Ein Haus mit Vergangenheit. Elisa Scheer

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Название Ein Haus mit Vergangenheit
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737552776



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Heute bin ich dreizehn geworden, aber ich fühle mich gar nicht so. Der Tag war aber sehr schön. In der Schule durfte ich mir ein Lied wünschen, aber Fräulein Schmetterer zog ein Gesicht, als ich „Ausgerechnet Bananen“ bestellte. Das ist vielleicht schon etwas zu alt?

       Mittags bekam ich meine Geschenke, von Papa ein goldenes Kettchen mit einem Glücksklee daran, von Mama ein Paar sehr schicke Schuhe, von Hartmut ein ziemlich blödes Buch über die ollen Germanen. Wen interessiert das, die sind doch schon lange ausgestorben!

       Zum Kaffee kamen meine besten Freundinnen und wir waren sehr vergnügt. Elsa schenkte mir heimlich einen Roman von Vicky Baum (Mama darf das auf keinen Fall entdecken, bevor ich es ausgelesen habe!), Susanna ein kleines Fläschchen Parfüm und Lenore ein Armband, das sie selbst gebastelt hatte. Ich freute mich sehr. Dreizehn... Jetzt bin ich die Älteste, als nächste hat Lenore Geburtstag, dann Elsa, und erst nach den Sommerferien ist Susanna dran. Wie wir uns wohl in einem Jahr fühlen werden? Oder in zehn Jahren? Ich werde auf jeden Fall jung heiraten und viele Kinder kriegen. Elsa will ja lieber Mathematik studieren. Wie kann man nur! Und dabei ist sie viel hübscher als ich! Ich fände es toll, wenn sie Hartmut heiraten könnte, aber er mag sie nicht und ist immer ziemlich unhöflich zu ihr. Er will mir aber nicht sagen, warum. Vielleicht zieht er Blondinen vor? Aber er selbst hat doch auch dunkle Haare? Ach, Hartmut ist einfach ein Blödmann!

      Ich grinste, als ich den letzten Satz tippte und alles speicherte. Geschwister waren also auch anno 1932 schon eine rechte Plage gewesen. Hartmut schien mir aber abgesehen von seinem offenkundigen Gehabe als großer Bruder auch sonst ein unangenehmer Typ gewesen zu sein. Germanen! Das passte ja zu seiner späteren Entwicklung zum SS-Offizier. Traurig, dass sich Elises Pläne nicht erfüllt hatten, aber vielleicht hatte sie es sich ja später anders überlegt.

      Was hatte ich mir mit dreizehn vom Leben erwartet? Wollte ich damals immer noch einen Ponyhof gründen? Wenn ich mich recht erinnerte, hatte ich diese Phase – hervorgerufen durch intensive Lektüre von Lise-Gast-Romanen – gerade überwunden. Mir schwebte so etwa der Beruf des Camel-Manns vor, wie er zu dieser Zeit in der Kino-Werbung auftrat. Ich hatte mich nur hinter meinem Popcorn gefragt, warum er nach so anstrengendem Weg nicht gleich eine Stange holte statt immer nur ein einzelnes Päckchen. Genau, Abenteuerreisen standen damals ganz oben auf meinem Lebensplan. Und was war daraus geworden? Ab und zu eine Woche Adria und eine Studienfahrt nach London. Vielleicht war es Elise ähnlich ergangen, aber irgendwie glaubte ich das nicht. Vielleicht erhellten spätere Einträge das Rätsel? Ich schlug das Buch hinten auf. Toll, sie hatte das Tagebuch – in zunehmend winzigerer Schrift – bis 1948 geführt.

       Tagebuch 5.8.1932

       „Menschen im Hotel“ ist ein faszinierendes Buch, und ich habe es geschafft, es auszulesen, ohne dass Mama es gemerkt hat. Ich bin Elsa wirklich sehr dankbar dafür. Manches habe ich nicht ganz verstanden, aber von der Liebe verstehen wir ja noch nichts. Auch wie das mit dem Kinderkriegen so läuft, weiß ich nicht. Elsa hat es auch nicht verstanden, als ihre Mutter ihr ein bisschen was erklärt hat. Lenore behauptet, sie wüsste alles, aber sie will es uns nicht erzählen. Wahrscheinlich gibt sie nur an. Na, wenn wir alt genug sind, kriegen wir das schon raus.

       Gut, dass gerade Ferien sind! Nächste Woche fahren wir nach Bad Reichenhall, zur Sommerfrische. Elsa und ich haben uns versprochen, uns täglich eine Karte zu schicken. Sie ist seit einer Woche an der Riviera und ich habe schon vier Karten bekommen, vor allem mit Palmen drauf. Vielleicht trifft sie dort einen russischen Großfürsten? Die soll es dort stapelweise geben, aber ich weiß nicht, warum. Sollten die nicht in Russland sein?

       Ach, ich glaube manchmal, ich bin dumm. Dann nehme ich mir vor, die Zeitung zu lesen, aber ich muss immer so viel fragen, dass Papa sagt, ich bin noch zu jung dafür, und Hartmut meint, Frauen sollten sich mit so etwas gar nicht befassen, zum Kinderkriegen bräuchten wir das nicht. „Das Weltgeschehen“ (so hochgestochen quatscht er daher!) machten ja ohnehin die Männer. Blöder Heini!

