Ein gestörtes Verhältnis. Elisa Scheer

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Название Ein gestörtes Verhältnis
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737547741



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      „Verständlich. Aber bitte, gib ihr nicht nach!“ Er lächelte schief und verschwand wieder, ohne die Türe zu schließen.

      Zwei Türen weiter versuchte Vincent, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren; neben seinem Hauptprojekt hatte er gerade eine niedliche kleine App konzipiert, mit der man einfach, aber effizient auf dem Handy ein Ausgabenbuch und eine Übersicht über die Geldanlagen führen konnte, und wollte über die Details nachdenken und überlegen, wie er bei der Programmierung vorgehen wollte. Aber die Szene in der Eingangshalle ließ ihn nicht los. Diese Judith hatte sich wie eine Verrückte aufgeführt!

      Wusste seine Mutter eigentlich, dass die Frau einen an der Waffel hatte? Oder störte das ihren Traum von der Vereinigung der Sandkastenfreunde nicht? Nahm seine Mutter die Realität überhaupt noch korrekt wahr?

      Was hatte Judith Schottenbach gegen diesen Typen vor der Tür? Gut, er hatte ein wenig wie ein Penner ausgesehen, und anscheinend hatte er an seinem ersten Tag auch schon einmal draußen herumgestanden, aber warum dieser Ausbruch? Dieses Gekreische? Farbige Schimpfwörter hatte die Gute drauf, das musste man ihr lassen…

      Ob sie irgendeine psychische Störung hatte? Aber sonst hatte sie doch immer ganz normal gewirkt? Obwohl, was hieß schon normal…

      Und vielleicht traten diese Wutanfälle auch nur gelegentlich auf.

      Nein, diese Theorien kamen ihm selbst bescheuert vor. Viel naheliegender war die Möglichkeit, dass sie mit diesem abgerissenen Typen irgendwelchen Ärger hatte.

      Na gut, dann war sie vielleicht nicht durchgeknallt, aber ganz schön reizbar. Auch so eine Frau wollte er nicht, egal, wovon seine Mutter so träumte.

      Ihr Vater schien viel Verständnis für sie zu haben… was sagte das über die beiden aus? Wahrscheinlich gar nichts, schließlich kannte er beide noch ja kaum. Energisch wandte er sich wieder seiner App zu.

      *

      Judith saß immer noch an ihrem Schreibtisch, das Gesicht in den Händen vergraben. Wenn Schmiedl so weiter machte, verlor sie entweder den Verstand oder brachte Schmiedl eines Tages wirklich noch um. Nein, wegen dieses miesen Schweins wollte sie nicht den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen!

      Was war jetzt mit diesem Projekt? Sie hatte die Mappe gerade aufgeschlagen, als ihr Telefon klingelte.

      Ihre Mutter, na bravo.

      „Was kann ich für dich tun, Mutter?“

      „Warum so formell, mein Mädelchen?“

      Judith hasste es, wenn sie sie so nannte – diese Anrede stand nur Papa zu.

      „Du weißt, dass ich nicht zu Gefühlsduseleien neige. Und sei ehrlich, du auch nicht, wenn keine Kamera läuft.“

      „Kleine Zynikerin!“

      Dieser neckende Tonfall konnte einen rasend machen.

      „Meinst du, weil ich dich durchschaut habe?“

      „Also, etwas mehr Respekt könntest du schon haben!“

      Judith gab ein unfeines Geräusch von sich, auf das ihre Mutter leider nicht ansprang – also musste sie nachlegen. „Als Schauspielerin? Vielleicht. Aber als Mutter? Vergiss es! Und auf liebendes Mutterherz musst du jetzt auch nicht machen. Ich überlege sowieso immer nur, welche Schlagzeile du damit bewirken möchtest.“

      „Wie wär´s mit: Jessica Rother: Trauer über undankbare Tochter?“

      „Soll das eine Drohung sein? Mach nur!“

      „Hast du keine Angst vor einem Shitstorm?“

      „Wie denn? Ich bin nicht in sozialen Netzwerken unterwegs. Einen Shitstorm bekäme ich doch sowieso nicht mit. Ich könnte mich aber unter einem Pseudonym anmelden und auf deiner Seite ein bisschen stänkern…“

      „Untersteh dich!“ Das klang regelrecht panisch. Judith lachte erfreut. „Hast du Schiss?“

