Die Gabe des Erben der Zeit. Georg Steinweh

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Название Die Gabe des Erben der Zeit
Автор произведения Georg Steinweh
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847693000



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im Stuhl zurück, schaute dem Wind entgegen und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Obwohl es nichts zu korrigieren gab. Die Locken saßen. Ein Vorteil der Kürze. Er betrachtete seine Hände. Gut, die könnten kleiner sein. Seit er 13 war trainierte er mit Expandern und einem Trainingsgerät der NASA, das angeblich auch in der Schwerelosigkeit funktionierte. Hier auf der Erde hielt es seinen Körper in Schuss.

      Der See war gut für Fred. Wellen, nur Wellen, Wasser, wohin er schaute. Er schaute aber nirgendwo hin. Trügerisch. Keinen Augenblick blieb eine Welle gleich, jeder Tropfen, der sich einmischte, veränderte alles.

      Licht, mit etwas Glück die Sonne, verwandelte sich in Reflexe, die von Wellenkamm zu Wellenkamm hüpften. All dies und noch mehr sorgte dafür: es gab keine Wiederholung.

      Auch die Erinnerungen an seine Jugend waren keine Wiederholung, es waren einfach nur Erinnerungen – auch wenn sie ungefragt auftauchten. Wie die Ereignisse der letzten Tage. Sie mit dem Blick zum See noch einmal gezielt abzufragen, hatte nicht einmal den Schmerz in seinem Finger gelindert. Er war keinen Schritt, keinen Gedanken weiter gekommen.

      Der Horizont interessierte ihn immer noch nicht, seine Augen fixierten stur weiterhin einen Platz weit im See und entwarfen auf der Netzhaut das schlichte Bild einer Welle. Einer Welle. Einer Welle.

      Sein Reiz für die Wiederkehr des immer Gleichen wiederholte sich sogar im Brief des Vaters.

      Mein lieber Alfred,

       Ich könnt das Kotzen kriegen, ignorierst einfach meinen Wunsch, Fred genannt zu werden.

      Es tut mir aufrichtig leid, nicht zu früheren Zeiten den Weg zu Dir gefunden zu haben. Sicher denkst Du von mir, daß ich ein alter, sturer Bock bin. Sonst hätte ich mich ja bei dir gemeldet.

       Da hast du allerdings Recht.

      Das Ärgerliche war, Fred konnte genauso stur sein. Mindestens.

      Du bist jetzt allein und doch hoffentlich nicht. Was weiß ich schon von Deinem Leben, Deinen Gefühlen? Bist Du verheiratet, hast Du eine Freundin, oder hält es mit Dir Keine aus?

      Zornig las er weiter, ein gelegentlicher Blick aufs Wasser verbesserte seine Stimmung auch nicht. Der handgeschriebene Text schabte mit jeder Zeile mehr an seinem Befinden. Nach einigen Sätzen spürte Fred, wie seine Gefühlslage völlig entglitt, unfähig, sich dem Sog des Briefes zu entziehen. Seine Magengrube zog sich zusammen, obwohl er kein Bauchmensch war, sein Wille blieb auf der Strecke, er konnte sich wehren, soviel er wollte. Diesmal also nicht. Diesmal bestimmte nicht er die Regeln dieses Spiels. Er konnte nur hoffen, nicht als Bauernopfer vorgesehen zu sein.

       Ach Mensch, nicht schon wieder!

      Laß Dich nieder. Freunde Dich mit Deiner Muttererde an. Vielleicht kriegst Du ein Gefühl dafür, was Deine liebe Mutter, meine über alles geliebte Vrenie an diesem Fleckchen Erde hinterlassen hat. Für mich blieben nur Trauer und endlose Vorwürfe, für Dich hoffentlich eine glücklichere Zukunft als es meine Vergangenheit sein durfte.

       Kein Mensch auf dieser gottverdammten Welt benutzt dieses Wort Muttererde, ausgerechnet mein Vater kommt bei jeder passenden und nun unpassenden Gelegenheit damit an. Hat echt Talent, meine eh nicht beste Stimmung gründlich zu versauen.

      

      Im Brief ein Absatz.

      Er ließ Fred einen Augenblick Zeit, genügend Zeit, um eine weitere Welle zu betrachten, Zeit, an seine Mutter zu denken.

      „Meine Vrenie“, so hatte Konrad Keller sie immer genannt, liebevoll ihren Namen beseelt, nicht nur um sich von den spröden Schwiegereltern zu unterscheiden, die ihre Tochter Zeit ihres kurzen Lebens Veronika nannten.

      „Die Vrenie“, so hieß sie auch im Dorf. Sie war derart beliebt, da hätte man gern geglaubt, sie sammelte alle Sympathien in der Nachbarschaft ein, um sie für ihre Familie zu horten.

