Ich bin dein Hirte. Marc Rosenberg

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Название Ich bin dein Hirte
Автор произведения Marc Rosenberg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847643500



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es Schmerzen geben wird. Aber Schmerzen kennen Grenzen, Michaela lernte sie kennen. Mit mir. Und einen Teil davon habe ich mir selbst geschickt. Ich übertreffe mich selber. Das bewundere ich so an mir.

      Es hat funktioniert.

      Und ich muss kichern. Wie eine alte Frau.

      Mutter, denke ich, ja, es wird Zeit.

       4.

      Ich schließe hinter mir ab und gehe nach oben. Die Sonne ist schon fast weg, aber es ist noch nicht dunkel. Für die Bühne reicht es. Es kann losgehen. Showtime. Kasperletheater. Ich mag das eigentlich nicht. Zu viele Erinnerungen. Aber es muss wohl sein. Teil der Geschichte. Und deswegen liebe ich es doch. Ja, ich liebe es. Ich liebe, was ich tue, weil es vollkommen absurd ist. Erkennt der Weise, dass er verrückt ist?

      Das Kleid und die Perücke, das reicht. Beides liegt griffbereit auf dem Bett in ihrem Zimmer. Hier hat sich nichts verändert, außer, dass sie hier oben nicht mehr schläft. Ein kurzer Blick in den Schrankspiegel.

      „Perfekt!“, sagt sie und ich stimme ihr zu.

      Manche Dinge erweisen sich in absurden Situationen als großer Vorteil. Größe zum Beispiel oder besser Länge. Ich bin nur etwas länger als meine Mutter. Das ist erst einmal vollkommen unwichtig, gewinnt aber in außergewöhnlichen Umständen an Bedeutung. Ich gehe langsam die Treppe herunter, weil ich nicht stolpern will, und weil ich schon einmal üben will. Langsam und ein Bein leicht nachziehend, so bewegte sich meine Mutter. In der Öffentlichkeit. In der Küche ist das Licht bereits an. Ich hasse Gardinen, aber auch sie haben ihre Existenzberechtigung. Jetzt zum Beispiel. Sie ermöglichen Einblick, erlauben aber keine Details. Draußen ist es dunkler als in der Küche, ich brauche nur eine Weile hier hin und her zu laufen, mir einen Tee zu machen, mich an den Tisch zu setzen und mich vom Küchenlicht anstrahlen zu lassen und ich weiß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass ich, nein, dass Mutter gesehen wird. Oder besser, dass das gesehen wird, was sie glauben zu sehen. Was ich ihnen erlaube zu sehen. Das beruhigt die erhitzten Gemüter, die neugierigen Schachteln. Ich war heute Morgen wirklich viel zu freundlich.

      Ich setze mich mit dem Rücken zum Fenster und hebe den Kopf.

      „Ich sag dir was“, sage ich, „was meinst du, wie lange geht das noch gut, mein Sohn?“

      Ich muss kichern. Ich hebe den rechten Arm und drehe den Kopf zur Seite.

      „Hoffentlich guckt auch jemand her, wozu mache ich denn diese ganze Show?“, sage ich und bewege meine Hand beim Sprechen. Körpersprache ist wichtig. Wenn man nichts hört, muss man sehen, dass jemand redet.

      „Klaus-Peter“, höre ich meine Mutter sagen, so hat mich nur meine Mutter genannt. Und so darf mich auch nur meine Mutter nennen, ungestraft.

      Vater sagte „Sohn“ oder Klaus. Das macht er aber schon lange nicht mehr.

      „Du bist verrückt, weißt du das, Klaus-Peter?“, meint Mutter.

      Vielleicht treffen sie sich ja, schießt es mir durch den Kopf. Nichts ist unmöglich, na ja, manches vielleicht doch. Aber denkbar. Sie gehörten nicht zusammen. Das passte einfach nicht. Ich weiß es. Ich habe es herausgefunden. Aber alles weiß ich doch nicht. Mutter hatte ihre Geheimnisse. Vater anscheinend auch. Die hat er mitgenommen oder er ist zu ihnen zurückgekehrt. Wie auch immer.

      „Ja“, sage ich, „ich weiß, dass ich verrückt bin. Ich bin krank, Mutter, sehr krank. Ich habe wieder Kopfschmerzen. Aber du kannst mir nicht mehr helfen, nicht mehr.“

      „Na, dann ist ja gut“, meine Mutter wird wieder ruhiger.

