Ich bin dein Hirte. Marc Rosenberg

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Название Ich bin dein Hirte
Автор произведения Marc Rosenberg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847643500



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sage ich, „die kommt morgen vorbei. Und ich dachte, das bisschen Theater würde reichen.“

      „Fluche nicht immer so rum“, schimpft Mutter, aber ich weiß, dass sie das nicht böse meint.

      „Ja, Mutter.“ Ich denke nach. Dann füge ich hinzu: „Ich glaube es reicht für heute. Die paar Meter noch und dann ist Ende der Vorstellung.“

      „Okay“, sagt Mutter, „war auch anstrengend genug.“

      „Besonders dieses Schleichen.“

      „Motz doch! Wenn du in mein Alter kommst, dann wirst du froh sein, noch so gut zu Fuß zu sein.“ Sie klingt nicht beleidigt.

      „Ja, Mutter. Du hast natürlich Recht.“

      „Ich will nicht Recht haben, Klaus-Peter“, sie stöhnt meinen Namen, weil sie die Treppe zur Terrasse hochgeht, „ich will ins Bett.“

      „Und genau da gehen wir jetzt hin. Aber nicht ins Bett.“ Ich muss wieder grinsen.

      Noch ein paar Meter, denke ich, denn ich will kein Risiko eingehen, dann habe ich die Tür erreicht und hinter mir geschlossen.

      Nachdem ich alles an seinen Platz gelegt habe, gehe ich wieder hinunter und hole mir aus der Küche eine Flasche Wasser. Ich lausche. Es ist alles still, so wie es sein sollte. Dann gehe in mein Arbeitszimmer, nicht ohne hinter mir abzuschließen. Niemand soll mir über die Schulter schauen bei dem, was ich noch machen werde, was ich noch machen muss und will. Es ist Zeit.

      Michaela ist bereits kalt, aber unvergessen. Durch Buchstaben und Wörter in einer Geschichte verewigt, zur Geschichte verarbeitet. Besser als ihr schäbiges, unbedeutendes Leben, das sie geführt hatte. Vielleicht wird ihr Mann sie vermissen. Ich habe gar nicht gefragt, ob sie Kinder hatte. Egal. Ist jetzt unwichtig. War es immer schon. Für mich. Macht keinen Unterschied. Für mich. Ihr Mann wird sie vermissen, aber nicht finden, denn es gibt keine Leiche. Sie werden keine Leiche finden. Er wird sie sein Leben lang vermissen und mit der Möglichkeit leben müssen, da sie irgendwo ein anderes Leben ohne ihn lebt. Ich weiß es besser. Sie lebt nur noch ein Leben in einer Geschichte. Vielleicht liest er sie eines Tages. Und wird sie erkennen oder nicht. Er wird sie vermissen, vielleicht etwas länger oder schneller sich trösten mit einer anderen, er kann trauern, mehr kann er nicht tun. Er wird bei einer anderen Trost finden. Jeder ist ersetzbar, austauschbar. Ich weiß das. Keine Leiche, kein Verbrechen. Und hier werden sie nicht suchen. Hier nicht.

      Ich nehme das kleine Geschenk aus dem Paket. Ein Finger, ein Zeh und die Krönung. Ich nahm ihr, was ihr Lust bereitet hatte. Und mir, selbstverständlich. Und ein bisschen mehr. Verpackt in verschließbare Tiefkühlbeutel. Ich habe eine große Tiefkühltruhe. Erinnerungen. Und Geschichten.

      Ich lächle bei dem Gedanken an das Risiko, das ich eingegangen bin. Aber die Beutel waren fest verschlossen. Und dass man ein Paket mit diesem Inhalt bekommt, lässt ja nicht unbedingt darauf schließen, dass man auch der Absender ist. Der Postbote. Ich denke auch an den Postboten, der mir dieses Paket überreicht hat. Ich lächle über ihn und über mich, der ich mich wieder einmal selber übertroffen habe.

      Aber es reicht noch nicht. Ich brauche mehr. Unersättlich. Wie ich bin. Im Internet finde ich, wonach mich verlangt. Dort findet man die Menschen, die eine eben, um mir den Tag, die Nacht und das Leben zu versüßen. Die mich rausholen aus meiner Dunkelheit, kurz nur, damit ich sie hinein ziehen kann in meine Finsternis.

       5.

      Nachdem ich Michaelas Erinnerungen tiefgefroren habe, schaue ich noch einmal im Keller nach meinem aktuellen Experiment. Nein, das ist falsch. Es sind nicht Michaelas Erinnerungen. Die habe ich ihr genommen. Das einzige, was bleibt, wenn man alt wird. Es sind meine. Meine Erinnerungen. Ich nehme sie mit und bewahre sie. Michaela hat keine Erinnerungen mehr. Ich werde mich an sie erinnern können, jederzeit.

