prinzessin Rian, sah. Sie lag auf einer einfachen Pferdedecke am rauen Fels und war vor Erschöpfung eingeschlafen. Nicht einmal ein Zelt konnte er ihr bieten, seit der Tross dem nachdrängenden Gegner in die Hände gefallen war. Vierzehn Jahre war das Mädchen alt, hochgewachsen und hübsch. Sie war auf dem besten Weg, eine starke Kriegerin zu werden, und wirkte dennoch so friedlich und verletzlich. Er hielt seine Tränen nicht länger zurück. Er wollte ihr ein Königreich hinterlassen, das ihre würdig wäre, doch jetzt erwarteten sie Erniedrigung und Tod, weil er versagt hatte.

      Seine Gattin, Königin Rosalind und der kleine Prinz Farwin befanden sich auf dem Stammsitz seiner Familie, Burg Balenstein. Die lag nahe der Hauptstadt, und war somit etliche Tagesmärsche entfernt, doch selbst ihre starken Mauern boten nur eine trügerische Sicherheit. War Eberherz‘ Heer erst vernichtet, könnten weder Stadt noch Festung standhalten.

      Karina, seine Knappin, befreite ihn von der kaputten Schulterplatte. „Sieglunde wird das ausklopfen, Sire.“

      „Danke.“ Danke? Mehr brachte er nicht über die Lippen? Hier lagen die Männer und Frauen, die das Königreich mit ihm aufgebaut hatten, die morgen an seiner Seite stürben und er sagte „Danke“?

      In der Dämmerung glommen am Ausgang des Tals die Feuer der Zwerge auf, und weitere auf den Gipfeln und am Gegenhang. Eberherz war eingekesselt, und das wollten sie ihn wissen lassen. Seine Schritte trugen ihn an den Rand des kleinen Lagers und weiter, bis er die Linie der äußeren Posten erreichte. Er erwartete eine ruhige Nacht. Die Zwerge hatten schon gewonnen und Kämpfe im Finsteren waren unberechenbar. Warum sollten sie das Risiko eingehen und zudem auf den Vorteil ihrer überlegenen Fernwaffen verzichten?

      Soll ich mein Glück im Dunkel der Nacht versuchen? Er verwarf den Gedanken, als er an die müden Blicke seiner Männer dachte. Er selbst hielte nach dem heutigen Tag keine Stunde mehr durch und den Übrigen erginge es nicht besser.

      Der König verfluchte seinen Stolz. Er hatte die Zwerge in Allem unterschätzt: In Bezug auf Mannstärke und Kampfkraft ebenso, wie in ihrer Bereitschaft, ihre heimatliche Wüste zu verlassen und sich in die unbekannten Berge zu wagen, nur um eine Beleidigung zu sühnen. Der Anlass war nichtig gewesen, aber in seiner Halsstarrigkeit hatte er die Eskalation des Konflikts in Kauf genommen.

      Wird der Ban‘Tir der Zwerge meiner Familie und meinen Getreuen gegenüber Gnade walten lassen, wenn ich sterbe? Eberherz zog Wertung aus der Scheide und betrachtete die vertraute Klinge, die ihn durch viele Kämpfe begleitet hatte. „Wirst Du mir ein letztes Mal dienen?“, flüsterte er, während er die Steine nach einer Stelle absuchte, in die er das Heft klemmen könnte.

      „Mein König?“

      Eberherz schrak hoch und erkannte Orima, die ihn eindringlich musterte. Lässt Du uns im Stich?, las er in ihren Augen. Gehst Du den Weg des Feiglings? Sie sah ihn an, schweigend und durchdringend.

      „Bis in den Tod“, sprach der König das Ende der Eidesformel, die seine Getreuen an ihn band. Sie bindet auch mich, wurde ihm schmerzlich bewusst. Der Freitod ist kein Weg für einen König. Ich muss es zu Ende bringen.

      „Bis in den Tod“, wiederholte Orima erleichtert und schlug ihre Faust gegen ihre gepanzerte Brust.

