Verwandte und andere Nervensägen. Elisa Scheer

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Название Verwandte und andere Nervensägen
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737562836



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elften Dezember. Die Herren Reuter und Grassl verzweifeln schon an einem neuen Raumplan. Meinen Sie, aus dem Religionsfachraum könnte man vorübergehend ein Klassenzimmer machen?“

      Luise überlegte. „Etwa zwölf Leute passen da bestimmt rein. Natürlich keine Tafel. Kleine Kurse könnten gehen, welche, die mit Projektor oder Arbeitsblättern auskommen. Geschichte, Wirtschaft, Deutsch… Mathematik bitte nicht, wir tun uns ohne Tafel wirklich hart.“

      Dr. Eisler nickte. „Sehr gut. Frau Wintrich, ich arbeite gerne mit Ihnen zusammen, das ist immer sehr gedeihlich. Langfristig sollten wir wirklich überlegen, ob wir Sie zu den Aufgaben der Schulleitung hinzuziehen sollten. Ich glaube, Sie könnten uns da sehr helfen.“

      Luise freute sich und verabschiedete sich strahlend.

      Draußen sah sie auf die Uhr. Halb vier, das war geradezu noch früh. Der Termin beim Notar Brandstetter war erst um fünf, da konnte sie direkt noch heimfahren und sich in ein schwarzes Kostüm werfen. Sie sah an sich herab: anthrazitfarbene Jeans, grau-weiß gestreifte Bluse, dunkelroter Blazer – auch nicht schlecht. Aber nachdem es um die Erbsache Heinrich Wintrich ging, wäre schwarz wohl angemessener.

      Was sie dabei sollte, wusste sie wirklich nicht. Sie hatte ihren Vater – und ihren Bruder, wenn man schon dabei war – seit ihrem achtzehnten Geburtstag nicht mehr gesehen, als ihr Vater ihr barsch befohlen hatte, ihre Sachen zu packen und zu verschwinden, aber sofort! Und Frank hatte auch ihre verblüffte Frage, was denn eigentlich passiert sei, nur dumm gegrinst und gesagt: „Kannst du dir doch denken! Warum soll der Alte einen Bastard durchfüttern?“

      Offenbar war er gar nicht ihr Vater, aber was konnte sie dafür? Und woher hätte sie das wissen sollen? Mama war schon gestorben, als sie zehn war. Jetzt war sie fünfzehn Jahre ohne Familie ausgekommen, und eigentlich war es der reine Genuss gewesen – freie Wochenenden, keine Fragen, wozu sie eigentlich studierte, ob sie nicht mal heiraten wollte, warum sie nicht öfter vorbeischaute… was andere so erzählten, klang eigentlich nicht verlockend. Sicher, eines Tages würde sie wahrscheinlich trotzdem für ein Pflegeheim zahlen müssen, hatte sie immer gedacht. Aber dafür hatte sie reichlich etwas beiseite gelegt, und nun war das gar nicht mehr nötig.

      Was wohl aus Frank geworden war? Damals war er einundzwanzig gewesen, schlaksig und ohne Manieren… Sie vermutete mal, etwas dicker um Bauch und Kinn herum und immer noch ohne Manieren. Darüber hinaus interessierte sie die Frage nicht besonders. Er würde Vaters Posten bei HSW übernehmen – oder längst übernommen haben – und in seiner Nachfolge weiterhin Büromöbelsysteme, Schulausstattungen und Bestuhlungen produzieren. Sie selbst hatte ihre Arbeitszimmerausstattung natürlich woanders gekauft, und sollte jemals das Mariengymnasium über neue Schulmöbel nachdenken (was unwahrscheinlich war, denn der G 8-Anbau war jetzt endlich fertig und eingerichtet), würde sie energisch gegen HSW-Möbel votieren, wenn sie überhaupt gefragt wurde. Aber sie konnte auf jeden Fall sagen, dass sie leider mit denen verwandt war und wenn die Presse das aufgriff… hätte das nicht zumindest „ein Geschmäckle“, wie der Schwabe sagte?

      Geschah Frank recht!

      Die anderen beiden, H und S, Hölzl und Stettner – ob sie noch in der Firma waren? Oder auch schon ihre Söhne, Philipp und Max? Ach, was interessierte sie das eigentlich? Das waren doch nun wirklich Jugendsünden!

      Damals war sie dumm genug gewesen, sich kurzfristig mal in den schönen Max zu vergucken, der sie gar nicht wahrgenommen hatte. Kunststück, eine pummelige Siebzehnjährige und ein vergleichsweise weltgewandter zweiundzwanzigjähriger Student, der ab und zu vorbeikam und sich in Franks Bewunderung sonnte. Auch von ihm hatte sie nie wieder etwas gehört.

      Okay, wie auch, sie war damals mit zwei Reisetaschen gegangen (Klamotten, Bücher, ihr vorsintflutlicher Laptop, der damals noch ganz neu gewesen war, ihr Sparbuch – selbst zusammengekratzte fünftausend Mark, die ihr in dieser Situation buchstäblich das Leben gerettet hatten – und ihre Schulsachen) und hatte sich im Legohaus eingemietet, wo die Wohnungen mikroskopisch klein, merkwürdig eingefärbt und erfreulich billig waren. Und dort war auch immer was frei.

