Die Gabe des Erben der Zeit. Georg Steinweh

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Название Die Gabe des Erben der Zeit
Автор произведения Georg Steinweh
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847693000



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er brauchte einen Knüller.

      Trotzdem beunruhigte ihn dieser Druck im Moment nicht sonderlich. Der Ordner lag unbeobachtet neben ihm, noch drei Monate Zeit, das Manuskript abzugeben. Ein Gefühl, das er von sich nicht kannte: untätiges Genießen. Er hoffte, dieses Glücksgefühl möge nicht von kurzer Dauer sein. Es hatte eine Ursache.

      Seine Recherchen hatten ihn auch letzten Freitag in die Konstanzer Universitäts-Bibliothek geführt. Über die zwei Faksimile-Ausgaben der gesuchten Bücher war er sehr erfreut, was ihn aber noch mehr entzückte, war die Tatsache, ein weiteres Kleinod entdeckt zu haben: Friederike Schmal, Teilzeitkraft der Bibliothek. Zwei Dinge wurden dadurch für Beißwanger wichtig: am nächsten Montag zur Schicht von Frau Schmal die gesuchte Richental-Chronik endlich in Händen zu halten – und sich vorzustellen, irgendwann mit ihr auf so einem Schiff eine kleine völlig ungeschäftsmäßige Kreuzfahrt einfach quer über den See zu erleben.

      Der plötzliche Wunsch sich zu verabreden dürfte umso mehr verwundern, wenn man Ferdinand Beißwangers Leben kurz genauer betrachtete. Er war ein Single seit den Jahren, wo dieses Wort noch nicht einmal gängig war. Er lebte allein, zufrieden und extrem geordnet. Da war es nur logisch, in Mannheim, der Stadt der Quadrate und Zahlenstruktur zu leben und zu arbeiten.

      Heute genoss er, sein Frühstück auf See einzunehmen. Kurz nach 9 Uhr hatte das Schiff in Konstanz abgelegt, die frühe Tour lockte mit einem „Schiffsfrühstück“, das er sich sicherheitshalber nicht wie ein „Käptn´s-Dinner“ vorzustellen wagte. So war es dann auch. Die Bedienung jonglierte warmen Kaffee durch die Reihen und verteilte harten Toast, der wohl an die rauen Zeiten erinnern sollte, als Schiffszwieback das Hauptnahrungsmittel für versoffene Matrosen war. Beißwanger nahm´s gelassen, heute konnte er jedem Umstand und jedem Klischee die passenden Zusammenhänge abgewinnen. Um dreiviertel eins würde das Schiff in Stein am Rhein ankommen, nicht ohne auf dem Weg dorthin an jedem deutschen und schweizerischen Uferdorf anzulegen. Ein wunderbar sinnloser Zickzack-Ausflug. Das Schiff hatte vor wenigen Minuten noch eine indische Großfamilie aufgenommen, die Steckborn verlassen wollte. Geradlinig steuerte der Kapitän Hemmingen auf deutscher Seite an, schaute kurz auf seine Schiffsuhr, prüfte, ob er im Zeitplan lag. Er befehligte zwar kein Schienenfahrzeug, aber auf Pünktlichkeit legte die Schweizerische Schifffahrtsgesellschaft großen Wert. Sie würden um 10 Uhr 45 anlegen. Er war zufrieden.

      Beißwanger lauschte entspannt dem klingenden Chaos aus vielerlei Sprachen, ließ sich treiben in die Zeit weit vor seiner Zeit.

      Ein Handy klingelte. Irgendwo draußen auf dem See.

      Beißwanger entdeckte das Boot nicht gleich. Mokierte sich darüber, daß der Mensch an sich nicht mal auf dem Wasser ohne verflixtes Mobiltelefon auskäme.

      „Keller.“

      „Hallo Fred, also ich sag dir, aber erschrick nicht, diese Baufuzzis kosten mich Jahre meines Lebens. Wie die Kinder. Hab ja keine, aber ich sag dir, so stelle ich mir das vor. Jede Ecke muss man denen zweimal erklären. Aber ich sag dir, nicht wiederzuerkennen, wenn’s denn jemals fertig wird. Aber mal was ganz anderes. Kannst dich noch an diese scharfe Französin erinnern, die letzten Herbst bestimmt zweimal die Woche aufkreuzte und dich unbedingt heiraten wollte? Nicht nur, weil ihr das Lokal so gut gefiel... diese verrückte Schnepfe.“

      Fred war grad überhaupt nicht nach Telefonplausch zumute, Verflossene gab es wirklich genug. Obwohl er sich wirklich freute, Pauls Stimme zu hören, hätte er ihn am liebsten angebellt, er möge ihn doch mit Banalitäten in Ruhe lassen. Beherrschte sich aber.

      „War das die, die unbedingt mit mir in der Provence reiten wollte?“

      „Ja gut, mein Lieber, sehr gut.“ Paul war hörbar stolz auf Freds Erinnerungsvermögen. „Und genau diese Tante ist mit einem knorrigen Typen auf unserer Baustelle aufgetaucht. Dachte zuerst, der ist ihr Vater. Schlich zwischen den Durchbrüchen rum wie ein gehfauler Alki. Aber nicht genug. Kannst dir vorstellen, der alte Elsässer war ihr Mann!?“

      „Da hat sich der Geschmack der guten Blanche aber ganz schön verändert!“ Fred stierte gelangweilt auf die kleinen, ruhigen Wellen, die gegen die Bordwand schwappten.

