Schatten und Licht. Gerhard Kunit

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Название Schatten und Licht
Автор произведения Gerhard Kunit
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738021592



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hatte keinerlei Verständnis für jemanden, der seinen Ruf derart infam beschädigte. Die Fähigkeit des Verzeihens zählte nicht zu seinen Tugenden.

       * * *

      Die Geliebte der Göttin

      Vergangenheit: Jahr 9 des Kaisers Polanas, Spätsommer

       Orema, Mutter der Weisheit, Hohepriesterin der UNA

      Sorgfältig strich Orema ihre Robe glatt. Die langen, schlanken Finger fuhren zärtlich über die kühle Seide. Prüfend sah sie in die kalte Oberfläche des Lotusspiegels und richtete die dunklen Locken, die ihr Gesicht umspielten. Mit einem Lächeln stellte die Oberin fest, dass ihr weder das Alter noch ihre leidenschaftliche Hingabe an die Erdmutter UNA und deren ungezügelte Tochter ERU mehr als ein paar Fältchen in den Augenwinkeln abgetrotzt hatten.

      Zeit ihres Lebens war ihr der Zirkel des dunklen Mondes Aufgabe, Bestimmung und Leidenschaft gewesen, und seit mehr als zehn Mondjahren lenkte sie die Schwesternschaft. Als Mutter der Weisheit war sie unbestrittene Autorität und Führerin, doch nun, da die Runen die Erfüllung der Prophezeiung verkündeten, war sie unsicher, nervös und zugleich auch von Feuer und Begeisterung erfüllt.

      Obwohl Orema die Schriften des Zirkels ausgiebig studierte, wusste nicht einmal sie, wie alt die Schwesternschaft tatsächlich war. Es mussten Jahrtausende sein. Alle paar Menschenleben offenbarte sich eine vage Gelegenheit, die Ankunft der Befreierinnen herbeizuführen, doch erst zweimal war es gelungen, das Schicksal bis zur Geburt der Zwillinge zu erfüllen. Beide Male waren die Mädchen frühzeitig verstorben, vermutlich ermordet worden. Nun lag es an ihr, und sie hatte ihr Leben nicht dieser Aufgabe verschrieben, um zu scheitern.

      Energisch schüttelte Orema die widerstreitenden Gefühle ab. Sie legte sich den Samtumhang mit den heiligen Symbolen der Erdmutter um die Schultern und verließ ihr Gemach. Aus dem dunklen Gang, der zur Ritualhalle führte, drangen die Gesänge der versammelten Schwestern.

      In der gegenüberliegenden Kammer bereitete sich ihre jüngere Schwester Sharana auf das wichtigste Ritual ihres Lebens vor. Während die Erdmutter UNA – und ihre Priesterin Orema – für Fruchtbarkeit und Mutterschaft, Ehe und Treue, Heim und Gastfreundschaft stand, verkörperte Sharana UNAs Tochter ERU mit all ihrer Verlockung, ungezügelten Leidenschaft und Freizügigkeit. So verschieden die Göttinnen waren, so sehr unterschieden sich auch die Schwestern. Orema war tatkräftig und energisch, selbstsicher und stark. Sie besaß einen sehnigen, kräftigen Körper und ein Gesicht voll klassischer Schönheit. Sharana war hingegen anschmiegsam und lieblich. Körper und Gesicht wiesen weiche Linien auf, allzeit Begehren und Verlangen auslösend.

      Orema klopfte an die Tür, während sie sich gleichzeitig für ihre Ungeduld schalt. Als ihre Schwester schließlich aus der Kammer trat, war es Orema, als erschiene ihr die Göttin der Liebe selbst. Der Duft frischer Kräuter hüllte Sharana ein und ihr Gesicht war sorgfältig geschminkt. Sie trug einen blütenweißen Umhang, unter dessen Kapuze sich eine blonde Strähne hervorstahl, die ihr Gesicht umspielte. Orema wusste, dass sie unter dem fließenden Stoff nackt war, nackt, bis auf ERUs Collier und die auf die Haut gemalten Runen von Liebkosung, Verlangen und Vereinnahmung. Die Schwestern küssten sich leidenschaftlich.

      Orema besann sich auf die Aufgabe, die vor ihnen lag und brach die Umarmung. Nie zuvor hatten sie es gewagt, ERU in ihrer zügellosen, weiblichen Leidenschaft, ihren Bruder PHALLON als männlich fordernde, wilde und ungestüme Seite der Sexualität und die Erdmutter UNA in ihrer ungezähmten Urkraft gemeinsam zu beschwören. Zu unberechenbar war die gleichzeitige Wirkung dieser Kräfte. Glaubte man den Legenden, konnten Sterbliche durch die Leidenschaft der beiden Liebesgötter buchstäblich zerrissen werden.

      In Gedanken rezitierte Orema die erforderlichen Bindungen: UNA, die Fruchtbare für die Frau, PHALLON, der Spender für den Mann, ERU, die Unwiderstehliche für die Überbringerin der göttlichen Gaben. Alle drei Mächte mussten in Sharana gebunden werden, damit sich die Vorhersehung erfüllen konnte.

