Schatten und Licht. Gerhard Kunit

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Название Schatten und Licht
Автор произведения Gerhard Kunit
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738021592



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allein. Achte darauf, dass Dich keiner ohne Maske sieht.“ Er sollte sie tadeln, aber er kannte ihre Loyalität und er verstand ihre Aufregung. Er musste die Prophezeiung nachlesen, um nichts zu übersehen. Er nahm den Schlüssel zur Hand und wandte sich dem in die Säule eingearbeiteten Schränkchen zu. Goldene Ornamente umspielten den Marmor und verbargen die Schlüssellöcher vor unbedarften Augen.

      Endlich erschien der Schlüsselmeister. Er eilte herbei und reichte Salmon das Gegenstück seines Schlüssels. Salmon öffnete den Schrein, entnahm die Schriftrolle und wappnete seinen Geist. Erst als er bereit war, las er die Zeilen, die Hildgard Farnsetzer aus den Prophezeiungen der Janoris übersetzt und mit ihrem eigenen Blut niedergeschrieben hatte:

       Die Zwei, welche kommen das Gefüge der Welt zu zerbrechen.

       Die Ausgeburten, welche der Zeit das Wesen entreißen,

       das Gesetz verachten und Ordnung zerstören.

       Die Frauen, welche das Feuer der Alten erwecken,

       als Feinde die Welt zu verbrennen und ins Dunkel zu stoßen.

       Die Töchter, welche die Kinder der Göttin stürzen,

       und dem Zeitalter ein finsteres Ende bereiten.

      Schaudernd wandte er sich ab. Die Zeit seiner Bewährung war gekommen.

       * * *

       Sharana, Geliebte der ERU

      Sharanas Blick ruhte auf dem dunklen Vorhang, der ihre Schwester verschluckt hatte. Dann schlüpfte sie in den schmalen Gang, der hinter die Statue der ERU führte. Dort verharrte sie pochenden Herzens. Die freudige Erregung über das Kommende durchflutete sie ebenso, wie die bange Unsicherheit.

      Sie betete: „Heilige ERU, Tochter der Erde und des Mondes, erfülle mich mit Leidenschaft und Freude. Verleihe mir die Kraft, unter PHALLONs göttlichem Ansturm zu bestehen und die Stärke, meine Aufgabe zu erfüllen. Lass das helle Licht Deiner Göttlichkeit in mir leuchten, damit ich meinen Schwestern Freude und Erfüllung schenke. So es Dir gefällt, nimm meinen Körper an für heute und solange es Dein Wille ist.“

      Eine schier unerträgliche Welle von Erregung und unbändiger Lust durchflutete ihren Leib, als ein winziger Teil der Göttin von ihr Besitz ergriff.

       * * *

      Oremas Stimme hallte klar und rein durch die Höhle, erfüllte jeden Winkel mit der heiligen Prophezeiung der Janoris, wie sie von Arandel Russfang übersetzt, und von Generation zu Generation getreulich überliefert worden war:

      „Die Zwei, welche kommen, das Gefüge der Welt zu öffnen.

       Die Geborenen, welche das Wesen der Zeit erkennen,

       das Gesetz zu verändern und die Grenzen zu weiten.

       Die Frauen, welche das Feuer der Alten erwecken,

       die Feinde der Welt verbrennen und das Dunkel erhellen.

       Die Töchter der Göttinnen Kinder,

       welche das finstere Zeitalter beenden.“

      Die Mutter der Weisheit hielt einen Moment inne, ehe sie fortfuhr: „Schwestern, die Erfüllung der Prophezeiung ist nah. Die Ankunft der Zwillinge wurde offenbart. Die Zeit ist gekommen, die Kraft der Erdmutter UNA zu erflehen, in uns aufzunehmen und den auserkorenen Eltern zu überbringen.“

      Sharana hörte Oremas Stimme wie durch einen Nebel, während sie sich haltsuchend an den kühlen Stein schmiegte.

      „Schwestern begrüßt ERUs Botschafterin, Tochter von Erde und Mond, heißt sie willkommen in ihrer Kraft und Weiblichkeit.“

      Mit weichen Knien, aber entschlossen trat Sharana aus dem Schatten der Statue. Von göttlicher Kraft erfüllt schritt sie durch die Frauen bis vor den Altar. Die Kühle des heiligen Steins drang durch den Samt des Umhangs und vereinte sich mit ihrer lodernden Wärme. Die Blicke der versammelten Schwestern brannten erwartungsvoll, begehrlich und lustvoll auf ihrer Haut. Als sich ihre Sinne öffneten, glaubte sie unter dem Ansturm der Gefühle zu verbrennen.

