Die Gabe des Erben der Zeit. Georg Steinweh

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Название Die Gabe des Erben der Zeit
Автор произведения Georg Steinweh
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847693000



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Ligusterhecken ordentliche Wohnhäuser duckten. Fred duckte sich nicht mehr. Nie mehr wollte er Rücksicht nehmen – das wurde sein Motto. Im gleichen Maß wie sich der Vater, vergrämt durch den Verlust seiner Frau, immer mehr aus dem in so einer kleinen Gemeinde lebenswichtigen Dorfgeschehen zurückzog, wandte sich der Sohn den Dorfbewohnern zu, allerdings nur den weiblichen.

      Raste mit seiner Zündapp über die Felder, düngte die Dorfstraßen mit dem Gestank des Zweitakters und dem Lärm der getunten Auspuffanlage. Es fiel ihm leicht, jungen Mädchen nicht nur das Herz zu brechen, sondern sie auch noch mit allem Charme, den man ihm nicht absprechen konnte, von ihren Freunden loszureißen. Zumindest für kurze Zeit. Er war oberflächlich, gedankenlos, rücksichtslos. Er kümmerte sich nicht um die Konflikte, in die er die Mädchen stürzte, wenn sie ihre Freunde betrogen. Er war der Überzeugung, sie wollten es, sie wollten ihn.

      Dunkel gelockt und grünäugig wie er war, zerstörte er rücksichtslos einige frische Beziehungen. Nur die Mädchen, die überhaupt nicht seinem Schönheitsideal entsprachen, hatten Glück – und blieben verschont.

      Es schien, als hörte man weithin erlöstes Aufatmen, das wellenförmig durch Hemmingen schob: „Fred verschwindet!“ „Fred zieht weg.“ „Zum Bund!“

      Die Welle hatte eine selbstreinigende Wirkung. Im Dorf kehrte Ruhe ein, zu lange hatte sich der flotte Fred auf einem Trampelpfad bewegt und Wut und Tränen rechts und links seines Weges hinterlassen.

      Fred war weg. Es wurde aber auch Zeit.

      Gut möglich, daß ihm die eine oder andere weibliche Person mehr als eine versteckte Träne nachweinte.

      Fred weinte nicht, genauso wenig wie sein Vater. Die Wehrdienstzeit in Grafenwöhr hatte sich längst angekündigt. Bis zu diesem Tag waren sie sich nicht gerade aus dem Weg gegangen – sie gingen einfach weiterhin ihre eigenen. Hin und wieder half Fred seinem Vater, hängte die Netze zum Trocknen auf, wusch die Fischkästen, tankte das Boot. Die eigentliche Arbeit, morgens um vier auf dem See Netze einholen, Fische ausnehmen und gleich verkaufen, überließ er ihm. Damit wollte er nichts zu tun haben. Am Wochenende schlief er bis mittags, schraubte an seinem alten Moped rum, fuhr durch die Gegend oder machte sich an ein Mädchen aus dem städtischen Gymnasium ran. Samstags arbeitete er für sechs, sieben Stunden bei einer Abschleppwerkstatt, verdiente sich einen Fünfziger für sein Moped.

      Konrad Keller schien jeden Tag beweisen zu wollen, daß er ohne seinen Sohn zurecht kam. Fred Keller ließ jeden Tag spüren, daß ihn nicht einmal das interessierte. Er bahnte sich also an, der kurze und schmerzlose Abschied. Ganze drei Koffer mit Kleidung und einen Sack voller Erinnerungen stopfte er in den Kofferraum. Immerhin fuhr ihn sein Vater zum Bahnhof. Der alte RO 80 war das einzige, worauf Konrad Keller stolz war. Allerdings hätte Fred wegen dieses Stolzes fast den Zug verpasst. Der verdammte Kofferraumdeckel klemmte mal wieder. Es war eine Flucht mit Hindernissen. Der Beginn einer Reise, einer Suche, die Fred nach der Bundeswehrzeit zur Kochlehre in ein elsässisches Lokal trieb, bis er nach mehreren Stationen in Bacharach endlich ein eigenes Restaurant übernahm, um es exakt seinen Vorstellungen anzupassen.

      Fred arbeitete viel und „zielführend“, wie er gerne sagte. Nie bestand die Gefahr, zuviel Gefühl könnte seine Entscheidungen beeinflussen. Die traf er rational und stets auf seinen Vorteil bedacht. Im geschäftlichen Leben sorgte diese Haltung für stabile Verhältnisse, sein Lokal blieb ihm treu. Im privaten Leben gab es aus genau den gleichen Gründen kein stabiles Verhältnis, er war den Frauen nicht treu. Oder sie wollten zuviel Gefühl.

      Und hier, zurückgekehrt an den Platz seiner Jugend, dachte er immer noch so. Dabei war er beileibe nicht gefühllos, gerade hier dominierten ihn verbitterte Erinnerungen und zynische Attacken. Die Zimmer, die Möbel hatten keine Chance, ihn zu besänftigen. Er war stur. Und das von seinem Vater geerbt zu haben, hätte er sicher abgestritten.

