Die Gabe des Erben der Zeit. Georg Steinweh

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Название Die Gabe des Erben der Zeit
Автор произведения Georg Steinweh
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847693000



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Sekretärin Fräulein Serlbacher, die gute Seele der Kanzlei. Zu jeder Zeit zur Stelle, wann immer es dem Notar danach verlangte. Wann immer und womit immer. Ein feiner Herr, würde man sagen. Sein akkurat schmal gehaltener Schnauzer war ebenso schwarz und drohte stets, von der Oberlippe zu rollen, so filigran schmiegte er sich darüber.

      In seiner Eigenschaft als Notar trug er stets dunkle Anzüge, die auch einfarbig rötlich oder violett sein durften, aber dunkel. Krawatte war selbstverständlich. Sein Benehmen wurde nur von seiner Ausdrucksweise übertroffen, „gewählt“ wäre ein fader Begriff. Falkensteins lebendige blaue Augen halfen ihm, jünger zu wirken, als er war. Sie halfen ihm auch, ergänzt von seiner unglaublichen Menschenkenntnis und seinem ausgeprägten Geschäftssinn, Situationen schnell einzuschätzen - was ihm stets einen Handlungsvorsprung verschaffte.

      Erstaunlich spät bemerkte Falkenstein, daß Fred nicht mehr folgen konnte.

      „Herr Keller, ich bitte Sie, Herr Keller. Ist Ihnen nicht wohl?“ Schnell griff Falkenstein nach seiner Glocke, nach zwei Klöppelschlägen beugte sich Fräulein Serlbacher in die so schnell wie leise geöffnete Tür. „Einen Cognac! Den Besten!“ Geräuschlos im Auftritt, schattenlos im Abgang: Fräulein Serlbacher, die gute Seele des Notariats.

      Der protzig bauchige Schwenker war gebührend seriös gefüllt. Fred kehrte langsam zum Notar zurück. Es tat ihm gut, die hinunter gleitende Wärme zu spüren. Und auch wieder seinen Verstand. Schon öfters hatte er den Eindruck, Alkohol könne ab einer bestimmten Qualität und bis zu einer gewissen Quantität sein Gehirn zu Höchstleistungen anregen.

       Habe ich meinen Vater einfach nur verkannt? Habe ich ihn überhaupt gekannt?

      Eine unpassende Situation, in der sich Fred diese Fragen in den Weg stellten. Beantworten würde er sie nicht. Nicht hier jedenfalls.

       Vater soll sich bloß nicht einbilden, im Nachhinein höhere Trümpfe als ich aus dem Ärmel ziehen zu können. Die Karten waren von jeher klar verteilt, es gibt kein neues Spiel, nicht mit mir, nicht in dieser Ecke des Landes.

      

      

      Zornig schlurfte er zu einem Fenster, starrte auf das Glas, als versuchte er, mit seiner Wut den klebrigen Belag aus Rauch und Geschichten wegzuätzen.

      Wo ist der Sinn? Verdammt noch mal, was soll dieser Zirkus? Ich bin nicht 36 Jahre alt geworden, um mir von einem Toten Vorschriften machen zu lassen. Ich werde dem Spuk ein Ende bereiten und so schnell es geht alles verkaufen.

      Es war leider doch ein verkaterter Morgen.

       In dieser verdammten Kneipe kann ich nicht mal klar sehen, geschweige denn, klar denken.

      Am großen Spülbecken wollte Fred die Reste der vergangenen Nacht endlich aus dem Gesicht waschen. Ein Schwall Wasser schoss aus dem Bügelhahn, ohne zu zögern hielt er seinen Kopf darunter. Es war ihm ein Rätsel, wie und warum er sich letzte Nacht auf diese ungemütliche Bank legen musste, geschweige denn, wie er überhaupt mit dem Boot ans Ufer zurück fand. Blackout! Wo war die Zeit? War er dermaßen betrunken gewesen?

      Mit seinen Händen fing er das Wasser, um sich den letzten Schlaf aus den Augen zu reiben. Hellrot verfärbte sich das Wasser, rann zügig in den Abguss.

      Unbeteiligt, quasi von außen, schaute Fred einen Moment zu. Erschrak dann doch, fasste sich an den Kopf. War er verletzt? Spürte er wegen des Restalkohols keinen Schmerz? Ein dünner Rinnsal schlängelte sich am Handgelenk entlang, suchte seinen Weg zum Unterarm, Fred zuckte zusammen. Den Kopf hatte er untersucht, verletzt war aber die rechte Hand. Befreiend, endlich den stechenden Schmerz zu spüren. Eine tiefe Fleischwunde zeichnete in den Mittelfinger ein scheinbar viertes Gelenk. Das vordere Glied des Fingers war nahezu halbiert, am benachbarten Zeige- und Ringfinger waren nur kleinere Hautrisse.