      „Drück dich nicht so ordinär aus!“

      „Für Erziehungsmaßnahmen ist es jetzt ein kleines bisschen zu spät. Wäre es übrigens nicht einfacher, du schwiegest mich tot? Ich meine – deine Jüngste ist neunundzwanzig: Wie alt bist du denn dann?“

      „Das ist doch total von gestern! Jeder weiß, dass ich sechzig werde. Ich stehe zu meinem Alter.“

      „Lobenswert“, höhnte Judith. „Du würdest ja auch nie was machen lassen, nicht? Dass du so jugendlich wirkst, liegt nur daran, dass du genügend schläfst, viel wanderst und nur Wasser trinkst?“

      „Selbstverständlich“, antwortete ihre Mutter frech. Judith, die von mindestens zwei kleineren Straffungen wusste, musste die Chuzpe ihrer Mutter bewundern. „Du traust dich was! Und was, wenn dein Chirurg mal Geld braucht und plaudert? Stars, die ich schon unter dem Messer hatte – oder so? Dann schaust du aber echt alt aus!“

      „Willst du mir eigentlich mit Gewalt den Tag verderben?“

      Judith freute sich – einen gewissen Reiz hatte ein solcher Schlagabtausch schon. „Aber nicht doch! Einigen wir uns doch so – du redest nicht über mich und ich rede nicht über dich, okay?“

      Gegrummel.

      „Komm, die Jungs können Publicity wenigstens brauchen, lass dich doch über die beiden aus.“

      Jetzt hatte ihre Mutter offenbar genug von der unnatürlichen Tochter und beendete das Gespräch mit den kürzestmöglichen Floskeln.

      Judith grinste noch einen Moment lang das Telefon an – diese eitle alte Kuh, Hauptsache im Gespräch bleiben, was? Aber manchmal war sie schon cool… Konnte Schmiedl nicht bei ihr vor der Tür stehen? Sie konnte schließlich jede Publicity brauchen, denn wer wusste schon, wie lange die Mutter des jüngsten Kommissars noch in der Serie gebraucht wurde… und wann hatte sie eigentlich die letzte Rolle in einem nennenswerten Film gehabt? Oder gar irgendeinen Preis gewonnen? Hatte sie überhaupt schon mal einen Preis gewonnen?

      Doch, ja. Judith konnte sich noch an das Haus erinnern, in dem sie früher einmal gewohnt hatten, vor fast zwanzig Jahren. Da hatte es einen Kamin gegeben und auf dem Kaminsims ein goldenes Reh.

      Wofür hatte ihre Mutter denn einen Bambi gewonnen? Das müsste sie ja fast mal im Netz nachsehen – nein, nicht jetzt. Zuhause vielleicht, rief sie sich streng zur Ordnung. Marginales Problem, sie hatte schließlich zu arbeiten!

      *

      Wolfgang Schottenbach hatte in seinem eleganten Büro am anderen Ende des Ganges (durch das Sekretariat abgeschirmt) auch Schwierigkeiten, sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren. Dass dieser grässliche Kerl auch wieder hier auftauchen musste?

      Judith hatte sich hart genug getan, diese Entführung zu verarbeiten – vor allem, weil das Verarbeiten bei diesem bockigen Kind eher an Verdrängen erinnerte… er lächelte wehmütig. Judith war sein ein und alles, auch wenn er seine beiden Stiefsöhne durchaus schätzte und sie ihn auch. Aber Judith – da gab es Gemeinsamkeiten, gleiche Interessen, manchmal spontan die gleichen Gedanken und natürlich von Anfang an den Beschützerinstinkt, als man ihm das winzige Bündelchen in die Arme gelegt hatte, das wütend mit den Ärmchen fuchtelte und aus Leibeskräften krähte. Die Protesthaltung war ihr bis heute geblieben – und Jessica verstand mit dem Mädchen einfach nicht umzugehen.

      Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden, und wandte sich wieder seiner Arbeit zu, allerdings ohne viel Erfolg.

      Und wenn Jessica sich doch einmal wie eine Mutter um Judith kümmerte? Judith brauchte doch ab und zu auch eine weibliche Bezugsperson, gerade in Krisenzeiten wie dieser.

      Er nahm den Hörer ab und wählte Jessicas Nummer.

      *

      Auch Judith telefonierte – mit der Polizei. In zunehmend gereiztem Ton schilderte sie Schmiedls Verhalten, sprach von Psychoterror