Verwandte und andere Nervensägen. Elisa Scheer

Читать онлайн.
Название Verwandte und andere Nervensägen
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737562836



Скачать книгу

scheinen an der Vaterschaft aber Zweifel bestanden zu haben. Nicht, dass es mich interessieren würde, wer mein Vater ist, wohlgemerkt. Ich habe mich immer selbst durchgeschlagen und nicht das geringste Interesse an einer Erbschaft, Pflichtteil oder was auch immer. Ihr könnt mit eurer Beute gerne alleine glücklich werden. Wenn es das war, möchte ich gerne gehen, ich habe weiß Gott noch Wichtigeres zu tun. Schönen Tag zusammen.“

      Sie erhob sich in das allgemeine Schweigen hinein und strebte zur Tür, aber als sie schon die Hand auf der Klinke hatte, hielt Brandstetter sie auf. „Frau Wintrich, Sie sollten keine übereilten Entscheidungen treffen. Der Pflichtteil steht Ihnen doch zu!“

      Sie wandte sich um. „Das sehe ich nicht so. Ja, gut, ich kenne das bundesdeutsche Erbrecht auch, schon von Berufs wegen. Aber meiner Ansicht nach kann jeder mit seinem Geld machen, was er will, und niemand hat einen Anspruch darauf. Und ehrlich gesagt – hätte er mir was vererbt, hätte ich es nicht angenommen. Er war vermutlich ein Wildfremder für mich, und von Wildfremden nimmt man nichts an.“

      „Und was ist mit Tante Anna?“, rief Frank.

      „Tante Anna?“ Luise sah ihn verständnislos an. „Was soll mit der sein?“

      „Ach komm, tu bloß nicht so unschuldig. So warst du ja immer schon.“

      „Herr Wintrich“, mahnte Brandstetter, „könnten Sie bitte zum Thema kommen?“

      „Das ist das Thema. Bei Tante Annas Tod hat sie doch sicher ihren Teil eingestrichen und jetzt macht sie hier einen auf Stiefkind, unglaublich!“

      „Tante Anna ist tot?“, fragte Luise nach dem einzigen, was sie verstanden hatte. „Ja, tu nicht so. Schon vor fünf Jahren! Der Anwalt hat dir doch auch geschrieben, oder?“

      „Nein. Na, da kann man auch nichts machen. Wo ist sie begraben?“

      „Keine Ahnung. Irgendwo da, wo sie gewohnt hat, denke ich. Bei Hannover. Hingefahren sind wir natürlich nicht, wir haben ja schließlich noch mehr zu tun.“ Luise zuckte die Schultern. „Brich dir nichts ab, ich krieg´s schon raus. Kann ich jetzt bitte gehen?“

      „Ich werde mich mit Ihnen noch einmal in Verbindung setzen“, drohte Brandstetter. „Vor der ganzen Familie können Sie ja offenbar nicht frei sprechen.“

      „Nein? Was ich sagen wollte, habe ich gesagt. Vielen Dank für alles. Auf weitere Gespräche lege ich keinen Wert. Und da Sie meine Adresse schließlich haben – im Gegensatz zu Tante Annas Anwalt – wissen Sie ja, wohin Sie Ihre Honorarnote schicken können.“

      „Honorarnote?“

      „Na, Sie haben mich doch immerhin herbestellt – Kosten für den Brief, die Sekretärin, das Porto, Ihre kostbare Arbeitszeit – ohne mich wäre diese Veranstaltung schon vor zehn Minuten beendet gewesen und Sie könnten sich einer lukrativen Grundstücksübertragung oder so widmen. Schönen Tag noch allerseits!“

      Sie lächelte in die Runde, ehrlich froh, dass dieser saublöde Termin endlich vorbei war, sprang die Treppen hinunter und schoss unten geradezu ins Auto. Nur weg hier, bevor jemand von dieser Bande hier auftauchte!

      Einer blöder als der andere! Sie fuhr ziemlich aggressiv, weil sie sich so ärgern musste, und war froh, dass sie ohne Prügel bis ins Malerviertel kam. Dort rauschte sie zackig in die Tiefgarage, kurvte elegant in ihren Einzelstellplatz, knallte die Autotür zu, ließ die Fernbedienung piepen und sprang die drei Treppen hinauf.

      Endlich wieder zu Hause!

      Montag, 20.11.2006 18:00

      Was da für Geschichten über sie kolportiert wurden, typisch Frank. Der hatte wahrscheinlich erzählt, sie sei mit achtzehn abgehauen (natürlich unter Mitnahme des Familiensilbers), um in Berlin auf den Strich zu gehen. Oder so ähnlich. Und alle hatten es geglaubt. Sie konnte sich ein Kichern nicht verkneifen – als sie rausgeflogen war, hatte sie fast neunzig Kilo gewogen! Sicher, auf 1.78 ganz gut verteilt, aber für den Strich doch vielleicht nicht ganz das Richtige. Und dieses Spurlosverschwundensein… die nächsten eineinhalb Jahre wäre sie zumindest über die Schule noch erreichbar gewesen, bis zum Abitur.

