Ein gestörtes Verhältnis. Elisa Scheer

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Название Ein gestörtes Verhältnis
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737547741



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      Schließlich begann ihr Magen zu knurren und sie überlegte, was sie jetzt tun sollte – essen gehen? Was, wenn Schmiedl draußen lauerte?

      Die Alternative war der Snackautomat im Erdgeschoss – aber die Schokoriegel darin waren zwar frisch und bei manchen Leuten auch recht beliebt, aber sie mochte das Zeug leider überhaupt nicht. Das war etwas, worum Nini, ihre beste Freundin, sie heftig zu beneiden pflegte – keine Schokolade zu mögen, das war schon fast die Garantie auf eine Topfigur. Nini futterte täglich mindestens eine Tafel (edelster Sorte natürlich) und war trotzdem nicht dick, nur vielleicht ein bisschen handfester, was ihr aber, wie Judith fand, ganz gut stand. Sie selbst war eigentlich zu dünn, aber sie hatte eben selten Appetit. So, und jetzt hatte sie Hunger, endlich mal! Vom Nachdenken über Nini wurde sie nur noch hungriger - und zwar wollte sie jetzt ein ordentliches Sandwich. Mit Hähnchenbrust und irgendetwas Würzigem. Salatbar, eindeutig!

      Vor der Tür stand niemand. Judith atmete auf und eilte zwei Ecken weiter zur Sandwichbar, suchte sich dort einen Platz im hinteren Teil, wo sie auch von der Straße nicht zu sehen war, und vertiefte sich in die Karte. Oh, gebratene Hähnchenstreifen und Dijon-Senf auf Dinkel-Sonnenblumenbrot… das klang regelrecht gesund. Und nahrhaft, damit war sie bestimmt bis abends versorgt.

      Sie bestellte und sah sich dann unauffällig um – durchgehend Leute in ungefähr ihrem Alter, die höchstwahrscheinlich in den Firmen der Umgebung arbeiteten.

      Detektivische Meisterleistung, Judith! Welches Publikum war hier denn sonst zu erwarten?

      Zwei Tische weiter saßen Anna und Simon aus der Entwickleretage, und ihren Gesten nach – und nach der Art, wie sie die Köpfe zusammensteckten – kamen die beiden sich gerade etwas näher… Nett. Wenn man so etwas mochte, hieß das. Die beiden bemerkten sie nicht, vielleicht wollten sie auch nur ungestört sein.

      Judith bekam ihr Sandwich und begann langsam und genüsslich zu essen, während sie beobachtete, wie Anna und Simon zahlten und den Laden verließen. Wirklich lecker. Und dieser Senf war höllisch scharf, das musste der Meerrettich sein. Sie fühlte sich regelrecht belebt. Nach der Arbeit sollte sie vielleicht doch mal einkaufen gehen – und dabei auch eine Tube Sahnemeerrettich mitnehmen, beschloss sie und kaute bedächtig. Ja, und eine Tüte Vollkornsemmeln mit Sonnenblumenkernen darauf. Der Gedanke gefiel ihr so gut, dass sie sich tatsächlich eine Einkaufsliste schrieb. Merkwürdig, sonst war ihr nach dem Essen der Gedanke an die nächste Mahlzeit eher unangenehm. Vielleicht lag das am unvertrauten Geschmack des Meerrettichs? Oder hatte sie sich verändert? Aber warum? Weil der widerliche Schmiedl vor der Tür gestanden hatte? Warum sollte ihr das Appetit machen?

      Unsinn.

      Sie verbannte diese fruchtlosen Gedanken, aß auf, wobei sie sich bemühte, an gar nichts zu denken, sondern nur zu genießen, und winkte der Bedienung.

      Ein schöner Spätherbsttag, fand sie unterwegs und sah sich bewundernd um – ein schwächlicher Sonnenschein, fast kahle Bäume, trockene rote und gelbe Blätter auf dem Boden, die bei jedem Windhauch raschelten wie Papier. Und morgen war schon Freitag – schön…

      Obwohl, was würde sie am Wochenende schon Großartiges machen? Sie konnte irgendwo hinfahren und dort etwas besichtigen und schön lange spazieren gehen. Vielleicht nach München, bis dahin würde Schmiedl ihr ja wohl nicht folgen… ob jemand, der direkt aus dem Knast kam, eigentlich ein Auto hatte? Ein zwölf Jahre altes, das irgendwo auf ihn wartete?

      Die Schottenbach KG kam in Sicht und Judith, die sich von hinten genähert hatte, schlüpfte durch den Hofeingang ins Gebäude und eilte in den Eingangsbereich, wo sie wie erstarrt stehenblieb.