      Sie hatte niemandem von dieser Mischpoke die Adresse mitgeteilt und die hatten sich garantiert nicht die Mühe gemacht, im Telefonbuch nachzuschauen.

      Warum dachte sie über diesen Idiotenverein überhaupt nach? Sie würde jetzt heimfahren, sich in korrektes Schwarz werfen, dort hingehen, klarstellen, dass sie mit der Familie Wintrich nichts am Hut hatte, wieder heimfahren und sich mit der Wirtschaftsklausur der K 13 herumärgern. Netter Ärger, vergleichsweise, obwohl diese Nasenbären wahrscheinlich wieder mal alle Tücken des Kaufvertrags übersehen hatten. Recht mochten sie alle nicht, aber da mussten sie jetzt leider durch, niemand war ja gezwungen, Wirtschaft über vier Semester zu belegen.

      Sie parkte auf dem Hof, trug ihre Tasche nach oben, schlüpfte aus den Klamotten (nein, eine schöne heiße Dusche gab es erst hinterher) und in ein schwarzes Kostüm (mit grauem T-Shirt) und schwarze Pumps, packte ihre Tasche um, schminkte sich frisch, fuhr sich mit der Bürste kurz durch die schwarzen Locken und fand, das reiche ja wohl. Na gut, ein bisschen Parfum, ein klassisches französisches. Keinen Schmuck, außer ihrer schmalen, aber recht technisch aussehenden Armbanduhr, die normalerweise nur eine Aufgabe zu erfüllen hatte – sie musste gewährleisten, dass man die Zeit unauffällig ablesen konnte, denn sonst begannen alle Schüler sofort einzupacken, sobald sie einen Blick auf ihr Handgelenk warf. Gut ablesbar – naja, und zuverlässig. Die Optik war zweitrangig gewesen, Hauptsache, nicht klobig und nicht verspielt-weibchenhaft.

      Viertel nach vier. Zum Notariat Brandstetter brauchte sie mit Parkplatzsuche höchstens zehn Minuten, also konnte sie noch ihre Tasche auspacken. Siebte, achte, neunte, zwölfte raus, achte, elfte, andere zwölfte, dreizehnte rein, Schreibtisch aufräumen, halbfertige Klausur schön in die Mitte, Rotstift, Bleistift, Lineal bereit gelegt, dazu BGB und Erwartungshorizont. Und ausgerechnet von denen wollten sieben Leute schriftliches Grundkursabitur machen! Na, bis zur Entscheidung waren es noch fast vier Wochen, vielleicht konnte sie es den größten Pappnasen bis dahin noch ausreden. Wenigstens lieber mündlich, da konnte man ihnen doch etwas besser auf die Sprünge helfen!

      Kurz nach halb fünf, jetzt sollte sie wohl doch besser fahren. Sie sah sich noch einmal befriedigt in ihrer Wohnung um, die sie jetzt seit vier Jahren besaß – immer noch schön, immer noch genau ihr Geschmack, streng, leer, elegant. Einfach perfekt.

      Ihr ganzes Leben war einfach perfekt, da brauchte sie auf keinen Fall eine lästige Familie, die sie genauso wenig leiden konnte wie umgekehrt. Naja, Familie, das war ja sowieso bloß der blöde Frank.

      Also gut, sie würde da hinfahren, klar stellen, dass sie mit den Wintrichs nichts mehr tun hatte, wieder heimfahren und gut. Und dann konnte sie ihr perfektes Leben weiter führen. Ob Dr. Eisler sie wirklich in die Schulleitung befördern würde? Grassl, der normalerweise die Schulfinanzen machte, ging in zwei Jahren in Pension, aber das war ein Posten für einen Oberstudienrat, und soweit war sie noch nicht. Erst seit sechs Jahren auf Lebenszeit verbeamtet… Sie hatte wunderbare Beurteilungen, was Unterrichtsgestaltung, pädagogische Wirksamkeit und Mitgestaltung des Schullebens betraf, aber deshalb wurde man leider wohl keinen Tag früher befördert als der Durchschnitt.

      Reuter, der den Stundenplan machte – und die Vertretungen, was ihn beim Kollegium zur Hassfigur machte – hatte noch vier Jahre vor sich. Mit dem Programm konnte sie umgehen, und eine Hassfigur war sie jetzt schon, denn sie scheute sich nicht, Kollegen anzusprechen, die ihre Aufsicht vergaßen (Richling!) oder Klassenzimmer mit offenen Fenstern, ungeputzten Tafeln und zugemüllt hinterließen, von nicht hochgestellten Stühlen ganz zu schweigen. Manche glaubten eben immer noch, wenn sie ihren Unterricht herunterrissen, hätten sie ihren Job getan. Von erzieherischer Wirksamkeit keine Spur! Das war eben doch kein Halbtagsjob, aber manche wurden immer noch Lehrer, weil sie glaubten, da hätten sie den Nachmittag frei. Die waren von der Einführung des G 8 mit vermehrtem Nachmittagsunterricht kalt erwischt worden.

      Luise grinste vor sich hin, während sie am Fuggerplatz nach einem Parkplatz suchte und schließlich einen vor dem kleinen Einkaufszentrum fand. Zwei Stunden – das reichte ja wohl locker! Sie stellte die Parkscheibe ein und legte sie gut sichtbar aufs Armaturenbrett, wobei sie sich selbst leicht verspießert vorkam, die typische