      „Egal. Jetzt kommt´s nämlich, halt dich fest. Sitzt du bequem? Dieser Typ, also natürlich Blanche, will das Lokal unbedingt, ich sage unbedingt! haben. Wenn´s sein muss, pachten. Für zunächst zwei oder drei Jahre. Was machst du eigentlich grade? Störe ich bei irgendwas? Mit diesen drahtlosen Dingern weiß man ja nie, wo man grad landet.“

      „Nein, nein. Schon gut. Bin mit einer Zeitung auf dem See unterwegs.“

      „Na ich hoffe, du hast sicherheitshalber auch ein Boot dabei. Dein Leben möchte ich haben.“ Paul lachte laut. Paul redete echt für zwei.

      „Ich denk drüber nach.“

      „Worüber denn? Ach so. Guter Witz. Du weißt ja, daß ich seit gefühlten 100 Jahren für ein halbes Jahr eine Segelauszeit nehmen möchte. Ganz ernst. Und schon kommt mir diesmal so ein Restaurantfuzzi mit seiner Küche dazwischen und ich Depp schick den auch noch für drei Wochen an den Bodensee und lass mich zumüllen. Bin ein echt guter Mensch, oder? Also, Spaß beiseite, ich mach´s kurz. Sie lässt alles so, wie es ist, also so, wie du es geplant hast, wofür ich hier gradstehe, schließlich bin ich Architekt, das kannst mir glauben! Er zahlt alles, komplett, sogar den ganzen Küchenumbau, Tutti! Verstehst du? Hallo! Fred? Sag piep.“

      Fred schaffte ein langes Ausatmen, das wie eine Brise über den See fegte.

      „Ah, gut. Du lebst. Merken. Küchenumbau plus zehnprozentige Gewinnbeteiligung, und zwar zusätzlich zur Pacht. Und, ganz nach deinem Gusto, Pachtverlängerung.“

      Irgendwann musste Paul doch mal Luft holen. Fred schaukelte mitten auf dem See, ein Schiffbrüchiger, dem das rettende Treibholz nahte. Wenn überhaupt, dann fünfzehn Prozent.

      „Da ist er doch, der Wink mit dem Zaunpfahl.“ Nachdenklich leise, eher für sich sagte er das, doch Paul merkte auf.

      „Was ist? Welcher Zaunpfahl? Ich dachte, du bist im Wasser.“

      „Auf dem Wasser, Paul. Auf dem Wasser. Eher schon über Wasser. Aber das ist eine lange Geschichte."

      Paul druckste plötzlich rum. "Du Fred. Also das klingt ja echt unglaublich spannend, interessiert mich wirklich. Wollt dich aber nicht so lang aufhalten, auf deinem Überwasser. Nur kurz Bescheid sagen, weißt du. Überleg´s dir, hier läuft alles wie am Schnürchen, wie gesagt. Ruf bald mal rüber. So wie ich die, wie heißt sie? ja wie ich Blanche kenn, steht die in drei Tagen wieder auf der Matte.“

      "Ich dank dir, Paul. Bist ein echter Kumpel."

      Und das meinte Fred, bei allem unsensiblen Verhalten, das Paul oft überfiel, das meinte Fred ehrlich. Seit immerhin acht Jahren konnte keine Untiefe die Freundschaft zwischen den Beiden gefährden. Paul war - außer seiner Kochleidenschaft - die mittlerweile größte Konstante in Freds Leben. Sogar die Motorradbastelei hatte er frühzeitig an den berühmten Nagel gehängt.

      "Machs gut, Paul. Bis bald."

      "Machs besser, Freddy. Aber nicht so oft.“ Pauls anzügliches Lachen ging schon nicht mehr durch die Leitung. Fred kannte es eh, wie Pauls Lieblingssprüche.

      Jetzt saß er also in der Klemme, konnte sich nicht mehr einfach raus winden aus dieser Heimatgeschichte, von wegen ‚ich muss mein Lokal weiterführen’ und so. Der Weg war frei, fragte sich nur, wohin. Freds unsteter Blick fiel auf die klamme „ZEIT", wieder las er "...ist relativ".

      Und macht nur vor dem Teufel halt. Hat auch schon mal jemand gesungen. Er lächelte. Das stand ihm besonders gut. Darüber war sich der Schwarm Fische einig, der seit geraumer Zeit aufmerksam das Boot begleitete.

      Anker setzen war sinnlos, der See hier viel zu tief. Ein bisschen Detailwissen hatte sich Fred mittlerweile also angeeignet. Flüchtig blätterte er den „Boten“ durch, ließ sich treiben, von der Strömung, von der spontanen Neugier, welche Zeilen und Bildunterschriften ihn wohl interessieren könnten. Er überflog nichts Aufregendes: die nächste Segelregatta