Die Gabe des Erben der Zeit. Georg Steinweh

Читать онлайн.
Название Die Gabe des Erben der Zeit
Автор произведения Georg Steinweh
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847693000



Скачать книгу

kurze Pause entstand, die sie etwas näher brachte.

      Und wieder spürte sie, wie leer, wie verzweifelt sie damals war. Verzweifelt, weil sie es sich nicht erklären konnte. Warum war er gegangen? Sie hatte keinerlei Anzeichen gespürt. Fast unmerklich schüttelte sie den Kopf. Fred wollte sie nicht unterbrechen, auch nicht in ihrem Schweigen. Das einzige, was er gerade anbieten konnte, war zuzuhören. Es wunderte ihn nicht, daß das Verhältnis zwischen den zwei Frauen eisiger wurde, je weniger Männer in der Familie waren. Eine grausige Vorstellung für ihn, diese Zwangsgemeinschaft, zwei Menschen, die gegensätzlicher nicht sein konnten, führten gemeinsam, wenn dieses Wort dafür verschwendet werden durfte, eine Wirtschaft. Widerwillig versuchte er sich eine ähnliche Situation zwischen sich und seinem Vater vorzustellen.

      An der Freien Tankstelle tankte er und suchte etwas zu lesen für den Sonntag. Neben dem „Konstanzer Boten“ lag „Die Zeit“ noch übrig im Regal. Heute war Samstag. Sicher das letzte Exemplar. Oder das Einzige. Nahm sich auch „Die Zeit“, schon wegen der auffälligen Titelunterschrift.

      Fred war in Hemmingen angekommen. Die weit verteilten Straßenlaternen warfen ihr mattes Licht in seinen Wagen. Die Wochenzeitung schlug mit ihrem Deckblatt nach den grauen Schatten und verlangte Freds Aufmerksamkeit. Amüsiert registrierte er noch einmal die Überschrift: „DIE ZEIT“ und darunter „...ist relativ!“

      

       Sonntagfrüh

      

      Kein Kaffee der Welt konnte Freds Kräfte zurückholen.

      Hatte er je einen Hauch von Lust verspürt, in diesem Haus zu bleiben, so war sie mittlerweile versickert. Wieder eine unruhige Nacht. Bockig saß er an einem der alten Gasttische, in die Eckbank gedrückt von seiner eigenen schlechten Laune. Rührte mit dem Löffel im Kaffee, obwohl weder Milch noch Zucker aufzulösen waren.

      „Es reicht. Was mach ich eigentlich noch hier? Zusehen, wie mich dieses Haus ruiniert, an den Rand des Wahnsinns treibt? Oder darüber hinaus!“ Allein sprach man am besten mit sich selbst.

      Ein schönes Haus. Aber jede Ecke erinnerte Fred an seinen Vater.

       Hätte ruhig mal anrufen können. Hatte wahrscheinlich ein schlechtes Gewissen.

      Fred war nicht nur ein guter Geschäftsmann, er war auch ein Verdrängungskünstler. Er rief nicht an, sein Vater rief nicht an. Und schon war sein Vater der familiäre Bremsklotz, der sich in diesem Nest eingeigelt hatte um seinen Weltschmerz zu pflegen. Sein Vater war für ihn schon längst gestorben. Unruhig ging er ein paar Schritte.

      „Wenn ich nur eine winzige Idee hätte, was ich mit der Hütte anstellen soll. Fred, ich sag dir, das ist auf gar keinen Fall eine Alternative für Bacharach. Dort steht eine Goldgrube. Und hier? Ein Hexenhaus.“ Niemand in der Nähe, der ihm widersprechen konnte. Niemand, dessen Widerspruch er geduldet hätte. Er schaute sich um. Der Wirtsraum war leer, seine Sätze klangen trotzdem nicht hallig, die Bänke erinnerten sich an die müden Körper, die abends hier ihr letztes Glas tranken.

      Träge schlurfte er zur Theke zurück, bedrängte sich selbst mit „Ich brauch ne Eingebung, sonst sag ich ab“ und warf den Löffel achtlos in die Spüle. Ein grässliches Scheppern. Ging nicht dieser Tage etwas zu Bruch, ein kleines, dünnes Glas vielleicht? Er hatte sich am Finger verletzt, geblutet. Das wusste er noch. Er durchsuchte die Schankregalen. Unruhig wanderte sein Blick in jede Ecke. Kein übersehener Splitter. Nichts fehlte. Kein Glas, kein Krug. Alles in Reih und Glied. Lückenlos. Was er von seiner Erinnerung nicht sagen konnte. Es war Sonntag. Das war klar.

       Warum nehm ich nicht einfach die Zeitung, fahr mit dem Boot auf den See hinaus und lass den lieben Gott einen guten Mann sein?

      Lass den lieben Gott einen guten Mann sein - Freds Vater sagte das oft.

      Allerdings wäre dem nie in den Sinn gekommen, eine Zeitung mit auf den See zu nehmen, dafür hatte er zu viel zu tun.

