Ich bin dein Hirte. Marc Rosenberg

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Название Ich bin dein Hirte
Автор произведения Marc Rosenberg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847643500



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gehe um das Bett herum. Langsam, und schaue sie mir an. Ihr Kopf folgt mir. Hatte sie ihren Kopf als ich den Raum betrat noch hoch erhoben, um zu hören wo ich bin, nimmt ihr Körper langsam eine zurückhaltende, geduckte Haltung ein. Aber schützen wird sie sich nicht können. Ihr gesamter Körper ist angespannt. Dass sie dafür noch die Kraft hat! Respekt. Schon wieder. Was ist anders mit ihr? Anders als bei den anderen ... Sie weiß, dass ich sie beobachte. Sie spürt meine Blicke auf ihrer Haut, auf ihren Brüsten, auf ihren Beinen und zwischen ihren Schenkeln. Sie weiß, wohin ich schaue. Weil sie es erwartet. Sie erwartet mich. Sie erwartet, dass ich ihr wehtue.

      Aber sie hält es nicht lange aus. Ihre Lippen zittern, ihre Gesichtszüge drohen zu entgleiten.

      „Bitte“, fleht sie, „tun Sie mir nicht weh.“ Nicht zum ersten Mal. Und wieder. „Bitte.“

      Ich habe ihr nie wehtun wollen. Ich verabscheue physischen Schmerz. Und ich weiß, was das ist, Schmerz. Ich kenne Schmerzen. Ich weiß, was Schmerzen sind.

      Sie sieht nicht, wie ich lächle. Schade eigentlich.

      „Bitte, tun Sie mir nicht weh.“

      „Warum klammerst du so?“, flüstere ich.

      „Was?“, fragt sie mit zitternder Stimme. Sie hat gehört, was ich sagte, aber sie kann es wohl nicht verstehen.

      „Warum klammerst du dich so sehr an dein erbärmliches, kleines Leben?“

      Sie schluchzt.

      „Ich will doch nur leben. Ich mache, was Sie wollen, aber lassen Sie mich am Leben. Tun Sie mir nicht weh. Bitte.“

      „Na dann. Auf die Knie!“

      „Was?“ Sie horcht. Und ist erschrocken.

      Ich warte. Und sie bewegt sich, will vom Bett herunterrutschen, um vor mir auf die Knie zu fallen. Fast kommen mir die Tränen, ich spüre fast so etwas wie Rührung. Aber es ist noch nicht Zeit. Noch nicht. Ich habe sie erst vor ein paar Tagen von der dritten Fessel befreit. Das hatte sie sich verdient. Bewegungsfreiheit. Ein bisschen Sicherheit, Vertrauen, Dankbarkeit. Bisher konnte sie sich nur zum Duschen frei bewegen und wenn sie auf die Toilette musste. Auch da würde bald vorbei sein. Ansonsten mag ich Sauberkeit. Sie riechen so gut. Aber Zerfall ist etwas anderes.

      Sie kniet vor mir und hebt schon die Hände. Und bewegt ihren Kopf in die richtige Richtung. Es ist genau die passende Höhe. Wunderbar.

      „Nein!“, flüstere ich. Das macht ihr Angst. Allen, wenn ich flüstere. Allen macht das Angst. Ich bekomme selber eine Gänsehaut. Noch immer. Immer wieder ist es ein erhabener Moment.

      „Denk darüber nach“, sagte die Stimme.

       Und jetzt sitze ich hier und denke nach, aber mir fällt nichts ein. Ich sehe nichts und höre nichts. Ich weiß nicht, worüber ich nachdenken soll.

      „Was? Hab ich was falsch gemacht? Bitte.“ Sie hebt bereits die Hände zum Schutz nach oben.

      „Nein, es war nur ein Scherz.“

      Sie zieht die Nase hoch.

      Wir kennen uns nun schon vier Wochen und wieder einmal frage ich mich, ob ich ihr nicht das DU anbieten soll. Sie ist zäh. Und hält bisher gut durch. Bis hierher schaffen es nicht alle.

      „Warum denkst du, dass ich dir wehtun will?“

      Sie zögert.

