Ich bin dein Hirte. Marc Rosenberg

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Название Ich bin dein Hirte
Автор произведения Marc Rosenberg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847643500



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mich doch, das ist Altersgrinsen.“

      „Ha, dass ich nicht lache, Altersgrinsen, so was gibt es doch gar nicht.“

      „Doch“, sage ich trotzig, „hier schon. Wenn ich mal alt bin, dann grinse ich so.“

      Ich grinse so.

      „Los, geh weiter, so langsam brauchst du auch wieder nicht zugehen. Ich will das hinter mich bringen.“

      „Fängt doch gerade an, Spaß zu machen“, sage ich und mache mich auf den Weg durch den Garten.

      „Der Garten ist groß“, meint Mutter, aber sie klingt zufrieden.

      „Ja, Mutter, der Garten ist groß. Aber sehr schön und er hat Vorteile.“

      Ich schaue zur großen Holzkiste neben dem Komposthaufen. Da passt einiges rein, denke ich zufrieden. Ich sehe die vielen Fliegen, die um die Kiste und um den Kompost herumschwirren. Ich höre sogar das Brummen und Summen. Die Kiste ist mit einem großen Schloss gesichert. Irgendein blöder Nachbar könnte auf noch blödere Gedanken kommen. Der Hund eines Nachbarn war eines Tages verschwunden, Sachen gibt es. Angefangen hat es mit diesem blöden Köter, der an mir hochgesprungen ist und mein Bein ficken wollte. Eines Tages hat es einfach gereicht. Ich war zwölf. Eigentlich wollte ich ihn nur abschütteln, aber ich habe ihn mit meinem Schuh so erwischt, dass er aufjaulend mit dem Schädel gegen die Mauer schlug. Er winselte und zuckte und starrte mich mit seinen blöden, geilen Augen an. Ich beugte mich zu ihm hinunter und schaute zu, wie Blut aus seinem Maul floss. Ich sah Angst in seinem Blick und spürte, dass ich ruhiger wurde. Er war so gegen die Steine geschlagen, dass der Schädel gebrochen sein musste. Er starb und ich sah ihm dabei zu. Ich sah, wie seine Augen leer wurden. So leer. Und starr. Und ich wurde immer ruhiger. Das beunruhigte mich erst einmal. Aber die Unruhe dauerte nicht lange.

      Ich sah den Tod, wie er Besitz von diesem Tier ergriff. Einfach so. Ich weiß bis heute nicht, ob ich erschüttert war im Angesicht des Todes. Aber man kann ihn sehen, den Tod. Er kündigt sich an und dann nimmt er das Leben aus dem Körper und ist da. Der Tod. Er erklärt sich nicht, er rechtfertigt sich nicht, er entschuldigt sich nicht. Er kommt und ergreift Besitz vom Leben und nimmt es mit, für immer. Ich starrte wie hypnotisiert auf diesen Hund, der eben noch seinen Spaß an meinem Bein hatte. Ich hatte das immer gehasst, dieses Gejuckel. Und die Flecken an der Hose. Aber das hatte ja ein Ende. Lust und Tod kommen sich manchmal verdammt nahe. Das hatte ich an diesem Nachmittag gelernt. Der Hund suchte Lust und Befriedigung und in seiner Gier fand er den Tod. Ich hatte ihm diesen Tod bereitet. Statt betrübt und traurig zu sein, spürte ich ein bisher unbekanntes Gefühl. Erst viel später wusste ich, welches Gefühl es war, dass es das Gefühl der Macht war. Die Macht über Leben und Tod. Davon wollte ich mehr. Ich wollte es beobachten. Und selber herbeiführen. Ich führe es selbst herbei.

      Tja, das war der Erste, aber nicht der Letzte, der sein Leben aushauchte, weil er nervte.

      „Und du meinst, dass das nicht zu auffällig ist?“, fragt Mutter.

      „Aber nicht doch“, antworte ich und schlurfe weiter. Vielleicht muss ich noch etwas mehr hinken.

      „Nein, Klaus-Peter“, sagt Mutter, „das machst du sehr gut. Nicht zu wenig und nicht zu übertrieben.“

      „Danke!“, sage ich zufrieden.