      Konrad Keller war von einer Art... ja, er konnte es einem richtig schwer machen. Vielen im Dorf. Hier geboren und trotzdem zurückhaltend, wenn es um die Geschicke des Ortes ging. Eingebunden im Fischereiverein aber zugleich wortkarger Eigenbrödler. Ein begnadeter Fischer und ein Schnapsbrenner mit dem richtigen Riecher. Das reichte, um die Stubenwirtschaft lebendig zu halten.

      Eines Morgens fiel Vrenie aus dem Boot und ertrank.

      Die polizeilichen Untersuchungen brachten keine Zweifel. Ein Unglück, tragisch zwar, vor allem unter erfahrenen Fischern, aber leider kein Einzelfall. Das Resümee war zynisch: Fischer müssen mit der Tatsache leben, je länger sie auf den See hinausfahren, umso größer wird das Risiko, über Bord zu gehen und zu ertrinken.

      Mit seinen neun Jahren bot Fred einen Anblick sprachloser Traurigkeit. Er brauchte lange, bis er verstand, daß seine Mutter nicht mehr auftauchen würde. Nicht mehr in seinem Leben, nicht mehr aus dem See.

      Als Fred älter wurde, hielt er es der Einfachheit halber wie ein Großteil der Hörianer – er gab seinem Vater die Schuld. Daran, daß seine Mutter nur kurze Zeit in dieser Welt glücklich sein durfte.

      Konrad musste schuldig gesprochen werden. Er hatte dem Kind die Mutter geraubt. Dieses Stigma ertrug Konrad, jeder Blick auf der Straße, in der Wirtschaft, markierte ihn, schwächte sein angebrochenes Herz.

      Fortan fuhr der alte Keller nur noch selten raus, zog aus dem See, was der an Fischen hergab und hielt sich mit seiner Schnapsbrennerei und der Wirtschaft über Wasser. Verließ selten das Grundstück und behielt seinen heranwachsenden Sohn im Auge. Konrad Keller wollte ein besserer Vater werden, wenn er dem Jungen schon nicht die Mutter ersetzen konnte. Doch der Männerhaushalt stand unter keinem guten Stern, Alfred war von dem, was sein Vater Erziehen nannte, nicht begeistert. Anfangs stritten sie wenigstens noch, nach ein, zwei Jahren schwiegen sie sich nur noch an, sogar auf dem See. Am Ende gingen sie sich aus dem Weg.

      Der alte Keller war nicht mehr in der Lage, die Hände, die sich ihm entgegen streckten, zu erkennen. Er suchte keine Hilfe für seinen streunenden Sohn, der um die Dörfer zog wie ein räudiger Hund. Es kam nicht einmal zu einem nachbarschaftlichen Streit, weil sie sich aus dem Weg gingen. Er verkroch sich in sein Haus. Hin und wieder kam ein größeres Paket. Den einen oder andern hätte es schon interessiert, was der Konrad ständig bestellte. Die Wirtschaft blieb schon lange leer. Kein Fischer, kein Spaziergänger, der beim Keller saß, um sich alte Geschichten anzuhören. Und neue gab es nicht.

      Bis er an Herzversagen starb.

      So stand es im Befund des Arztes.

      Der See half Fred mit unaufgeregten Wellen. Er entspannte sich, seine Gedanken machten sich unbemerkt auf die Reise.

      In Freds Erinnerung schoben sich die besänftigenden Worte des Notars. „Glücklicherweise musste Ihr Herr Vater nicht mehr leiden. Nach gewissenhafter Einschätzung des ihn untersuchenden Arztes trat der Tod wohl sofort ein.“

      Die Sätze hatten ihn aber nicht beruhigt. Im Nachhinein hatte er sich gewundert, weil er sofort über das Wörtchen mehr gestolpert war.

      „Glücklicherweise musste Ihr Herr Vater nicht mehr leiden.“

      Musste er denn vorher leiden? Worin bestand das Leid, das man ihm, das er sich zugefügt hatte? 18 Jahre, Freds halbes Leben, fehlten die Versatzstücke aus Konrads Leben. Was hatte ihn beschäftigt? Suchte er Ablenkung in der Literatur? Das Boot war erstaunlich in Schuss. Hatte er sich jemals gefragt, wie es Fred ging? Warum hatte Konrad Keller die Zeit um die Testamentseröffnung so aufwendig inszeniert?

      „...vielleicht ist es Dir vergönnt, liegt es in Deiner Bestimmung, was mir trotz aller Anstrengungen verwehrt geblieben ist...“

       Ein bisschen klarer hätte er sich schon ausdrücken dürfen, auch wenn er mit mir seinen Spaß haben will.

      Er