Die Gabe des Erben der Zeit. Georg Steinweh

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Название Die Gabe des Erben der Zeit
Автор произведения Georg Steinweh
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847693000



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Münster barst vor Menschen. Das war nicht immer so um 1414, aber für die nächste Zukunft würde das Interesse der Bürger wie der Adligen sicher ungebrochen bleiben. Der nächste Sonntag könnte völlig anders aussehen wie dieser Sonntag, die nächste Messe könnte ein anderer Papst wie dieser halten.

      Die Messe hielt Papst Johannes XXIII. Demnächst würde er seinen Rücktritt anbieten, dann doch aus Konstanz fliehen, wenig später von König Sigismund festgesetzt. Aber alles zu seiner Zeit.

      Kein einziger Mensch feindete die feierliche Handlung an oder störte sich daran, welcher der drei Päpste an diesem Tag der Glaubensgemeinschaft vorstand. Papst Johannes war sowieso der einzige in Konstanz anwesende Papst.

      Im Augenblick weihte er die Kerzen mit Weihwasser. Der Papst beendete seine Zeremonie und reichte dem Erzbischof von Dänemark das Weihwasser. Am Altar des Leutpriesters stand ein Thron, ähnlich dem Thron am extra erbauten Altar neben dem Sakramentshäuschen. Der Papst saß also auf dem hohen Leutpriesterthron und jeder im Münster konnte ihn sehen. Vor dem Sankt Georgsaltar erhob sich eine Podest mit vier Sitzen für die Patriarchen und den Hochmeister von Rhodus.

      Das Kirchenschiff quoll über vor Farben. Kardinäle, die in der Kirche ohne ihre breiten roten Hüte anzutreffen waren, Erzbischöfe und Bischöfe in violetten Talaren, Gelehrte in blauen und ockerfarbenen Gewändern drängten sich neben den Hausherrn, den gelähmten Dekan Albrecht von Büttelsbach. Von goldenen Streifen durchbrochene Blautöne, grüner Samt, weiße leuchtende Tücher, roter Wams und schwarze Kleider, goldene Leuchter und silberner Stahl, jede Farbe war würdig genug, um in der Kirche vertreten zu sein.

      Auf der weltlichen Seite verfolgten Graf Rudolf von Montfort, Graf Berthold von Orsini, Markgrafen aus Deutschland, Herzöge aus Frankreich, der Bürgermeister Heinrich Ehinger und viele Magister, wie der Papst es sich nicht nehmen ließ, den Kardinälen zur Hand zu gehen. Demütig verteilten sie1500 unterarmlange Kerzen an die Gläubigen und sammelten sich zur Prozession.

      Mit imponierendem Getöse verbreitete sich der Klang der Glocken weit über den Münsterplatz hinaus. Jede einzelne Glocke zeugte davon, wie wichtig die Zeremonie und wie einzigartig und tatsächlich in dieser Konstellation unwiederholbar war, von der sich Papst Johann eine positive Signalwirkung erhofft hatte.

      Die drängenden Menschen draußen würden also bald den Papst und die hohen Würdenträger zu Gesicht bekommen. Das Geläut verstärkte aber nur die Unruhe, jeder wollte nahe am abgesperrten Weg stehen, einen Hauch vom Weihrauch spüren, den Blick eines Fürsten erhaschen. Kein Bürger dachte daran, wie sehr Konstanz in diesen Tagen im Blickpunkt der christlichen Welt stand. Wichtig war der Blick eines jeden Einzelnen.

      Der Streit dreier Päpste um die Vormachtstellung mit allen dazu gehörigen Versammlungen und Diskussionen um die gerechte, weil christliche Sache schwemmte viele Wichtige und noch mehr Neugierige in die Stadt. Zeitweise schwoll sie zu einer Größe von vielleicht 70.000 Menschen an. Weit über die Stadtmauern hinaus, in den umliegenden Stadtteilen vom Paradies im Nordosten bis weit westlich vom Emmishofer Tor campierten die Reisenden sehr armselig unter Planen oder fürstlich in eigens mitgeführten pompös ausgestatteten Zelten.

      Vor dem Münster wurde das Gedränge gefährlicher, die Bürger drängten aneinander und verklebten zu einem taumelnden Mob. Im Kirchenschiff dagegen fügte sich der prächtige Kirchenstaat unter Verbreitung einer gehörigen Menge Weihrauch zu einer geordneten Prozession. Die Obertöne des Geläuts schoben die Geistlichkeit in geordnete Bahnen, zumindest nach außen wollten die nach wie vor uneinigen weltlichen und kirchlichen Fürsten ihr Gesicht und vor allem ihre eigene Würde wahren.

      Wie es sich für einen Kirchenumzug gehörte, ging der Machthaber hinter den zwei Patriarchen, die mit dem Monstranzenträger unter einem goldenen Baldachin schritten und das Volk segneten. Den König, der unter seiner goldenen Krone eine schlichte Chorkappe trug, geleiteten zwei Kardinäle.