      Aus dem Lager erschollen entsetzte Schreie. Griffen die Zwerge doch an? Während Eberherz und Orima Seite an Seite loshasteten, erbebte der Fels unter einer dumpfen Erschütterung. Was war das für eine neue Teufelei?

      Eine Feuerlohe schoss in den Himmel und erhellte die Nacht. In ihrem Widerschein erkannte Eberherz einen roten Drachen, der mit halb ausgebreiteten Schwingen inmitten des Lagers stand. Die Baeler umringten ihn mit erhobenen Schilden und blanken Waffen, doch die Blicke, die sie sich zuwarfen, waren angsterfüllt und wollten nicht zu ihrem kriegerischen Gehabe passen. Es gibt keine Drachen, rief sich der König in Erinnerung. Ist hier Zauberei im Spiel?

      „König Eberherz! Auf ein Wort!“, dröhnte eine Stimme durch die Nacht.

      Wenn der für die Zwerge kämpft, brauche ich an Morgen gar nicht mehr zu denken, schoss es ihm durch den Kopf.

      „Tue ich nicht“, beruhigte der Drache. „Ruf Deine Kämpfer zurück.“

      Habe ich gerade laut gesprochen?, dachte der König. Und wieso kann nur ich ihn hören?

      „Erstens Nein: Du hast nur laut gedacht. Und zweitens: Weil ich das so will. Können wir reden?“

      Eberherz stieß Wertung in die Scheide. „Senkt die Waffen!“, befahl er. Die Frauen und Männer gehorchten zögernd, während sie das gewaltige Wesen misstrauisch beäugten.

      Ich bin gespannt, was er wirklich will, dachte Eberherz.

      „Sagte ich doch schon!“, erklang es in seinem Kopf. „Reden. Ich werde Dir einen Handel vorschlagen. Obwohl er fair ist, wird er Dir nicht gefallen.“

       * * *

       Orima von Graueneck

      Schlimmer kann es nicht werden, hatte Orima nach der heutigen Niederlage gedacht, aber sie hatte sich geirrt. Fassungslos starrte sie auf den Drachen, dessen rostrote Schuppen im Licht der Feuer funkelten. Sie war auf das Ärgste gefasst und sie war kampfbereit. Ebenso wie die Gefährten, die ängstlich und dennoch entschlossen abwarteten.

      Der König und der Drache starrten sich an. Das Einzige, das Orima hörte, war ihr eigener Atem. Sie traute ihren Augen nicht, als Eberherz Wertung in die Scheide schob und auf das Untier zuging.

      Hat er tatsächlich befohlen, die Waffen zu senken? Orima zögerte, während ihr Blick über Samrings funkelnde Schneide wanderte. Das Schwert stand seit vier Generationen im Besitz ihrer Familie und sie senkte die Klinge nur widerwillig.

      Der Drache wandte sich ab, trottete in die Finsternis und Eberherz folgte ihm. Orima wollte sich ihnen anschließen, doch der König bedeutete ihr zu bleiben. Da trat sie zu Prinzessin Rian, die ausdruckslos in die Finsternis starrte und legte ihr den Arm um die Schulter, doch die tröstenden Worte blieben ihr im Hals stecken.

       * * *

      Trotz ihrer Müdigkeit war an Schlaf nicht zu denken. Alle drei oder vier Zehntelstunden ließen die Zwerge ihre schaurigen Kriegshörner erschallen. Wir sind da, schienen sie zu sagen. Ihr könnt uns nicht entkommen.

      Sie erhob sich und patrouillierte durch das Lager. „Nur Mut“, sagte sie den Frauen. „Wenn sie sich ihrer Sache sicher wären, bräuchten sie das Theater nicht.“ Sie wusste nicht, woher sie die Kraft für die hohlen Worte nahm, doch sie zeigten Wirkung. „Kopf hoch“, bestärkte sie die Männer. „Der König kehrt