      „Begrüßt PHALLONs Abgesandten, Sohn von Erde und Sonne, Träger des göttlichen Segens. Heißt ihn willkommen in seiner Kraft und Männlichkeit.“

      Zwei Schwestern führten einen jungen, kräftig gebauten Mann in den Kreis. Er war in ein Stierfell gehüllt, an den Händen gefesselt und trug eine Augenbinde. Ansonsten war er nackt. Ein namenloser Hafenarbeiter vielleicht oder ein entlaufener Knecht, aber, so wie er vor ihnen stand, frisch gewaschen und von der Macht eines Gottes erfüllt, von beeindruckender Erscheinung.

      Er sah sich irritiert um, als ihm die Augenbinde abgenommen wurde. Sharana stieg auf den Altar und ließ ihren Umhang von den Schultern gleiten. Seine Unsicherheit wich einem aufdringlichen Grinsen. Eines Gottes nicht würdig, befand Sharana. Sie senkte ihren Blick und sah an seinen Lenden ein Versprechen erstehen, das sie erschauern ließ. Doch eines Gottes würdig, korrigierte sie sich.

      Der Gong hallte durch die Kaverne und die Schwestern ließen ihre Roben fallen. Sie begannen Sharana zu streicheln, während sie auf die Platte des Altars niedersank. Tausendfache Berührungen und Liebkosungen unzähliger Hände entfachten einen Sturm der Lust und Wellen der Leidenschaft rasten durch ihren Körper. Sie spürte das erregte Lachen der Göttin, fühlte ihren Funken, schenkte ERU eine Hingabe, die der Liebesgöttin würdig war. Durch ihre flackernden Augenlieder sah sie, wie sich der Jüngling im Griff der Schwestern wand, bis er sich losriss und mit einem heiseren Schrei auf sie stürzte.

      Wild und fordernd drang er ein, hart, ohne jede Zärtlichkeit. Die Frau in ihr hätte sich seinem Ansturm gerne entzogen, doch ERU war in ihr, peitschte ihn auf, verlangte nach seinen heftigen Stößen, forderte mehr von PHALLON, der auf ihr lag, ignorierte die Schmerzen, die von ihrer Leidenschaft hinweggespült wurden. Göttin, gib mir Kraft das zu ertragen, betete der kleine Teil von ihr, der noch Sharana war. Plötzlich brüllte der Mann wie ein Stier und der göttliche Segen schoss aus ihm, in sie, auf sie, um sie herum, immer wieder, immer weiter, mehr als ein Sterblicher zu geben vermochte.

      Eine Welle des Bedauerns durchflutete Sharana. Sie wusste, was das Ritual für den namenlosen Jüngling bedeutete. Sollte er die Nacht überleben, und sie bezweifelte, dass sie ihm das wünschte, würde er als stammelnder Greis erwachen, ohne jede Erinnerung daran wer er war, oder was ihm widerfahren war.

      Der nutzlose Gedanke wurde hinweggespült, ausgelöscht durch Wogen der Erregung und erneut aufflammender Lust. Dutzende Frauenhände verrieben den reichlichen Segen des Gottes zärtlich auf ihrer Haut und ihr Geist verlor sich.

      Ziellos trieb sie dahin. Farben formten Bilder, die sie nicht fassen konnte. Töne berührten und verloren sie. Erinnerungen blitzten auf, eigene und fremde, und verblassten wieder. Wohlige Wärme durchströmte sie, gestört von ungreifbarer Disharmonie. Frau und Mann von göttlicher Anmut, Schönheit und Stärke kämpften um sie, um ihren Körper. Sharana wusste, dass die Frau siegen musste, doch was hatte das mit ihr zu tun? Wieder trieben Bilder vorbei: Zwei Mädchen, eine blond, die andere mit pechschwarzem Haar.

       Ich muss zurück. Zurück? Wohin?

      Jemand rief nach ERU, verzweifelt, weit entfernt. Ich komme ja, dachte sie.

      Ein harter Untergrund weckte Erinnerungen an vergangene Leidenschaft. Etwas zerrte an ihrem Arm. Warum darf ich nicht schlafen?, wehrte sie sich, doch endlich hob sie ihre Lider und sah das vertraute Gesicht ihrer Schwester, die sie aus verweinten Augen anstarrte.

      „Wo warst Du?“, stammelte Orema mit versagender Stimme. „Du warst tot! Vier Stunden lang warst Du tot! Ich dachte, ich hätte Dich verloren.“ Tränen strömten über ihre Wangen. Sie küsste Sharana immer und immer wieder.

      „Freue Dich Schwester. Ich habe die Zwillinge gesehen.“ Sharana schloss die