      „Wer ist der mit dem Schwert?“, fragte ein zugereister Handwerker eine neben ihn gedrängte Frau, deren braunes, unter der Brust mit einer langen hellen Schürze gebundenes Kleid noch eine Spur schlichter war, als all das stumpfe Braun und fade Grün um sie herum. „Herzog Ludwig von Brieg. Und der mit dem Zepter ist der Bayernherzog Heinrich. Und die Lilie trägt der Kürfürst von Brandenburg.“ Während die Frau erklärte, winkte sie ihnen weiter zu, den in farbenprächtige Gewänder gekleideten Kardinälen, Erzbischöfen, Bischöfen und Äbten.“

      Fred schmunzelte.

       Ganz schön clever, dieser Beißwanger. Füttert seinen Artikel mit direkten Reden, damit sich der Leser mittendrin fühlt.

      Wie zum Beweis las er weiter:

      „Ehrwürdig schritten sie am Volk vorbei, Herzöge, Grafen, Herren, Ritter, Gelehrte. Der Strom aus prächtigen Kleidern wollte nicht enden und demonstrierte eine Farbenpracht, die das schillernde Leben des flanierenden Zuges von dem der Winkenden unmissverständlich trennte.

      Viele der Herrschaften hatten ihre Kerzen den neben oder hinter ihnen gehenden Dienern übergeben. Es war nötig, sich dem Volk zu zeigen, im besten Staat dem König, den Kardinälen in der Fronleichnamsprozession zu folgen. Die schwere Kerze deswegen ständig selbst zu tragen, war nicht angemessen.

      Am Unteren Münsterhof ging der Zug vorbei mit Blick zu Sankt Johann. Es waren sicher mehrere Hundert Edle vorbeigezogen, als eine große Gruppe der Bettelorden folgte, denen wiederum unzählige Bürger anhingen.

      Die Gassen wurden enger, der Zug kam zum Stillstand. Der König, die Regenten und Kardinäle wandelten nah wie selten mitten durch ihr Volk. Und das Volk tat wie von ihm erwartet: es jubelte den Würdenträgern zu und hoffte ungeduldig auf die Entscheidung, welchem einzigen Papst in absehbarer Zeit gehuldigt werden sollte. Doch das Volk sollte noch lange warten.

      Auch der Stephansplatz war ein weiter Kirchhof. Mit der großzügigen Umbauung des Platzes durch die Franziskaner, die ihre Unterkünfte wie ein schützendes ‚U’ um Sankt Stephan bauten und links zur Brudergasse ihre Kirche platzierten. Die schönen Fassaden der Patrizierhäuser, oft drei bis vier Stockwerke hoch, bildeten einen ansprechenden Rahmen für das großartige Schauspiel. Auf stabilem Steinfundament gebaut fanden sich unten Werkstätten oder Geschäfte, während in den oberen Etagen, als Fachwerke ausgebaut, die Kammern der Wohnungen mit einer beheizbaren Stube lagen.

      An diesem großzügigen Ort hatten sich Krämer, Kleinwarenhändler und Schreiber dem Schutz der Kirchen anempfohlen. Aber hier wurde auch gebacken. Die Franziskaner besaßen zwei große Backhäuser, die sie den zugereisten Bäckern zur Verfügung stellten. Außerdem wuchs Monat für Monat an der Begrenzung zum Bündrichhof, rechts vom Kirchplatz, Backhaus um Backhaus. Tagelöhner von weit her mauerten bauchige Höhlen, damit die täglich wachsende Einwohnerzahl mit frischem Brot versorgt werden konnte.

      Trotzdem war es nötig, mit Karren, Wagen, sogar mit Schiffen Brot herbeizubringen, damit es den Bürgern nicht mangelte und die Preise nicht zu sehr stiegen. Die Bäcker vom Oberen Markt unterhielten hier im Schutz der Mönche ihre Backhäuser...“

      Die Zeitung sank auf den Steg. Fred fühlte sich mitgenommen.

      „Gut gemacht, Herr Historiker“, sagte er vor sich hin, „aber trotzdem, ein grässliches Leben dieses Mittelalter. Nix für mich.“

      Für Fred war das alles zu eingeengt, zu ärmlich, zu sehr von Kirche und Fürsten dominiert. Er war gerne sein eigener Fürst – und dominierte gerne andere Menschen. Mit einem letzten, die damaligen Bürger bemitleidenden Lächeln schloss er das Kapitel Konstanzer Konzil für sich ab.

      Daß Fred hier irrte, konnte er nicht ahnen. Daß es mit dem Mittelalter zu tun hatte, lag tatsächlich nicht auf der Hand. Daß im Haus etwas nicht mit rechten Dingen zuging, hätte er allerdings merken können.

      Der Puls pochte im Finger. Fred schreckte auf. Hatte er geschlafen? Wie lange? Am Stuhlbein flatterte die Zeitung. Alles noch so wie vorher. Die Wunde tat verdammt weh. Bewegungslos saß Fred, einem Sommerfrischler gleich, auf seinem schäbigen Stuhl und lauschte diesem Gefühl.

      Um