      Außerdem hatte sie Leisenberg während des Studiums nicht verlassen und war immer korrekt im Telefonbuch gestanden, schließlich war es in den früheren Neunzigern noch nicht so üblich gewesen, nur ein Handy zu besitzen. Und so viele Leute, die L. Wintrich heißen, gab es in Leisenberg schließlich auch nicht. Genau genommen war sie die einzige. Sowohl dieser Anwalt als auch Frank und Konsorten hätten, wenn sie gewollt hätten, sie locker finden können. Bloß gut, dass sie nicht gewollt hatten – mit diesen grässlichen Gestalten seine Freizeit verbringen? Noch mal Glück gehabt!

      Jetzt war es gerade mal Viertel nach sechs, herrlich! Sie zog sich aus, hängte das Kostüm sorgfältig auf einen Bügel, schlüpfte in ihren herrlich kuscheligen Morgenmantel und drehte im Bad das Wasser auf. Heute mal… genau, Grapefruit. Das machte munter und sie konnte noch die ganze dritte Aufgabe schaffen. Danach vielleicht noch einen Teil des zweiten Durchgangs, bei dem sie überall noch ein, zwei Punkte mehr zu vergeben pflegte, nach dem Motto Stimmt ja eigentlich auch und außerdem will ich keinen Schnitt unter viernull. Obwohl, wenn der Kurs sehr schwach war, hatte sie mit einem solchen Schnitt auch kein Problem.

      Sie begann gleich mit der dritten Aufgabe und legte sich nach fünf Klausuren mit einem glücklichen Seufzer in das heiße, duftende Wasser. In einem solchen Bad konnte man wirklich den Alltag vergessen! Morgen würde sie joggen gehen und übermorgen ins Fitness. Wenn das nicht genügte, um sich so richtig wohl zu fühlen, dann wusste sie es auch nicht.

      Sie drückte selbstvergessen den teuren Naturschwamm über sich aus und genoss es, wie das duftende weiche Wasser (Meersalz!) über ihre Haut floss. Herrlich.

      Und nachher würde sie noch ordentlich was wegkorrigieren und dann ganz gemütlich ein bisschen ihre Depots kontrollieren, vielleicht ein auch etwas zocken, wenn möglich. Einige Pharmawerte hatten momentan eine ganz gute Prognose…

      Die Kröten der Wintrichs hatte sie weiß Gott nicht nötig, die Wohnung hier war bis auf den letzten Pfennig bezahlt, und ihre Depots waren so gut bestückt, dass sie von den Erträgen hätte leben können. Ja, gut – bescheiden leben, aber immerhin. Da sie aber von den Erträgen nichts verbrauchte, sondern alles thesaurierte und außerdem noch jeden Monat rund fünfhundert Euro ins Depot schob – und sich jedes Jahr ein nettes Sümmchen (auch netto!) erspekulierte, wurde sie von Minute zu Minute reicher. Während sie hier lag, verdiente sie im Schnitt bestimmt schon wieder – hm… sie rechnete träge vor sich hin, rutschte noch etwas tiefer in das duftende Wasser und kam schließlich auf ein Ergebnis von etwa drei Euro pro Stunde. Einfach so, ohne Arbeit. Nicht übel. Wer brauchte da milde Gaben von der buckligen Verwandtschaft?

      Das Telefon läutete im Arbeitszimmer. Egal. Sie konnte ja nachher das Band abhören und ganz vielleicht auch zurückrufen. Vielleicht war es Valli, der wieder mal ihre Familie über den Kopf wuchs. Oder Irene wurde tatsächlich Uroma. Oder Lisa, die unbedingt weggehen wollte, um den Mann ihres Lebens zu finden. Warum musste immer sie da mitgehen, sie wollte doch gar keinen Kerl!

      Sie aalte sich noch ein wenig und wusch sich träge, aber langsam wurde das Wasser doch etwas kühl, und mit flüchtigem Bedauern – nichts Gutes dauert ewig – stand sie auf und hüllte sich ins Badetuch. Noch schön eincremen…

      Neunzig Kilo – das waren noch Zeiten gewesen, aber das Herumrödeln, Schule, Nachhilfestunden, Nebenjobs, Trading, nicht zu vergessen die winzigen Beträge, die sich selbst zum Leben zugestanden hatte, all das hatte rasch an ihr gezehrt, und heute wog sie vierundfünfzig Kilo. Eindeutig zu wenig, aber sie achtete strikt darauf, dass es nicht noch weniger wurde, um keinesfalls in die Nähe einer Anorexie zu geraten. Und so dürr gefiel sie sich. Zierliche Taille, schmale Hüften, praktisch kein Busen, lange dünne Beine (aber mit Waden!), das sah so herrlich unweiblich aus. Weiblichkeit – das stand für Hilflosigkeit, für Männeranlocken (und ausgebeutet werden), für Ich nehme meinen Job nicht ernst, das ist bloß bis ich heirate, für Ich möchte so gerne ein Kind. Alles ganz schrecklich!

      Nein, sie wollte keine Kinder.