      Ich schaue auf den Bildschirm. Und trete ein in meine Welt. Sie liegt auf dem Bett. Ich sehe nicht, ob sie schläft. Sie liegt mit dem Rücken zu mit. Die Lautsprecher bleiben stumm. Obwohl sie nackt ist, muss sie nicht frieren. Der Raum, in dem sie sich befindet, ist warm. Angenehm. Es soll an nichts mangeln. Ich bin ihr Hirte. Ich kümmere mich um sie. Ja. Sie kann sich nicht unter einer Decke vor meinen Blicken verbergen, sich nicht schützen. Wir haben keine Geheimnisse mehr voreinander. Nichts, was mir verborgen bleibt. Anscheinend hat sie sich daran gewöhnt. Es hat eine Weile gedauert bis sie sich entspannt hat. Die Embryonalstellung im Schlaf hat sie noch nicht aufgegeben. Ist vermutlich unbewusst. Das geht nur, wenn sie nicht gefesselt ist.

      Das Bett steht mitten im Raum, so dass sie sich nicht gegen eine Wand lehnen kann. So hat sie auch das Gefühl, von allen Seiten beobachtet zu werden. Sie weiß nicht, wo vorn oder hinten ist. Sie ist nur noch an einem Fußgelenk gefesselt. Diese Freiheit hat sie sich verdient. Die Augenbinde ist Pflicht. Das hatten wir schon. Das Problem, wenn sie die Augenbinde abmacht. War nicht schön, auch für mich nicht. Ich mag das nicht, wenn ich sie zwingen muss etwas zu tun, was doch nur selbstverständlich ist. Wir haben unsere Regeln. Außerdem, solange sie mich nicht sieht, darf sie die Hoffnung haben, dass sie hier auch wieder heraus kommt. Hoffnung. Resignation sieht anders aus.

      Als sie zum ersten Mal in diesem Raum zu sich gekommen war, waren ihre Augen bereits verbunden, sie war nackt und es war vollkommen dunkel. Und still. In diesem Raum ist es absolut still. Man hört nur sich selbst, nicht einmal das Haus. Die Geräusche des Hauses dringen nicht bis in diesen Raum hinein. Auch die Geräusche des Raumes dringen nicht aus ihm heraus. Es kommt nur das rein, was ich will und es kommt nur das raus, was ich will. Ich bestimme Tag und Nacht.

      Den Mund hatte ich ihr nicht geknebelt, das musste ich ja nicht. Sie muss ja essen, trinken und so weiter. Aber wirklich geschrieen hat sie nicht. Keine panischen Rufe, kein verzweifeltes, hysterisches Kreischen. Nein, sie ist ruhig. Fast schon beängstigend still. Hm! Als würde sie das kennen.

      Als sie zum ersten Mal erwachte und merkte, dass sie nackt und gefesselt war, schrie sie. Das heißt, sie wollte schreien, aber sie bekam keinen Ton über die Lippen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Dann fing sie an, an den Seilen zu zerren. Vergeblich. Sie zitterte. Ihre Haare sträubten sich. Überall. Ich konnte es gut sehen. Überall. Ich kann es in Zeitlupe sehen. Ganz nah, Großaufnahme. Faszinierend und beeindruckend zu welchen eindeutigen Reaktionen der menschliche Körper fähig ist.

      Ich hatte sie so an das Bett gefesselt, dass sie sofort das Gefühl der vollkommenen Hilflosigkeit spürte. Ihre Hände hatte ich rechts und links über dem Kopf gefesselt. Ebenso die Beine. Sie waren gespreizt. Eine doppelte Kreuzigung. Sie lag auf dem Rücken. Schutzlos und hilflos meinen Blicken ausgeliefert. Und meinen Händen, meiner Zunge und sonstigen Gegenständen. Ausgeliefert. Sie fühlt sich ausgeliefert.

      Nachdem sie aufgehört hatte an den Seilen zu zerren, betrat ich leise den Raum. Aber nicht so leise, dass sie mich nicht hören konnte. Ich sah ihr an, dass sie horchte und darauf wartete, dass etwas geschehen würde. Ich ging langsam zu ihr und blieb neben dem Bett stehen. Sie hörte meinen Atem, sonst nichts. Und sie hörte ihren eigenen Atem, der immer schneller wurde. Ihr Brustkorb hob und senkte sich hektisch und nervös. Ihre Brüste zitterten leicht und schaukelten etwas. Sie erwartete das Schlimmste, sie erwartete meine Berührung, früher oder später, dort, wo sie sie nicht haben wollte. Sie versuchte die Beine zusammen zu drücken. Vergeblich. Und dann entfuhr ihr doch noch ein Schrei. Kurz, nur, spitz. Dann wieder Stille. Wieder erwartete sie mich. Meine Berührung. Berührung welcher Art?

      Das hat mich an diesem Raum schon immer fasziniert. Hier drinnen ist es so still, dass es einen in den Wahnsinn treiben kann, wenn man denn einen Sinn darin sucht, warum es so still ist und es nicht akzeptieren kann, mit sich selbst konfrontiert zu werden, nur mit den Geräuschen konfrontiert, die man selber von sich gibt. Atmen. Herzschlag. Puls. Glucksen. Blähungen. Hunger. Weinen. Die eigene Stimme. Irgendwann fangen sie an zu sprechen. Ich bräuchte das nicht. Auch die Hilflosigkeit und die Verzweiflung machen Geräusche.

      Wenn einem alles genommen wird, wird man eines Tages sterben oder ich werde mit mir selbst konfrontiert. Wenn ich bis dahin durchhalte, offenbart sich das Innerste, das wahre ICH. Ich kenne mein Innerstes, meine Bestimmung.