      Es erwartete ihn, dem Alleinerben, einiges. Das große Haus, das er seit Tagen mühsam vom größten Dreck in den Ecken, von den klebrigsten Bier- und Weinresten auf Tischen und Bänken befreit hatte. Er arbeitete sich unfreiwillig durch die Zeitschichten eines Hauses, von dem er nicht einmal ahnen konnte, wie es mit seinem Vater umgegangen war und umgekehrt. Denn das Haus lebte. Das wiederum spürte er deutlich. Es gab Momente, da fühlte er Ecken auf sich zudrängen, glaubte hinter seinem Rücken stechende Blicke, als ob ihn die Wände beobachten würden. Erstaunlicherweise verhielt sich das riesige Seegrundstück scheinbar neutral. So neutral, es verbarg aufgrund des verwilderten Zustandes sogar den Wert, den es nach der gewinnverheißenden Stimme Falkensteins offensichtlich hatte. Ein Bootshaus, eine große Wiese, ein Stück See.

      Nun erst recht. Er würde mit hartem Besen den alten, verlotterten Familiengeist wegfegen.

      Fred hatte es geschafft, sich aufzusetzen, schaute aber noch sehr langsam vor sich hin.

       Ein Kater fühlt sich anders an... aber irgendwas war mit Schnaps...

      Wie spät war es, warum lag er die Nacht auf der Bank? Warum erinnerte er sich an vieles, an anderes aber nicht?

      Er befahl seinen Beinen, Bodenkontakt aufzunehmen. Machte kleine Schritte, streckte seine müden Knochen dem Raum entgegen.

       Die Fenster müssten geputzt werden. Wäre wichtiger gewesen als die alten Tische.

      Schmierige, rauchverklebte Scheiben verwehrten jedem einzelnen Sonnenstrahl den Eintritt, ebenso konnte kein noch so angestrengter Blick nach draußen dringen. Nur langsam kehrte der gestrige Nachmittag, Falkensteins Worte in sein Bewusstsein zurück:

      „Als Kronjuwel für dieses außergewöhnliche, anmutige Königreich erlauben Sie mir, Ihnen die abschließende Offenbarung unterbreiten zu dürfen.“

      Fred erlaubte es dem Notar, konnte sich aber nicht vorstellen, was sein Vater dem geflohenen Sohn plötzlich hinterherwerfen wollte.

      „Ihre tragisch früh verstorbene Mutter hinterließ eine Lebensversicherung, die Ihr unglücklicher Herr Vater Zeit seines arbeitsamen Lebens niemals anrührte, obwohl meiner geringen Kenntnis nach in einigen prekären Situationen der Bedarf bestand, flüssige Finanzmittel, wie man in der Immobilienbranche so gern sagt, zur Verfügung zu haben.“

      Fred wagte nicht, jetzt in diesen hoffentlich letzten Minuten den Notar pietätlos zur Eile anzutreiben. Er bot seinem Gegenüber einen ebenso mitfühlenden wie wissenden Gesichtsausdruck.

      „Aufaddiert ergibt sich aus der Bilanzierung der Konten folgendes Bild: Die Umrechnung der Summe aufgrund der Währungsumstellung zum 1. Januar 2002 auf vier Stellen hinter dem Komma genau, die kluge und von erstaunlichem Weitblick zeugende Anlage der Gelder ergibt mit Zins und Zinseszins nach siebenundzwanzig Jahren und fünf Monaten bis zum Ultimo diesen Monats einen Gesamterlös von 257 Tausend 468 Euro und 13 Eurocent. Es ist mir mehr als ein Bedürfnis lieber Herr Keller, Ihnen persönlich in dieser schweren Stunde eine doch so angenehme Mitteilung unterbreiten zu dürfen.“

      Falkensteins Kamm schwoll zur Brunftreife, seine schmalen Finger zitterten aufgeregt, die Röte des Raumes war mit einem Mal bedeutungsschwanger. Fred war nicht mehr da. Kurz vorher war er geistig ausgestiegen, unfähig, diesen Ausführungen weiterhin folgen zu wollen. Kein klarer Blick war Doktor Falkenstein vergönnt, kein gewinnorientiertes Lächeln, kein entspanntes Zurücklehnen in den schützenden Sessel.

      Falkenstein gehörte zu der Sorte Mensch, die gerne eine Laudatio über sich hören. Die ehrenden Worte, die er - in aller Bescheidenheit natürlich - geduldig, aber sehr aufmerksam in sich aufsaugen würde, hätten darüber zu berichten, wie absolut er sich in die Dienste seiner Klienten begäbe, wie nahezu selbstlos er als Honorarkonsul die Interessen der capverdischen Inseln repräsentiere, wie sensibel er seit Jahrzehnten die Bedürfnisse der umliegenden Gemeindeverwaltungen und ebenso jedes einzelnen Bürgers vertrete. Ein wahrer Kümmerer, natürlich. All das, obwohl – und das sähe man dem ehrenwerten Doktor Gunnar von Falkenstein nun wirklich nicht an – sein Alter längst jenseits der offiziellen Rentengrenze liege, wenn es erlaubt sei, dies so salopp anzumerken.

      Ja, Falkenstein tat wirklich alles. Vor allem für sich. Seine