Fehlstart. Elisa Scheer

Читать онлайн.
Название Fehlstart
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737560665



Скачать книгу

und als es halb fünf war, fuhr ich ins Erdgeschoss, knallte der verblüfften Tussi in der Personalabteilung meinen Kram auf den Tisch und erklärte ihr, nun doch gereizt, wenn MediAdvert schon sämtliche Gehaltszahlungen einbehielte –

      „Was?“, fragte sie verwirrt.

      - dann wollte ich aber wenigstens eine Quittung darüber haben, denn zweimal käme ich für den Schaden nicht auf.

      „Was?“, fragte sie noch mal, aber ich erklärte ihr nichts mehr, sondern ging. Und schmetterte die Tür so zu, dass der Putz rieselte.

      Einen köstlichen Moment lang stellte ich mir vor, wie das Gebäude, kaum hatte ich es verlassen, langsam in sich zusammenbrach, wie bei diesen Ein-Hochhaus-wird-punktgenau-gesprengt-Reportagen, mit denen sie mir immer den Sonntag verdarben. Recht geschehen würde es ihnen! Allen miteinander! Und die Erschütterung sollte so heftig sein, dass zwei Straßen weiter auch noch die Hamm KG einstürzte und sowohl diese blonde Ziege mit ihren klugscheißerischen Tipps als auch dieses affige Bürschlein (Tja, nicht so überzeugend - was glaubte der eigentlich, wer er war?) unter Tonnen von Staub begrub. Köstlich... ich sah alle meine Feinde husten und keuchen und vergeblich eine Klauenhand ins Freie strecken.

      Tom müsste natürlich gerade einen Außentermin haben... Aber um diese Carla wäre es nicht so furchtbar schade, fand ich. Aufgebrezelte Kuh. Schon diese idiotischen Kulleraugen!

      Wenn Tom wüsste, was mir passiert war... Vielleicht hatte er meinen verwaisten Schreibtisch ja schon gesehen und putzte Suhrbier gerade fürchterlich herunter? Vielleicht suchte er verzweifelt nach mir, voller Angst, ich würde mir was antun? Klapperte alle Brücken ab?

      In der Leiß konnte man sich nicht ertränken. Wenn man von einer Brücke sprang, brach man sich höchstens im Kiesbett ein Bein, so niedrig war der Wasserstand, und so niedrig waren auch die Brücken. Es reichte ja, wenn ein Faltboot drunter durch passte. Vielleicht wartete er vor dem Eingang, weil er angesichts dieses Schicksalsschlags erkannt hatte, wen er wirklich liebte...

      Vor der Tür wartete niemand – außer Rüttler, der sich umständlich eine Zigarre ansteckte, dann die Hosenbeine mit Klammern sicherte und unsicher auf sein Rad stieg. Nein, der Tagespförtner war kein Ersatz für Tom. Vielleicht wartete er bei mir zu Hause. Wusste er, wo ich wohnte? Das war leicht rauszukriegen, es gab nur eine Heike Unger im Telefonbuch.

      Ich schlappte hoch-tief-hoch-tief zur Bushaltestelle und sah mich dort mürrisch um. Das war überhaupt der Gipfel – Busfahren! Eingepfercht in einen schmuddeligen Bus, in dem es roch, als hätte sich außer mir niemand gewaschen und als würde der Ruß aus den Abgasen nach innen geleitet, anstatt nach Büroschluss lässig mit dem Auto nach Hause zu brausen... Hoffentlich war der Wagen nicht wirklich kaputt, ich hatte absolut kein Geld mehr für eine Reparatur. Nicht, wenn ich gerade fünf Wochen für lau geschuftet hatte.

      Morgen Arbeitsamt, notierte ich mir im Geiste und opferte fünfzig Cent für einen MorgenExpress, um dann den Deckel zu heben und festzustellen, dass keiner mehr drin war – nur noch ein Stapel Beilagen Großer Teppich-Räumungsverkauf! Einmalige Gelegenheiten!

      Heute war nicht mein Tag, eindeutig. Aber ein HOT! gab´s noch, immerhin. Ich verschwendete ein weiteres Fünfzigcentstück und schnappte mir das schreiend aufgemachte Käseblatt – natürlich nur wegen der Stellenanzeigen. Niemand las Hot! wegen der Schlagzeilen. Männer kauften den Playboy ja auch nur wegen der intellektuell anspruchsvollen Artikel, nicht wegen der nackten Mädels, nicht?

      Stellenanzeigen gab es, reichlich sogar. Für Barfrauen, Zeitschriftenwerber, Sous-Chefs, Salade-Chefs, Kellnerinnen, Hilfskräfte im Supermarkt (Regale auffüllen, fünf Euro brutto die Stunde, Schülerinnen bevorzugt), Call-Center-Sklaven, Verkäuferin im Horizont, leichte Reisetätigkeiten. Darunter konnte ich mir nicht viel vorstellen – Vertreter? Abos verkaufen? Koks über die Grenze schaffen? Nichts für mich. Aber im Supermarkt... fünf Euro, das waren an einem Tag doch immerhin vierzig Euro brutto, vielleicht fünfundzwanzig netto...