      Fred hatte hier nichts mehr zu tun, schnappte sich Handy und die Zeitungen und tuckerte wenig später Richtung Schweiz.

      „Bitte nicht über die Reling lehnen!“ schimpfte der Kapitän durch die Bordsprechanlage. Das folgende „Saupreis´n, die Japanischen“ war nur für die Ohren seines Bootsmannes im Fahrstand des Schiffes bestimmt.

      Der Kapitän war Bayer, das hörte Ferdinand Beißwanger unschwer aus den Ansagen heraus. Weit schwerer fiel ihm die geografische Zuordnung der Trachtengruppe, die mit 30 Personen auf die „Stein am Rhein“ eingefallen war. Japaner waren es keine. Die Auskunft hätte Beißwanger dem Kapitän zuverlässig geben können, falls er die bayrische Beschimpfung gehört hätte. Er als Historiker... Beißwanger wischte den Gedanken beiseite, er war heute nicht als Historiker unterwegs. Einmal einen entspannten Ausflug auf dem See genießen, ohne Recherche, ohne Auftrag. Er atmete tief ein, prüfte, ob sein Hut noch saß und stellte fest, daß auch ein Rentner dauernd beschäftigt sein konnte.

      Ferdinand Beißwanger musterte Farben und Schnitte der Kleidung. Die Leute sprachen französisch, konnten aber sowohl aus der französischsprachigen Schweiz kommen wie aus dem Mutterland der Sprache. Er kam nicht weiter, das ärgerte ihn. Aber es amüsierte ihn, zuzuschauen, sie alberten und lachten, fotografierten um die Wette, Möwe mit See, Möwe mit Schiff, Gruppe mit Himmel, Gruppe mit Schweizer Flagge.

      Eine füllige Schönheit kam auf ihn zu.

      „Photo please?“ lächelte sie ihn an, hielt ihm sachdienlich übersetzend gleich ihren Apparat entgegen und winkte die Gruppe herbei. ‚Die halten mich also für einen Engländer’, dachte Beißwanger. Wundern musste er sich nicht. Beißwanger kleidete sich gerne praktisch und seriös. Also meist eine breit gerippte Cordhose, ein dünnes, frisch gebügeltes Hemd, darüber Strickjacke oder Anzugweste. Auch im Sommer, egal wie warm es war. Seine dünnen, zurückgekämmten Haare waren stets von einem Hut bedeckt, der möglichst klein, also unauffällig sein musste. Bescheidenheit war angesagt.

      Beißwanger war dürr aber nicht magersüchtig. Er machte sich eben nichts aus Essen und betrachtete es höchstens als willkommene Störung seiner Studien. Beißwanger hatte eine Körperhaltung, die nach alter Schule, förmlicher Erziehung und vornehmer englischer Zurückhaltung aussah. Daß er stets ein frisch gebügeltes Taschentuch in seiner rechten Hosentasche trug, konnte natürlich niemand sehen.

      Er nahm also den Apparat, schoss ein paar Aufnahmen von den sich ständig neu positionierenden Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, auf jedem Bild eine neue Grimasse zu schneiden. Er schmunzelte. Seinen Dresscode hatten sie erkannt. Er dagegen war mit ihnen nicht weiter gekommen. Würde er sich im Augenblick auf einer Bodenseefähre im Mittelalter einfinden, wüsste er sich besser zu helfen. Farbsymbolik und Kleiderordnung würden ihm geradeheraus berichten, daß eine Gruppe aus dem vorderasiatischen Raum anreiste und die Gruppe auf dem Vorschiff eine spanische Delegation des umstrittenen Papstes war. Das war sein Metier. Aber hier...

      Etwas unzufrieden lehnte er sich zurück und ergab sich dem Fahrtwind. Auf der Bank lag sein Leitz-Ordner, den hatte er immer dabei, egal, wohin er ging. Es könnte ihm ja langweilig werden, es könnte ihm ja etwas einfallen.

      Heute wollte Beißwanger entspannen und hoffte dennoch auf eine kleine Eingebung, gerne auch eine größere. Es war ihm sehr präsent, eine Chronik schreiben zu müssen, die sich an vielen anderen Druckerzeugnissen messen lassen müsste, die im Jubiläumsjahr den Markt überschwemmen würden. Er war auf der Suche nach einem „Alleinstellungsmerkmal“, wie sein Verleger etwas zu oft betonte.

      Beißwanger spürte es, es lag in der Luft, ganz sicher zum Greifen nah. Er bewegte sich durch Konstanz, an Häusern vorbei, die schon vor 600 Jahren standen und versuchte den Geist einzuatmen, den sie neben vielen anderen Ausdünstungen absonderten. Dieser Heimvorteil musste doch zu irgend etwas nütze sein. Doch die Häuser und Gassen schwiegen.

      Auch er konnte nur auf das gleiche Recherchematerial zugreifen wie andere Autoren auch. Er zählte