      „Mama? Nimmst du mich in den Arm, Mama? Ich weiß, dass du da bist. Ich weiß es. Komm, sei lieb zu mir. Hab keine Angst. Nimm mich in den Arm. Bitte. Du brauchst keine Angst zu haben, nicht vor mir. Ich bin doch brav und lieb.“

      Kurz hatte ich das Gefühl, dass sie sich aufregen könnte. Das darf sie nicht, nein, sie soll sich nicht aufregen, sie will doch ihre Ruhe haben. Immer wieder geht mein Arm in die Höhe oder ich drehe den Kopf. Es sieht aus, als unterhalte sie sich mit mir. Ich stehe in der Tür. Oder für jemanden, der von außen hinein schaut, stehe ich in der Tür. Gut, dass ich weiß, was ich tue.

      „Ich habe eine Idee“, sage ich, „warum gehst du nicht noch ein bisschen in den Garten? Dann sind wir sicher, dass sie uns sehen. Sie brauchen das heute, glaube ich, um sich wieder abzuregen und nicht noch aufdringlicher zu werden. Es ist noch hell genug, aber nicht zu hell. Genau richtig. Was meinst du? Sonst werden sie zu schnell noch nervöser. Wer nervös ist, stellt blöde Frage und wird aufdringlich und verschwindet eines Tages.“

      „Gute Idee, aber geh nicht zu schnell.“

      „Klar, ich weiß, deine Hüfte.“

      Ich stemme mich etwas mühevoll hoch und bleibe kurz stehen, um den Kreislauf nicht zu überfordern.

      „Mach mich nicht älter als ich bin“, sagt Mutter ein wenig pikiert. „So schlimm ist es dann auch wieder nicht. Außerdem habe ich noch alle beisammen.“

      „Entschuldigung.“

      Dann drehe ich mich zur Seite und stelle die Tasse, aus der Mutter gerade eben ihren Kräutertee getrunken hat, in die Spüle. Anschießend ein kurzer Blick aus dem Fenster, ohne die Gardine beiseite zu schieben. Ein Auto fährt langsam vorbei. Elisabeth. Sie schaut herüber. Ich winke. Mutter winkt.

      „Perfekt!“, flüstere ich. „Miststück, altes, dreckiges, ungeficktes Miststück.“

      Sie winkt ebenfalls. Ich meine so etwas wie Erleichterung in ihrem Gesicht zu sehen. Vielleicht sehe ich auch etwas, das mir vollkommen fremd ist.

      Ich mache das Licht in der Küche aus und gehe durch den Flur in das Esszimmer. Von dort betrete ich über die Terrasse den Garten. Das Haus wird zum Garten hin auf der Rückseite von einer großen Terrasse eingerahmt. Über die Terrasse kann man auch in mein Arbeitszimmer gehen, doch da ist der Rollo seit Wochen unten. Arbeit. In der Dunkelheit. Ich habe viel zu tun, es geht gut voran. Das will ich nicht gefährden.

      „Die Bücher sind lichtempfindlich“, meint Klaus-Peter immer.

      „Du und deine Bücher“, sagte Mutter oft.

      Mutter bleibt auf der Terrasse stehen und schaut sich um. Sie atmen tief ein und aus und genießt die frische Luft, nachdem sie so lange im Haus gewesen ist. Sie kommt nur noch selten dazu, frische Luft zu atmen. Der Garten ist von zwei Seiten mit Bäumen und Büschen zugewachsen.

      „Wenn du willst, dass dich jemand sieht“, sage ich zu Mutter, „dann musst du hinten zum Freisitz.“

      „Ist das nicht zu riskant?“, fragt sie. „Vielleicht reicht es, hier zu sitzen. Engel können doch von oben hier rein gucken. Die warten doch bestimmt schon darauf, mich zu sehen.“

      Das hat mich immer schon gestört. Es gibt einen Bereich auf der Terrasse, den kann man einsehen. So wie mit dem Garten. Aber jetzt ist das gut. Mutter will und soll ja gesehen werden. Die Engels sind die direkten Nachbarn. Großes Haus und hoch. Als hätten sie geahnt, dass unsere Bäume und Sträucher hoch wachsen werden.

      „Und wenn jemand vorbeikommt und mich anspricht?“, fragt Mutter.

      „Brummen, winken und wegdrehen“, sage ich. „So machen alte Leute das doch.“

      „Werd nicht frech, so alt bin ich doch noch gar nicht. Ich stecke noch voller Leben.“

      „Das meinst du vielleicht“, flüstere ich und kichere.

      „Dann mal los“, sage ich dann. Es kann losgehen.

      Sie schweigt, schüttelt nicht einmal den Kopf oder tut ansatzweise entrüstet.

      Mutter macht einen Schritt nach vorn, dann einen zweiten und hat die Treppe erreicht, die zum Garten hinunter führt. Sie hält sich am Geländer fest, sicher ist sicher. Langsam geht sie hinunter, es sind immerhin zehn Stufen. Vater hatte das Geländer anbringen lassen, als Oma