      Ich hätte heulen mögen – für fünfundzwanzig netto Tagesverdienst wäre ich heute Morgen ja nicht mal aufgestanden! Ein Vierer kam. Falsch, ich brauchte den Neuner nach Spitzing-West, da, wo es besonders scheußlich war, nur noch durch die Autobahn von den Slums am Kreuz West getrennt.

      Ich fror in dem blöden Kostüm, dem windigen Regenmantel und den dünnen Pumps – und richtig laufen konnte ich auch nicht, ich kam mir vor wie eine Ente, wenn ich zum Fahrplan watschelte – nur um festzustellen, dass der Neuner längst hätte dasein müssen. Wieder ein Vierer. Danach ein Siebener zum Bahnhof. Das nutzte mir auch nichts. Meine Füße wurden langsam feucht; ich hatte das Wildleder schon lange nicht mehr imprägniert. Und die Tasche mit dem Schotter aus meinem Schreibtisch (Glücksbringer, Privatkulis, Handbuch der Werbebranche, Reservestrumpfhose, Notfallschminkzeug, Pfefferminz, Fleckenkiller, Notizblöcke) war ganz schön schwer.

      Ich tat mir Leid. Und alle Leute um mich herum schauten zwar genauso griesgrämig wie ich, aber Mitleid hatten sie keins mit mir – ungerührt ärgerten sie sich über ihre eigenen belanglosen Problemchen! He, ich habe gerade meinen Job verloren! hätte ich am liebsten gerufen. Bedauert mich gefälligst!

      Jetzt einen Schnaps! Aber hier an der Haltestelle gab´s nur einen anerkannt schlechten Bäcker und die Pilsquelle – und die Gäste dort gaben die Kneipe wahrscheinlich als einzigen festen Wohnsitz an. Nein, so tief war ich auch noch nicht gesunken. Na endlich, ein Neuner. Proppenvoll natürlich.

      Drin roch es nach nasser Wolle, ungewaschenen Leuten und den Pommes, die jemand selbstvergessen aß, ohne zu merken, dass ihm die Hälfte auf den Boden fiel und dort rasch zu einem gelblichen Matsch zertreten wurde.

      Ich lehnte mich an ein Fenster; in der nächsten Kurve machte sich der Buggy selbständig, der neben mir abgestellt war, fuhr mir ans Bein und ruinierte mir die Strumpfhose. Ich tröstete mich damit, dass sie ohnehin schon eine Laufmasche gehabt hatte, und wehrte die Entschuldigungen der etwas überlastet wirkenden Mutter resigniert ab. Darauf kam´s jetzt wirklich nicht mehr an!

      In diesem Bus konnte man zum Menschenfeind werden! Warum guckten die alle so mürrisch – sie hatten doch einen Job? Apropos... ich versuchte, den Stellenteil so zu falten, dass ich weiter lesen konnte, aber ich fand trotzdem nur Barfrauen und Küchenpersonal; dafür wäre ich in der scharfen Kurve, mit der der Bus an der Spitzinger Kirchstraße in die Schleife an der Endstation fuhr, fast noch hingefallen.

      Jetzt hatte ich aber wirklich die Schnauze voll – der nächste, der mich schräg von der Seite ansah – oder Gott behüte anquatschte – kriegte eins reingewürgt! Ich raffte meine Tasche an mich, stopfte den sinnlosen Stellenteil hinein und trabte los, in die Rheinbergerstraße. Hässlich war es hier... ich hatte ja gehofft, mir nach einiger Zeit bei MediAdvert einen Umzug leisten zu können, aber das konnte ich jetzt wohl erst mal vergessen.

      Die Rheinbergerstraße – benannt nach Mathilde Rheinberger, die um 1880 als Heroine am Stadttheater Starstatus genossen und ihr Vermögen dann der Stadt vermacht hatte – war lang, baumlos und auf beiden Seiten mit Backsteinbauten verschandelt. Hauptsächlich Kleinbetriebe, Autowerkstätten, die aussahen, als könnte man hier auch gefälschte Kennzeichen kriegen, Elektronikbastler, deren Zubehör wahrscheinlich vom Laster gefallen war, zweifelhafte Kneipen, Getränkemärkte, die so gut wie nichts Alkoholfreies führten, dazwischen ein Asia-Imbiss, der so scheußlich kochte, dass seine wahren Einkünfte wahrscheinlich aus dem traditionellen Handel mit geschmuggelten Zigaretten herrührten. Ab und an ein Wohnhaus wie das, in dem ich lebte – drei Etagen, in jeder vier Einzimmerappartements, leicht vergammelt, aber konkurrenzlos billig, was die Miete betraf. Und an der Ecke Ifflandweg gab´s einen 24/7-Waschsalon. Obskur, was die Mitwascher betraf, aber mit funktionsfähigen Maschinen und Trocknern. Außerdem hatte die Meinradstraße – knapp zehn Minuten entfernt – einen Billigmarkt aufzuweisen, und mehr brauchte ich bei meiner Finanzlage nun wirklich nicht.

      Immerhin hatten wir einen Vorgarten – echter Luxus! Links und rechts des Plattenwegs, der unter das schief hängende Vordach aus gelbgrau verfärbtem Kunststoff führte, sah man matschigen Rasen, teilweise schneebedeckt, darauf einen zerbrochenen Schlitten, einen einzelnen gelben Wollhandschuh, so viele Kippen, dass wohl jemand seinen Autoaschenbecher