      Ja, wirklich! Hartmut war mir von Herzen unsympathisch. Ich freute mich mit Elise, dass sie das verbotene Buch hatte lesen können, und überlegte, dass die Wolfs wohl erheblich wohlhabender waren als die Wiedemanns, wenn die Wahl des Urlaubsziels dafür ein Indiz war. Hatte der Arzt nicht gesagt, dass die Wolfs 1936 nach Österreich gezogen waren? Hatten sie damals das Haus an die Wiedemanns verkauft? Warum?

      Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Angenommen, Wolfs waren Juden – dann wäre alles erklärt. Warum sie das Haus verkaufen müssten, warum sie das Land später verlassen mussten, warum die Briefe dann aus Österreich und der Tschechoslowakei kamen und auch warum Hartmut Elsa Wolf nicht leiden konnte.

      Was war aus der Familie Wolf später wohl geworden? Hatten sie es geschafft, in ein sicheres Land zu fliehen? Ich glaubte es eher nicht, Elsa war wahrscheinlich in einem Lager gelandet – sonst wäre sie doch zurückgekommen und hätte vielleicht auch ihr Elternhaus zurückgefordert.

      Plötzlich war das Ganze nicht mehr spannend, sondern tragisch. So viel wusste sogar ich noch von der Geschichte, um mir ein grässliches, aber leider ziemlich wahrscheinliches Ende für sie und ihre Familie vorstellen zu können – eine Gaskammer in Auschwitz, Majdanek oder wie die Vernichtungslager alle hießen. Eigentlich konnte ich nur noch hoffen, dass als Hauch einer ausgleichenden Gerechtigkeit Hartmut wenigstens im Krieg auf eine scharfe Mine getreten war oder einen ordentlich schmerzhaften Bauchschuss erhalten hatte. Ich hasste ihn, obwohl ich ihn nur aus diesen Dokumenten kannte. Waren die Verkäufer des Hauses wohl alle vor Kriegsende geboren? Der Jüngste auf jeden Fall nicht, der war noch keine Fünfzig. Dann hatte Hartmut den Krieg also überlebt...

      Für heute reichte es mir, das war wirklich zu deprimierend. Ich kopierte meine Texte auf eine Diskette und nahm alles mit nach Hause. Mama trieb sich betont zufällig im Flur herum, als ich nach Hause kam.

      „Du siehst so betrübt aus? Ist irgendetwas schief gegangen?“

      „Nein, unsere Baustellen laufen prima. Aber diese Dokumente machen mich trübsinnig. Ich glaube, die Wolfs sind im KZ geendet.“

      „Oh! Holocaust?“

      Ich nickte. „Ich habe erst zwei Tagebucheinträge durch, aber es scheint darauf hinauszulaufen. Ich mache nachher vielleicht noch ein bisschen weiter.“

      „Iss erstmal was!“

      Ach ja, bevor diese Debatte wieder von vorne anfing. Außerdem hatte ich mich heute Morgen ganz leise noch einmal richtig gewogen und kaum noch 48 Kilo gehabt. Das ging wirklich nicht! Ich verputzte also zwei dicke Käsebrote und trank ein Glas Wein dazu, danach verzog ich mich in den Keller und arbeitete noch ein bisschen weiter.

      Vier weitere Tagebucheinträge schaffte ich noch, aber sie boten mir wenig neue Informationen. Sie lagen alle noch vor der Machtergreifung und erzählten von der Schule, von Freundinnen, vom doofen Bruder. Ich übertrug sie brav und tippte sie ab, dann nahm ich mir einen Zettel und notierte mir, was ich über die Familien schon wusste.

      Wiedemann: Vater und Mutter blieben noch im Dunkel, aber es gab zwei Kinder, Elise (1919 geboren) und Hartmut, die braune Sau, offenbar etwas älter. Hartmut hatte wiederum – nach dem Krieg - drei Kinder, Horst, mit dem ich verhandelt hatte, und noch eine Tochter und einen Sohn. Wo könnte man mehr Details erfahren? Zunächst blieb mir wohl nur mein eigenes Material.

      Wolf: Vater und Mutter, Namen und Daten unbekannt, drei Kinder, nämlich zwei Söhne und Elsa, die ebenfalls 1919 geboren war und höchstwahrscheinlich vor 1945 starb. Den Fotos aus dem ältesten Album zufolge waren die Brüder jünger als Elsa... Für heute reichte es, das ganze Wochenende lag ja noch vor mir!

      Am Samstag kaufte ich zuerst einmal ein, ich konnte ja schließlich nicht immer auf Mamas Kosten essen. Ich gönnte mir sogar einige Tafeln Schokolade und zeigte sie Mama stolz vor, die zwischen Freude (endlich nahm das dünne Kind zu) und Ärger (Schokolade war ja so ungesund) schwankte. Kichernd verschwand ich mit der Schokolade in meinem Keller und arbeitete weiter. Dort verging mir die gute Laune aber bald wieder.

       Tagebuch 1.4.1933

       Vor zwei Monaten ist Hitler