      „Aber warum bin ich denn hier?“

      Höre ich da Hoffnung in ihrer Stimme? Sie hebt den Kopf. Sie öffnet sich für einen unvorsichtigen, kurzen unüberlegten Moment. Wenn ich jetzt zuschlagen würde, würde ich sie hervorragend treffen. Genau auf den Punkt. Ein gezielter Schlag würde vollkommen ausreichen. Und sie würde die Hand nicht kommen sehen.

      „Nennst du das Leben?“

      Sie fällt augenblicklich wieder in sich zusammen und fängt hemmungslos an zu weinen. Das ist erbärmlich und jämmerlich, aber auch faszinierend, wie schnell das wechselt.

      „Was ist so besonders an deinem Leben?“

      Ich warte, aber sie kennt die Antwort nicht. Oder kann sie mir nicht geben.

      „Was ist es, das es rechtfertigt, dass du am Leben bleibst, dass ich dich am Leben lasse?“

      „Ich, ich“, sie sucht verzweifelt nach der richtigen Antwort, „ich weiß es nicht.“

      Schade, dass sie nicht sieht, wie ich lächle. Ich lächle viel und gern. In den letzten Tagen wieder mehr als sonst. Ich fühle mich wieder wohler. Das war nicht immer so. Aber im Moment geht es. Sie hilft mir dabei. Ich habe sie in meiner Hand. Und sie weiß es. Was gibt es Erhebenderes. Verzweiflung, Angst. Ausgeliefert.

      „Siehst du. Ach, nein, du siehst es ja nicht. Im übertragenen Sinn meine ich, siehst du, du weißt es nicht. Ich weiß es auch nicht, weil es nichts zu wissen gibt, da ist nichts.“

      „Aber ich ... ich will leben.“

      Neben der Resignation höre ich auch eine gewisse Auflehnung gegen das Unvermeidbare, also gegen mich. Ja, ich bin unvermeidbar. Ich bin ihr passiert. Ich bin kein Statist in ihrem Leben. Ich bin die Hauptrolle. Und die spiele ich gut.

      „Warum?“

      Sie schweigt. Vielleicht überlegt sie.

      „Ich frage noch einmal: Nennst du das hier Leben?“

      Ich warte vergeblich auf eine Reaktion. Auf einen überzeugenden Einwand.

      „Wenn du sehen könntest, wie lächerlich du aussiehst. Du bist erbärmlich und hässlich geworden.“

      Sie hebt den Kopf etwas.

      „Aber ich sah mal ganz normal aus.“

      „Normal?“

      „Ja, ganz normal.“

      „Wer will schon normal!“

      „Ich war sogar schön“, fährt sie fast trotzig fort.

      Ob sie etwa in Erinnerungen schwelgt?

      „Ich war schön, die Männer liebten mich, sie schauten mir nach und drehten sich nach mir um.“

      „Ist das erstrebenswert? Ist das lebenswert? Männern den Kopf zu verdrehen?“

      „Das habe ich doch nicht mit Absicht gemacht!“, sagt sie. Es klingt fast wie eine Entschuldigung. „Es ist passiert. Ich kann nichts dafür, dass ich so aussehe, wie ich aussehe. Das habe ich doch nicht mit Absicht gemacht.“

      „Aber du fandest es toll, wie du auf Männer gewirkt hast.“

      „Attraktivität ist kein Verbrechen.“

      „Hört, hört.“

      „Ich mache viel Sport und achte auf meine Ernährung.“

      „Und es hat alles nichts genutzt.“

      „Doch. Ich fühle mich wohl.“

      „Tatsächlich?“, frage ich grinsend, schade, dass sie es nicht sieht. „Es hat dich hierher geführt, zu mir.“

      Sie schweigt.

      „Warum ich?“, fragt sie.

      Und ich bin ein wenig überrascht. Das freut mich. Ich lasse mich gern überraschen. Das kommt zu selten vor, dass man mich überrascht. Ist auch nicht einfach. Mich zu überraschen. Das ist schon eine Weile her. Eigentlich fällt mir nur Mutter ein. Wenn ich es genau bedenke. Mutter.

      Ich schaue sie an. Sie kniet noch immer vor mir. Ihr Kopf hat genau die richtige Position. Ich lege meine Hand auf ihren Kopf. Sie lässt mich gewähren. Fügt sich.

      „Hm, das hat keinen besonderen Grund. Nenn es Zufall. Zur falschen Zeit am falschen Ort.“

      „Sie hatten es gar nicht auf mich abgesehen?“

      „Doch,