      Hand in Hand folgten die Frauen dem spärlich beleuchteten Gang. Die geringste Unsicherheit, der kleinste Fehler bei der Reihenfolge der Gebete oder in der Durchführung der Verrichtungen konnte Sharanas Verderben bedeuten, doch sie nahm das Risiko freudig auf sich. Nach einem kurzen, festen Druck der Hände trat Orema in die geweihte Grotte.

      Ein dumpfer Gongschlag verkündete ihre Ankunft. Elf Augenpaare richteten sich auf sie und der melodische Gesang verstummte. Oremas Blick glitt über die Versammlungshöhle. Sharana und sie selbst eingerechnet würden dreizehn Schwestern den Ritus vollziehen. Wie so Vieles war die Erfüllung der uralten magischen Zahl keine unabdingbare Voraussetzung, sondern ein weiterer Aspekt, der den Volllzug des Rituals begünstigte.

      Orema stand vor dem Altar, der seit Menschengedenken das Zentrum der Kultstätte bildete, flankiert von den überlebensgroßen Statuen der Göttinnen UNA und ERU. Im Hintergrund lag ein kleiner Teich, dessen kräuselnde Wellen die Lichter der Fackeln in unzähligen, sich ständig wandelnden Facetten an die Decke spiegelten. Am Wasser stand ein provisorischer Schrein des PHALLON, den Orema als Störung in der ausgewogenen Struktur der Anlage empfand.

      Sie spürte die gespannte Aufmerksamkeit der Frauen und begann mit der rituellen Einleitung.

       * * *

       Salmon, Hoher Weiser des Goldzirkels

      Salmon sah verwundert von den Schriften auf. Er kannte Sephra, die oberste Sterndeuterin des Goldzirkels als verlässlich und besonnen, aber nun stürmte die kleine Frau mit den kurzgeschorenen grauen Haaren unangemeldet in sein Arbeitszimmer. Ihr überfallsartiger Auftritt verstieß gegen etliche Ordensregeln. Salmon wollte sie zurechtweisen, doch ihre panische Miene ließ ihn innehalten.

      „Hoher Meister, die Sterne verschieben sich“, keuchte Sephra. „Die Zeit ist im Fluss. Sie verändert sich. Die Zukunft ist wie warmes Wachs. Jeder Versuch sie zu greifen verändert sie. Ich habe so etwas noch nicht erlebt.“

      Obwohl sich Sephra auf seinen Schreibtisch stützte, zitterte sie am ganzen Körper. Salmon hörte ihre Worte, weigerte sich aber, den Inhalt ihrer abgehackten Sätze zu begreifen. Die Sterne liefen in festen Bahnen, waren die einzig fixen Größen in einer veränderlichen Welt. Ein guter Sternseher konnte aus den Konstellationen der Himmelskörper zuverlässige Vorhersagen erstellen, die weit in die Zukunft reichen mochten. Mit Hilfe dieses Orakels leitete der Goldzirkel die Geschicke Arans und die Entscheidungen der Herrscher. Vollständige Geheimhaltung war die Voraussetzung für sein Wirken. Der Zirkel bestand seit Jahrtausenden, ohne dass die Mächtigen der Welt seine Existenz auch nur erahnten. So war es und so musste es bleiben.

      „Gibt es ein Muster?“, fragte er Sephra.

      Sie starrte ihn unverwandt an.

      „Kannst Du mir sagen, welche Sterne aus der Bahn geraten, welche Bereiche der Ordnung in Veränderung stehen?“

      Sein eindringlicher Blick mahnte sie zur Disziplin, und sie raffte sich zu einer Antwort auf, ohne direkt auf seine Fragen einzugehen. „Es ist Anfang und Ende, Geburt und Tod, Schöpfung und Zerstörung, Schatten und Licht.“ Die Paarungen der elementaren Gegensätze kamen wie in Trance über ihre Lippen. Leidenschaftslos sprach sie aus, was er ahnte, aber nicht hören wollte: „Hoher Meister, die Ordnung selbst stürzt unter dem Ansturm des Chaos.“

      Salmon fürchtete diese Worte, aber er besann sich seiner Verantwortung. Die alte Bedrohung regte sich, wollte sich erheben. Er griff zu der goldenen Maske mit dem Antlitz der Sonne, verhüllte sein Gesicht und klingelte nach seinem Sekretär. Sephra, die in ihrer Erregung auf ihre Maske vergessen hatte, wandte sich ab und verbarg ihr Gesicht. Geheimhaltung war essentiell, und die Offenheit, die zwischen ihr und Salmon bestand, war riskant genug.

      „Beruf den Hohen Rat ein“, ordnete er ohne weitere Erklärungen an.

      „Ja, Hoher Meister.“ Die goldene Maske des Bediensteten zeigte die spitzen Züge eines Wiesels und ließ keine Regungen erkennen.

      „Schick den Schlüsselmeister zu mir. Sofort“, befahl