      Ich bin der kleine Junge, den jedes Lob zwei Zentimeter größer und stolz gemacht hat. Als ich klein war, kam mir der Garten riesengroß vor, obwohl die Bäume und Sträucher natürlich kleiner waren. Trotzdem war es ein Paradies. Verstecken, Fangen und Geheimnisse haben, das alles war in diesem Garten möglich. Am schönsten war es in den Ferien oder an den langen Wochenenden, wenn die Cousins und Cousinen da waren. Die hatten hier alle Platz. Wenn einige übernachteten, war das noch besser, dann war das Spielen im Garten noch aufregender, aber nicht nur das Spielen. Dann waren die Geheimnisse dran. Kinder können wirklich merkwürdig sein, wegen ihrer Neugierde. Wenn diese Bäume und Sträucher reden könnten, sie stecken vollen dunkler Geschichten und feuchter Träume. Ich liege heute noch gern in einer Ecke und träume mir das Leben, so wie ich es brauche, manchmal werden Geschichten daraus. Und manchmal wird das Leben zur Geschichte. Wie immer ich es brauche. Ich schreibe es auf, das habe ich gelernt. Das kann ich. Dafür mache ich, was nötig ist. Alles, was nötig ist. Und wenn das Leben anders gewesen ist.

      „Nein, Mama, nicht. Ich bin wieder lieb. Ich bin doch lieb. Ich mach es auch nicht wieder. Aber lass mich nicht wieder allein, bleib. Bleib, nimm meine Hand, wenigstens meine Hand. Bitte. Mama?!“

      „Allerdings“, sagt Mutter.

      „Oh, hab ich fast vergessen, du hörst ja mit.“

      „Ich weiß mehr als du denkst und mir lieb ist.“

      „Jetzt hast du aber auch gegrinst.“

      „Eigentlich müsste es mir die Schamesröte ins Gesicht treiben“, sagt sie.

      „Was weißt du denn?“, frage ich vorsichtig, aber auch sehr neugierig.

      „Ich war selber Kind“, sagt sie ein wenig verträumt, aber vollkommen unbestimmt.

      „Ach, ja!“, meine ich.

      „Ja, aber das gehört nicht hierher. Wir haben eine Mission zu erfüllen.“

      Sie schreitet etwas zu selbstsicher und forsch aus, ich muss sie bremsen. Als ich hoch schaue, sehe ich Licht in den Fenstern einiger Nachbarn. Und dann höre ich das Brummen eines Autos. Ich bin im hinteren Teil des Gartens angekommen und Mutter ist von dieser Seite aus gut sichtbar. Ich drehe mich um.

      Das Auto hält.

      „Lena!“, höre ich die Stimme von Elfriede. „Lena! Wie geht’s?“

      Mutter hebt den Arm und grüßt beiläufig und abwesend. Ich hasse das, ich hasse es, dass ich die meisten Nachbarn mit Namen kenne. Sie dürfen eigentlich keine so große Bedeutung haben. Aber ich muss ihnen ja Namen geben. Ich brauche Namen.

      So ist sie, denke ich. So kennen sie die Nachbarn.

      „Gut!“, versuche ich es. Und warte.

      Mutter galt als eigensinnig. Dafür hat sie Vater geliebt. Ich stelle es mir jedenfalls so vor. Sie hatte einen eigenen Kopf und eine eigene Vorstellung von ihrem Leben. Das hat einige gestört und sie hat damit einige vor den Kopf gestoßen. Das war ihr egal. Ihr war vieles egal, besonders, was die Leute über sie dachten. Wer sein Leben leben will, dem muss vieles egal sein. Besonders wichtig ist es, Entscheidungen zu treffen, ohne darüber nachzudenken, was andere davon halten. Entscheidungen treffen.

      „Hoffentlich steigt die jetzt nicht aus“, sage ich.

      „Das Tor ist doch zu, oder?“, will sie wissen.

      Den hinteren Teil des Gartens kann man auch von dieser Seite erreichen. Plötzlich bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das Tor auch wirklich abgeschlossen ist. Das Tor vor dem Haus war nicht abgeschlossen. Das passiert normalerweise nicht. Woher kommt diese Nachlässigkeit?

      „Du wirst nachlässig“, flüstert Mutter, um mir das auch noch zu bestätigen.

      „Ich weiß auch nicht“, meine ich und frage mich, ob das Tor wirklich zu ist. Warum könnte ich es vergessen haben? Ich gehe doch fast nur vorn rein.

      Wenn Mutter sich jetzt umdrehen würde, um zum Tor zu gehen, würde Elfriede das mit Sicherheit als Aufforderung auffassen und bestimmt aussteigen und mit Lena reden wollen. Dafür ist es nicht dunkel genug. Ich gehe langsam und leicht hinkend Richtung Haus. Und ich weiß nicht, ob ich das mit der Stimme hinbekomme.

      „Ich komm morgen mal vorbei!“, ruft Elfriede hinter Mutter her. Mutter hebt den Arm und schlurft langsam weiter.

      „Bleib ganz ruhig“, sagt Mutter.

      „Ich bin ruhig“, beruhige ich sie.

      „Gut, sehr gut.“

      Dann höre ich den Motor aufheulen. Der Mann von Elfriede, seinen Namen konnte ich mir allerdings nie merken, kann noch immer nicht