      Durch den Haupteingang kam gerade dieser Sonntag, und am Empfang stand ihr Vater und gab der Empfangsdame Anweisungen, aber das war es nicht, was sie so erschreckt hatte: Vor der Glastür stand Schmiedl.

      Grauhaarig, schmalköpfig, schwarz gekleidet. Wie damals!

      Er starrte ins Innere des Hauses und Judith starrte nach draußen: Wie konnte er es wagen! Er sollte sie verdammt noch mal in Ruhe lassen, dieser verdammte, verfickte Scheißkerl!

      Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die Lähmung vertreiben, und stürzte dann nach draußen, auf Schmiedl zu, ihre Handtasche schwingend und wütend kreischend.

      „Du blödes Arschloch, wie kannst du es wagen, hier aufzutauchen! Verpiss dich, du dreckiges Schwein, du Abschaum, du -“ Sie hielt inne, teils, weil ihr leider kein neues, noch schlimmeres Schimpfwort einfallen wollte, teils aber auch, weil Schmiedl, der sich das regungslos angehört hatte, sich plötzlich umdrehte und davoneilte.

      Sie starrte ihm nach und brach dann in Tränen aus, bis sie eine Berührung an der Schulter spürte und heftig zusammenfuhr.

      „Komm rein, mein Mädchen.“

      „Ach, du bist es, Papa…“ Zögernd ließ sie sich in den Arm nehmen.

      „Das – das war er“, wisperte sie dann an seiner Schulter. „Hast du ihn gesehen? Ich spinne doch nicht, das war er, ganz bestimmt!“

      „Natürlich war er das, ich habe ihn doch auch gesehen. Soll ich die Polizei informieren? Allerdings bin ich nicht sicher, ob die etwas unternehmen können. Ganz ehrlich, er hat nichts gemacht, du bist ja auf ihn los!“

      „Was hast du erwartet? Wenn er mir nochmal unterkommt, bring ich ihn um.“

      „Mein Mädchen, sag sowas nicht. Mach dich nicht unglücklich für so einen.“

      „Unglücklich bin ich doch sowieso“, rutschte es ihr heraus. Erschrocken sah sie zu ihm auf. „Nein, das ist Unsinn. Mir geht es gut, wirklich. Nur nicht, wenn mich dieser Kerl verfolgt.“

      „Du bist wirklich eine Meisterin im Leugnen des Offensichtlichen! Judith, du brauchst Hilfe, gib´s doch endlich zu!“

      „Quatsch.“ Sie hob den Kopf und sah Sonntag, der sie betrachtete, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen.

      „Was ist?“

      „Ihr Vater hat Recht.“

      „Was wissen Sie denn schon!“ Sie machte sich von ihrem Vater los und rannte die Treppe hinauf. Im oberen Stock verlangsamte sie ihr Tempo, bevor noch jemand von den Entwicklern fragte, ob ihr etwas fehle. Sie atmete tief durch, um ruhiger zu werden, und kehrte in ihr Büro zurück.

      Weiterarbeiten!

      Arbeit war das einzige, was Sicherheit gab – aber sie konnte sich absolut nicht konzentrieren: Warum stand Schmiedl so dämlich vor der Firma herum? Er hatte nicht versucht, sie anzugreifen, im Gegenteil, er war nur davongelaufen, als sie ihn attackiert hatte. Was hatte er bloß gewollt?

      Sie nahm sich einen Zettel.

      Er will mich verrückt machen.

      Er will schauen, was ich heute so mache.

      Er will sich entschuldigen.

      Er will mich nochmal entführen, weil er kein Geld mehr hat.

      Ziemlicher Blödsinn, überlegte sie dann und warf den Zettel zerknüllt in den Papierkorb.

      Es klopfte an der Tür und sie brummte etwas wenig Einladendes. Die Tür öffnete sich trotzdem und ihr Vater schaute herein. „Ich habe die Polizei informiert.“

      „Meinst du, das nützt etwas? Dumm rumstehen ist eben nicht strafbar.“

      „Mag ja sein, aber immerhin hat er dich einst entführt. Dann sollte er sich jetzt verdammt noch mal von dir fernhalten.“

      Judith zog die Augenbrauen hoch. Ihr feiner, gelassener Vater – der sogar Jessica Rothers Umtriebe ertragen hatte – fluchte? Die Sache schien ihm doch wirklich nahezugehen…

      Sie lachte kläglich auf. „Ich habe schon überlegt, ob er sich vielleicht bei mir entschuldigen will. Idiotisch, was?“

      Ihr Vater zuckte, im Türrahmen lehnend, die Achseln. „Wer weiß das schon… würdest