      Reflexartig schoss die Hand unter den Wasserstrahl. Das Edelstahlbecken überzog sich mit einem hässlichen Schleier. Chrom und Blut, das passte nun überhaupt nicht zusammen. Bräunlich schlierte die Flüssigkeit in den Abfluss, fast so, als berührte sie nicht einmal die polierte Oberfläche.

      Fred bewegte äußerst vorsichtig das Stück Fleisch, Schmerzen zuckten durch die Hand, er sog spitz die Luft zwischen seinen Zähnen ein. Die Kuppe war noch dran.

       Tut es so weh, weil ich es jetzt sehe?

      Es tat höllisch weh. Er fragte sich nicht einmal, bei welcher Gelegenheit sich die Fingerspitze von ihm trennen wollte. Schnell wickelte er ein frisches Geschirrtuch um die Wunde und suchte ein Pflaster. Im Bad war nichts zu finden. Bevor er weitersuchte, wickelte er sein getränktes Tuch auf und ließ aus Brusthöhe Blutstropfen für Blutstropfen vom Waschbecken auffangen. Fächer, rote Pusteblumen gestalteten die weiße Oberfläche.

       Na also, sieht doch gleich viel besser aus.

      Erst in der unbenutzten Erste-Hilfe-Box seines Saabs wurde er fündig. Fred war Linkshänder, es war also nicht allzu schwierig, aus den plastikverschweißten Paketen ein langes Stück Mullbinde herauszuschneiden. Zusätzlich rollte er noch zwei Lagen Leukoplast um die verbundene Wunde.

       Sicher ist sicher.

      Er wollte den Brief noch einmal lesen, nein, er sollte lieber entspannen und nachdenken, wann und wo er sich in den Finger geschnitten hatte. Oder doch lesen? Auf dem Dielenboden der Stube lagen die Seiten, die der Notar Fred ausgehändigt hatte. Er schüttelte sie, als wollte er die Buchstaben in einen ihn verständlicheren Zusammenhang bringen. Wollige Staubflusen lösten sich vom Papier, das Konrad Keller am 21. Januar 2011 - lange vor seinem Tod - beschrieben hatte. Die Luftwirbel scheuchten winzige Staubpartikel auf, die im fahlen Tageslicht chaotisch tänzelten. Durcheinander fühlte sich auch Fred und beobachtete die Flusen. Den Boden schrubben, dazu konnte er sich nun wirklich nicht durchringen. Er würde sich doch nach einer tüchtigen Putzfrau umschauen. Raus hier!

      Der Frühlingstag erschien umso freundlicher, je mehr das Erdgeschoß nervte. Er war matt und leer, und obwohl er ein rationaler Mensch war, blockierte tief drinnen irgendetwas jeden vernünftigen Gedanken. Wie umschmeichelte ihn dagegen das fast kniehohe Gras, das erklärte, wie jeder Schritt ein kleiner Fortschritt, eine Erkundung fremden Terrains sei. Das Schilf rechts vom morschen Steg wog sich mal nach links, mal nach rechts, als wäre es nicht sicher, ob es Fred die eine oder die andere Richtung einschlagen lassen sollte.

      Unter dem Vordach des Schuppens lehnten drei rostige Klappstühle. Fred ertappte sich dabei, etwas zu lange im Schuppen nach der Zündapp geschaut zu haben. Natürlich war sie nicht mehr da. Er ärgerte sich maßlos. Nicht über die Zündapp, über sich. Wie konnte er nur so einfältig sein? Was glaubte, hoffte er zu finden? Achtzehn Jahre zu spät.

      Er schnappte sich einen Klappstuhl, dessen ehemals farbenfrohe Stoffbespannung so gar nicht zu seinem Vater passen wollte und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

       So morsch ist der Steg gar nicht, wie er aussieht. Ein paar Bretter austauschen, eine Handvoll Pfennigsnägel, ein Wetterschutzanstrich. Müsste reichen.

      An der Spitze des Stegs klappte der Stuhl mit einem quietschenden Schwung auf, Fred ließ sich vorsichtig, sehr vorsichtig nieder, auch hier vertraute er den Hinterlassenschaften seines Vaters nicht. Und das Schilf bemühte sich weiter, keine eindeutige Richtung anzugeben.

      Der Brief? Steckte zusammengefaltet in seiner Hemdtasche.

      Da sollte er erst mal bleiben. Fred wollte sich wenigstens gelegentlich darüber informieren, was die eingesessenen Bürger am Untersee umtrieb, was sonst in der Gegend los war.

      Wie er so auf dem Stuhl saß, den „Konstanzer Boten“ durchblätterte, machte er auf den See, die Möwen, die Schwäne einen völlig entspannten Eindruck. Urlaubsstimmung in Fred? Weit gefehlt. Flüchtig überflog er die Regionalpolitik, ignorierte verächtlich goldene Jubiläen und Ehrenmitgliedschaften in diversen Vereinsmitteilungen.

      „Anmerkungen zum Konzilsjubiläum